Einleitung

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm Deutschland eine besondere Stellung an der Frontlinie zwischen zwei konkurrierenden ideologischen Systemen ein. Seine Teilung in zwei getrennte Staaten war symbolisch für diese Kluft. Es war der Ort, an dem der Kalte Krieg begann und endete. Die Wendejahre von 1989 bis 1991 brachten den Untergang des Kommunismus und das Ende des Kalten Krieges, der Deutschland, Europa, ja den größten Teil der Welt in zwei getrennte feindliche Lager gespalten hatte. Beide Entwicklungen ermöglichten es Deutschland, sich als ein einziger Nationalstaat innerhalb allgemein akzeptierter Nachkriegsgrenzen neu zu konstituieren.

Ein neues Deutschland, 1990–2023[1]

Dieser abschließende Band der Quellensammlung German History in Documents and Images befasst sich mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen seit 1990, als abermals ein „neues“ Deutschland entstand. Brüche im politischen und wirtschaftlichen System Deutschlands stellen ein wiederkehrendes Thema im 20. Jahrhundert dar: 1918 war es die Abschaffung der Monarchie, 1933 die Machtübernahme durch Hitlers mörderisches Regime, die Jahre nach 1945 die Teilung in zwei Länder mit diametral entgegengesetzten politischen Ideologien. 1990, das Jahr der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland, ist das bisher letzte dieser prägenden Ereignisse. Dennoch ist das Adjektiv „neu“ immer nur vorübergehend und mehrdeutig, da selbst Bruchstellen in der Geschichte schnell einer Normalisierung weichen und der Wandel immer mit der Kontinuität von Werten, Institutionen und Politiken einhergeht.

Die meisten Themen, die in dieser Übersicht vorgestellt werden, sind nicht nur in Deutschland zu finden. Auch andere europäische Demokratien mussten sich in den letzten Jahrzehnten mit tiefgreifenden Veränderungen auseinandersetzen, darunter die Folgen der Globalisierung, die Vertiefung der europäischen Integration und die Diversifizierung der politischen Landschaft. Grenzüberschreitende Vergleiche sind an der Tagesordnung, und innenpolitische Antworten werden zunehmend mit europäischen und sogar internationalen Trends verknüpft. Globalisierung und Europäisierung haben das Regieren erschwert und erfordern zuweilen schwierige wirtschaftliche Anpassungen, bieten aber auch Chancen für Modernisierung und länderübergreifende Verbindungen.

Die anfängliche Euphorie über das Ende der Feindseligkeiten des Kalten Krieges war nur von kurzer Dauer. Ohne die ausgleichende Kraft des Kalten Krieges geriet das internationale System ins Wanken, und zu den verbleibenden Feindseligkeiten gesellten sich bald neue bewaffnete Konflikte von Jugoslawien bis Afghanistan. Der internationale Terrorismus nahm neue und häufigere tödliche Formen an, die sich auf ganz Europa auswirkten. In den neuen und etablierten europäischen Demokratien stellen populistische Politiker und Parteien der politischen Linken und (meist) der Rechten die etablierten politischen Parteien und die Grundlagen der europäischen Integration in Frage. Trotz aller Ähnlichkeiten sind die Reaktionen auf diese Herausforderungen und ihre Folgen immer noch stark von den nationalen Gegebenheiten geprägt. In Deutschland waren sie aufgrund seines Status als neu geeintes Land, seiner strategisch wichtigen Lage in der Mitte Europas und der fortbestehenden Hinterlassenschaften der Geschichte komplizierter als anderswo. Dieser Status brachte sowohl Unsicherheit als auch Versprechen mit sich.

In dieser Einführung werden einige der wichtigsten Diskussionsthemen der letzten Jahrzehnte vorgestellt, die thematisch geordnet sind; die bibliografischen Hinweise sind illustrativ und nicht erschöpfend und bevorzugen neuere Veröffentlichungen und Monografien. Die Hauptthemen werden durch unsere aktualisierte Auswahl an Dokumenten, Bildern, Karten und Videos weiter vertieft. Die Ereignisse, die zur Wiedervereinigung führten, und die darauffolgende Politik stehen im Mittelpunkt der Kapitel 1, 2 und 3. Die Kapitel 4, 5 und 6 befassen sich mit Diskursen über die deutsche Identität, mit Ansätzen und Maßnahmen zur Vergangenheitsbewältigung sowie mit Kontroversen im Zusammenhang mit kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt. Der Fokus auf die Innenpolitik wird fortgesetzt mit Dokumenten zu Geschlecht, Familie und Demographie (Kapitel 7), wirtschaftlichen Herausforderungen und Aufschwung (Kapitel 8) sowie Reformen des Bildungssystems (Kapitel 8). Die Bundeskanzlerschaften von Helmut Kohl (1982-1998), Gerhard Schröder (1998-2005) und Angela Merkel (2005-2021) bilden den Rahmen der Kapitel 10, 11 und 12. Deutschlands neue und sich verändernde Rolle in den internationalen Beziehungen steht im Mittelpunkt der Kapitel 13 (Deutschland als Mittelmacht), 14 (Europäische Integration) und 15 (Globales Engagement). Die in diesen Kapiteln erörterten internationalen Entwicklungen und Auswirkungen überschneiden sich, da die Rolle Deutschlands in Europa zu seinem internationalen Ansehen beiträgt und sich der Status als Mittelmacht in seinem europäischen und globalen Engagement widerspiegelt. Kapitel 16 porträtiert die Berliner Republik aus zwei Perspektiven. Die ersten acht Dokumente bieten ein Kaleidoskop an Eindrücken von Berlin als neuer deutscher Hauptstadt, während die übrigen Dokumente politische Themen reflektieren, die Kernmerkmale der Berliner Republik darstellen.

1. Deutsche Einheit

Ausgelöst durch die politische und wirtschaftliche Stagnation und ermutigt durch liberale Reformen, welche die kommunistischen Führungen der Sowjetunion, Polens und Ungarns in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einleiteten, erhofften sich die DDR-Bürger*innen politische Zugeständnisse von ihrer eigenen Regierung. Als diese ausblieben – und die DDR-Regierung stattdessen stur auf der Richtigkeit ihres Weges beharrte – wurden die Bürger*innen aktiv. Im Sommer und Herbst 1989 verließen sie in Scharen ihre Häuser und flüchteten über die kommunistischen Nachbarländer in Richtung Westen. Begleitet wurde dieser Massenexodus bald von Demonstrationen in ostdeutschen Städten, bei denen die Bürger*innen lang erhoffte politische Zugeständnisse forderten, darunter die Auflösung der langjährigen kommunistischen Führung um Erich Honecker. In rascher Folge erzwangen die Proteste den Rücktritt der meisten Hardliner der alten Garde, die Öffnung der Berliner Mauer, Verhandlungen mit oppositionellen Kräften am so genannten Runden Tisch und die Gründung neuer Parteien.[2]

Aus der Forderung nach politischer Teilhabe unter der Losung „Wir sind das Volk“ wurde schnell die Forderung nach der deutschen Einheit unter dem neuen Motto „Wir sind ein Volk“. Der Beitritt zur erfolgreichen Bundesrepublik schien für die ostdeutschen Bürger der schnellste Weg zu Wohlstand und Freiheit zu sein. Der Erfolg der „Allianz für Deutschland“ bei den ersten demokratischen Wahlen im März 1990 und die anhaltende Zuwanderung von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik stärkten die Unterstützung für einen raschen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten. Ein „dritter Weg“, d.h. eine Reform der DDR, wurde entschieden abgelehnt. Die deutsche Einheit war praktisch über Nacht in den Bereich des Greifbaren gerückt.

Die Ereignisse überstürzten sich, und das Gefühl der Dringlichkeit trieb sowohl die deutsch-deutschen als auch die internationalen Verhandlungen voran.[3] Am 1. Juli 1990 wurde die soziale und wirtschaftliche Vereinigung von Ost- und Westdeutschland vollzogen. Die politische Vereinigung bedurfte der Zustimmung der alliierten Mächte, wobei internationale Vorbehalte gegen die deutsche Vereinigung nicht nur von der Sowjetunion kamen, sondern auch von den westlichen Alliierten, die ihre Bedenken mit unterschiedlichem Nachdruck zum Ausdruck brachten. In den „Zwei-plus-Vier“-Gesprächen zwischen Vertretern der beiden deutschen Staaten und der USA, Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion spielte die US-Regierung eine entscheidende Rolle.[4] Die Sowjetunion unter Führung von Michail Gorbatschow äußerte zunächst Vorbehalte gegen die Wiedervereinigung an sich, dann gegen den Beitritt des vereinigten Deutschlands zur NATO und schließlich gegen den Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der DDR. Nach anfänglichem Zögern zerstreute Bundeskanzler Helmut Kohl die polnischen Befürchtungen hinsichtlich einer Revision der deutschen Nachkriegsgrenzen, indem er die Oder-Neiße-Linie offiziell als Grenze zwischen den beiden Ländern anerkannte. Abweichend von ihren üblichen Aufnahmeverfahren stimmte die Europäische Gemeinschaft rasch zu, dass die Bundesrepublik Deutschland, einer ihrer Gründungsstaaten, ihr Territorium um die ehemalige DDR erweitern durfte.

Nach Abschluss der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen im September 1990 stimmte das ostdeutsche Parlament der politischen Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu, die am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde. Im Einigungsvertrag beschlossen die Vertreter beider deutscher Regierungen, den Zusammenschluss gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes zu vollziehen. Während Artikel 146 die Möglichkeit geboten hätte, eine Republik auf der Grundlage einer neuen Verfassung zu errichten, ermöglichte der gewählte Weg die Eingliederung der ehemaligen DDR in die bestehende Bundesrepublik. Das bedeutete, dass westdeutsche Institutionen, Symbole und Gesetze auf die ehemalige DDR übertragen wurden.[5] Im Zuge der administrativen Umstrukturierung wurden die fünf 1952 aufgelösten ostdeutschen Bundesländer wiederhergestellt (Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen). Realer und vermeintlicher Zeitdruck, unzureichende Planungen für den Fall der Wiedervereinigung, aber auch die Überzeugung, dass sich das westdeutsche politische und wirtschaftliche System bewährt hatte, trugen dazu bei, dass Ostdeutschland nach westdeutschem Vorbild umgestaltet wurde.[6]

Die Integration von Ost- und Westdeutschland stieß auf politische und wirtschaftliche Hindernisse, legte mentale und kulturelle Reibungen offen und machte einen längst überfälligen Reformdruck deutlich, der erst nach einiger Zeit gelöst werden konnte.[7] Die Euphorie schlug schnell in Ernüchterung um, von einer Vereinigungskrise war die Rede.[8] Im Mittelpunkt standen zunächst Fragen des Umgangs mit den Opfern und Funktionären des alten Regimes, die Umwandlung der bankrotten Kommandowirtschaft in eine rentable Marktwirtschaft sowie der Abbau und Wiederaufbau von Institutionen nach westdeutschem Vorbild. Die Antworten auf diese Herausforderungen riefen gegensätzliche Meinungen hervor, wobei die Differenzen oft nur oberflächlich mit Ost-West-Gegensätzen verbunden waren.

Die Vereinigung Ostdeutschlands mit dem demokratisch gefestigten und wirtschaftlich überlegenen Westen sollte den ehemaligen DDR-Bürger*innen die Härten des Übergangs ersparen. Etablierte Institutionen lieferten ein Konzept, und große Transferzahlungen von West nach Ost finanzierten soziale Dienste; sie garantierten umfangreiche Infrastrukturinvestitionen und eine schnelle Modernisierung. Doch die hohen Erwartungen wurden enttäuscht. Der übermäßig günstige Wechselkurs für die Ostmark war politisch motiviert und wirtschaftlich schwer zu halten: 1:1 für Löhne und Gehälter und 1:2 für Geldvermögen. Die niedrige Produktivität von nur einem Drittel des Westniveaus, gepaart mit relativ hohen Löhnen, wettbewerbsschwachen Industrien und dem Verlust ehemaliger Exportmärkte im Osten führte zu einer schnellen und massiven Deindustrialisierung. Massenentlassungen beraubten viele Ostdeutsche eines Teils ihrer Identität. Innerhalb kurzer Zeit waren mehr als zwei Drittel der ostdeutschen Arbeitnehmer gezwungen, den Arbeitsplatz zu wechseln oder in den Vorruhestand zu gehen. Besonders hart traf es die Frauen. Helmut Kohls Versprechen von „blühenden Landschaften“, in denen eine funktionierende, wettbewerbsfähige Wirtschaft die marode Planwirtschaft der DDR ablösen sollte, brauchte Zeit, um sich zu entwickeln. Massenproteste waren nicht die einzige Folge. Vor allem junge Menschen verließen die ländlichen Gebiete Ostdeutschlands in Richtung Westen.

Der Stand der deutschen Einheit und der Transformation Ostdeutschlands wird auch nach über drei Jahrzehnten unterschiedlich bewertet, letztlich abhängig von der persönlichen Betroffenheit und dem genauen Untersuchungsgegenstand.[9] Bei der Vereinigung des Landes kamen 16 Millionen Ostdeutsche zu 63 Millionen Westdeutschen. Das Größen- und Machtgefälle zwischen Ost und West wurde durch die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung zusätzlich verschärft. Trotz der Fortschritte bei der Verringerung der Kluft bestehen weiterhin bedeutende politische und wirtschaftliche Unterschiede. Die anhaltenden Auswirkungen der früheren Ost-West-Spaltung zeigen sich in der kontinuierlichen Dominanz der westlichen Eliten in Politik und Wirtschaft. Das Wahlverhalten ist nach wie vor unterschiedlich, wobei die Ostdeutschen stärker dazu neigen, Parteien der extremen Linken und Rechten zu wählen. Auch bei Arbeitslosigkeit, Produktivität und Investitionen bleiben die wirtschaftlichen Unterschiede bestehen.

Im heutigen Deutschland besteht das Ost-West-Gefälle jedoch neben ausgeprägten Nord-Süd- und interregionalen Unterschieden. Einige Städte im Osten boomen beispielsweise, während die ländlichen Gebiete weiterhin Arbeitsplätze und Einwohner*innen verlieren. Obwohl diese Entwicklungen im Osten besonders ausgeprägt sind, lassen sich ähnliche Tendenzen auch in einigen westlichen Regionen beobachten. Die Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland ist ein verfassungsrechtlich vorgegebenes Ziel, das jedoch nicht erreicht wird.[10] Rückblickend war die Zeit nach der Vereinigung eine Zeit der Krise und der allmählichen Erneuerung. Ungeachtet der Herausforderungen ist es den Bürger*innen in Ost- und Westdeutschland gelungen, eine gemeinsame Basis zu schaffen, ohne die demokratische Grundordnung zu erschüttern. Wichtig ist, dass trotz der Mühen der letzten Jahrzehnte die Mehrheit der Deutschen regelmäßig ihre Zustimmung zur Entscheidung für die Vereinigung Deutschlands zum Ausdruck bringt.

2. Normalität und Identität

Der Zusammenschluss von Ost- und Westdeutschland im Jahr 1990 bot dem neu vereinten Land die Chance, eine „normale“ Demokratie wie seine westlichen Nachbarn zu werden.[11] Die deutsche Frage, die sich in der Vergangenheit auf den turbulenten Wechsel der politischen Systeme und die sich verschiebenden Grenzen Deutschlands im Herzen Europas konzentrierte, schien endlich geklärt. Die Beziehungen der Deutschen zu ihrem Staat und die der Welt zu den Deutschen sind weniger kompliziert geworden als früher. Dennoch sind die Sorgen im Ausland nicht verstummt und beziehen sich nun auf Deutschlands Führungsrolle in Europa und/oder seine Machtattribute, die wirtschaftliche Stärke mit militärischer Zurückhaltung verbinden.

Die Antwort auf die Frage der Normalisierung hängt jedoch vor allem vom Umgang Deutschlands mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit ab.[12] Heute zweifelt kaum noch jemand daran, dass Deutschland Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus übernommen hat, auch wenn die Anfänge zögerlich und die Fortschritte schleichend waren.[13] Es hat sich eine vielfältige Erinnerungslandschaft herausgebildet, die nur von rechtsextremen Randgruppen angefochten wird. Doch mit der Wiedervereinigung kam eine zweite Ebene der Vergangenheitsaufarbeitung hinzu: Wie soll man mit den Opfern und Tätern des kommunistischen Regimes in der ehemaligen DDR umgehen? Besonders im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung konzentrierte sich die intensive und umstrittene öffentliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit vor allem auf die Informanten der Stasi und auf den repressiven Charakter des Regimes im Allgemeinen. Mit der raschen Umsetzung von Maßnahmen zur Lustration, Rehabilitierung und Restitution wurde auf Missstände reagiert. Offener war die Debatte über eine angemessene Bildungspolitik und eine adäquate historiografische Bewertung der kommunistischen Diktatur. [14]

Entgegen mancher Befürchtung hat die kontroverse Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur der DDR den Holocaust als zentrale Säule der Erinnerungskultur keineswegs verdrängt. Nahezu alle historisch bedeutsamen und kontrovers diskutierten Themen – angefangen von der Rezeption der Wehrmachtsausstellung und Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Henker (1996) über die Walser-Bubis-Debatte, die Zwangsarbeiterentschädigung und die Opfer-Täter-Diskussion bis hin zu der Holocaust-Gedenkstätte in Berlin, dem Museum zur Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen aus Mitteleuropa und dem NS-Dokumentationszentrum in München – verdeutlichen die anhaltende Dominanz des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust in der Erinnerungskultur.

Da die nationalsozialistische Propaganda Nationalismus und Patriotismus zum Nutzen des Hitler-Regimes missbrauchte, wurde die Zurschaustellung nationaler Symbole im Nachkriegsdeutschland lange Zeit mit Argwohn betrachtet, und der Stolz auf das Vaterland war politisch kaum zu rechtfertigen.[15] Heute ist das politische System Deutschlands eine Quelle des Stolzes, ebenso wie Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft sowie bestimmte nationale Merkmale und die Sozialgesetzgebung der Regierung. Der Übergang zu einer anderen Art von Patriotismus mit neuen Inhalten und Formen wurde durch den Generationswechsel und zufällig auch durch den Erfolg der deutschen Fußballnationalmannschaft in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts begünstigt, der ihm einen Hauch von Fröhlichkeit und sogar Freude verlieh. Die Schattenseiten des Nationalismus in Form von Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und Antisemitismus, die mitunter von Gewalt begleitet werden, sind in den letzten Jahren immer deutlicher zu Tage getreten, doch werden diese Vorfälle regelmäßig durch Gegenproteste und offizielle Zurechtweisungen bekämpft.[16]

Abgesehen von den üblichen Klassen-, Geschlechts- und Religionsunterschieden gestaltet sich die kulturelle Vielfalt in Deutschland auch lokal, regional, national und international.[17] Zu den über das ganze Jahr verteilten Traditionen wie Weihnachtsmärkten, Faschingsveranstaltungen, folkloristischen Zusammenkünften oder dem Feiern religiöser Bräuche gesellt sich nun eine Vielzahl von Open-Air-Konzerten, Paraden, Straßenfesten und Bauernmärkten. Einige sind lokal ausgerichtet und stellen besondere Bräuche, Waren und/oder Kostüme vor. Andere sind ausdrücklich multikulturell und international. Während die Deutschen gerne im Ausland Urlaub machen und Musik, Kunst und Lebensmittel aus der ganzen Welt schätzen, war die Integration der wachsenden Zahl von Migrant*innen und neuen deutschen Staatsbürger*innen langwierig und umstritten. Erst seit dem Jahr 2000 hat sich der Schwerpunkt des Staatsangehörigkeitsrechtes von der ethnischen Herkunft als Voraussetzung für die deutsche Staatsbürgerschaft verlagert und durch eine Politik ersetzt, welche die Staatsbürgerschaft aufgrund von Geburt oder längerem Aufenthalt in Deutschland zulässt und in einigen Fällen die doppelte Staatsbürgerschaft gewährt.[18]

Mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung hatte im Jahr 2022 ausländische Vorfahren (im deutschen Sprachgebrauch: Migrationshintergrund), und die Ankunft von mehreren Millionen Migrant*innen seit 1990 hat die etablierten Vorstellungen darüber, wie „Deutschsein“ zu definieren wäre, in Frage gestellt.[19] Das Konzept der „Leitkultur“ und ihre Einbeziehung in die so genannten Integrationskurse ist ein heiß diskutiertes Thema. In einem ansonsten säkularen Land, in dem Bürger*innen, die keiner Religion angehören, inzwischen mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausmachen und Katholiken und Protestanten fast gleich viele Kirchenmitglieder haben, hat die Zuwanderung von Muslimen, die etwa 6-7 Prozent der Bevölkerung ausmachen, auch die Religion zu einem Thema der Diskussion und des Streits gemacht. [20]

3. Sozialer Wandel

Die ethnische und religiöse Diversifizierung der deutschen Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten deutlich vorangeschritten und hat die Politik herausgefordert, bei den einen Ängste und Befürchtungen, bei den anderen Erwartungen an ein weltoffenes und tolerantes Land geweckt. Wie in allen westlichen postindustriellen Gesellschaften bleibt die Zuwanderung umstritten.[21] Die Öffnung des Eisernen Vorhangs 1989/90 verschärfte die anhaltende Einwanderungsdebatte unmittelbar, da sie zu neuen und unerwarteten Einwanderungswellen führte. Zu den mehr als 400.000 Flüchtlingen aus den Konfliktregionen des Balkans, Afrikas und Asiens, die politisches Asyl beantragten, gesellte sich bald eine ebenso hohe Zahl von Spätaussiedler*innen aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Im Gegensatz zur ersten Gruppe erhielten die Spätaussiedler*innen sofort die deutsche Staatsbürgerschaft. Bis 2005 genossen auch Juden aus der ehemaligen Sowjetunion einen besonderen Einwanderungsstatus. Die mehr als 240.000 Neuankömmlinge seit 1989 haben jüdisches Leben und jüdische Gemeinden in Großstädten wie Berlin, Frankfurt/M. und München wiederbelebt. Die Ost-West- und Stadt-Land Unterschiede in der ethnischen Vielfalt sind ausgeprägt; die meisten ausländischen Staatsangehörigen und Bürger*innen mit Migrationshintergrund leben im westlichen Teil des Landes und in Berlin; viele von ihnen sind aufgrund der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts innerhalb der Organisation EU-Bürger.

Der große Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerber*innen überforderte die Kapazitäten des Wohlfahrtsstaates und führte zu einer deutlichen Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und Sozialneid – ein Muster, das sich wiederholte, als die Konflikte im Nahen Osten, insbesondere der Bürgerkrieg in Syrien, und in vielen Regionen Afrikas zu einer erneuten Migrationswelle nach Europa führten. Auf dem Höhepunkt des Flüchtlingsstroms in den Jahren 2015/16 nahm allein Deutschland mehr als 1,2 Millionen Flüchtlinge auf. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte aus humanitären Gründen: „Wir schaffen das!“ Viele deutsche Bürger*innen nahmen die Flüchtlinge aktiv auf, doch der plötzliche Zustrom überforderte auch viele Gemeinden. Das Schreckgespenst des Terrorismus und kultureller Wertekonflikte schürte Ängste und trug zum Wahlerfolg der rechtsnationalen Partei Alternative für Deutschland (AfD) bei. Angesichts des Widerstands und der Herausforderungen, welche die Integration einer großen Zahl von Neuankömmlingen mit sich bringt, führte die anfängliche Politik der offenen Tür bald zu einer restriktiveren Politik und einem deutlichen Rückgang der Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber*innen. Der Rückgang war jedoch nur von kurzer Dauer. Als Folge der russischen Invasion der Ukraine 2022 flüchteten über eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland.

Nationale und internationale Kommentator*innen weisen zudem darauf hin, dass Deutschland Migrant*innen anziehen und integrieren muss, um den seit über 40 Jahren niedrigen Geburtenraten und der alternden Bevölkerung entgegenzuwirken. Das Thema Demografie ist erst in den letzten Jahrzehnten zu einer dringenden politischen Frage geworden. Die Debatten konzentrieren sich auf die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die deutsche Bevölkerung, die Rolle und die Pflege der älteren Menschen, die Finanzierung der Sozialsysteme und den Einfluss auf die Einwanderungspolitik. Die künftige politische und gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands wird vom Erfolg oder Misserfolg der Integration dieser Migrant*innen in das kulturelle und berufliche Gefüge abhängen. [22]

Die sinkende Geburtenrate in Verbindung mit einer alternden Bevölkerung lenkte die Aufmerksamkeit erneut auf die traditionelle Rolle der Frau als Mutter und Kinderbetreuerin und die damit einhergehende Schwierigkeit, Beruf und Mutterschaft miteinander zu vereinbaren. Gender-Mainstreaming-Richtlinien der EU, die Verbreitung von Praktiken aus anderen Ländern und das Beispiel der ehemaligen DDR, wo die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt sowohl eine wirtschaftliche Notwendigkeit als auch ein Akt der Selbstbestimmung war, trugen ebenfalls zu einem ausgeprägten politischen Wandel bei. Zu den Maßnahmen, die seit 2007 ergriffen wurden, gehören die Ausweitung des Elterngeldes auf beide Elternteile, der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und die Reform der Schulstrukturen. Trotz beträchtlicher Fortschritte, insbesondere im westlichen Teil des Landes, sind Kinderbetreuungseinrichtungen nach wie vor Mangelware, und das geringe Angebot an Ganztagsschulen behindert die Vollzeitbeschäftigung von Müttern. Kulturelle Vorbehalte gegen die Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft bestehen nach wie vor.

Andere politische Maßnahmen betrafen Richtlinien zur Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern sowie Quoten, um die Beteiligung von Frauen in Unternehmensvorständen zu erhöhen. In der Politik hat die Repräsentanz von Frauen seit langem von der Einführung freiwilliger Parteiquoten profitiert. Sie wurden erstmals in den 1980er Jahren von den Grünen eingeführt und haben sich in der SPD, der Linkspartei, der CDU und – nur für Führungspositionen – auch in der CSU durchgesetzt. Während der Legislaturperiode 2021-2025 stellten Frauen 35 Prozent der Bundestagsabgeordneten. Auch das Bewusstsein für geschlechtliche Vielfalt und Identität hat zugenommen.[23] Gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte wurden in Ost- und Westdeutschland bereits vor 1990 entkriminalisiert, doch die rechtliche Diskriminierung wurde erst 1994 aufgehoben. Die 2001 eingeführten eingetragenen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ebneten den Weg für die seit 2017 möglichen gleichgeschlechtlichen Eheschließungen.

4. Kanzler der Einheit

Vor der Öffnung der Berliner Mauer im November 1989 schien sich Helmut Kohls Amtszeit als Bundeskanzler dem Ende zuzuneigen. Nur wenige erwarteten, dass er trotz seines Vorteils als amtierender Kanzler eine weitere Amtszeit gewinnen würde. Doch die Entschlossenheit, mit der er die Verhandlungen sowohl im Inland als auch auf internationaler Ebene führte, resultierten in einer schnellen Vereinigung und brachte ihm den Titel „Kanzler der Einheit“ ein. Zunächst sorgte die Vereinigung für einen Aufschwung der deutschen Wirtschaft, und die Deutschen feierten die Wiedervereinigung ihrer einst geteilten Nation und die damit einhergehende Rückkehr zur vollen internationalen Souveränität. In der Politik sorgte ein optimistischer Zeitgeist für die Wiederwahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler im Dezember 1990. Die Koalition zwischen der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) und der Christlich-Sozialen Union (CSU), die nur in Bayern anstelle der CDU regiert, mit der Freien Demokratischen Partei (FDP) wurde fortgesetzt. Dieser Optimismus verflüchtigte sich jedoch schnell, als der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und die Auseinandersetzungen um die Transformation Ostdeutschlands die Politik vor enorme Herausforderungen stellten. Bald wurde die Bundesrepublik von den ungelösten wirtschaftlichen und sozialen Problemen der vergangenen Jahrzehnte eingeholt. Die Zunahme von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, die mit dem Zuzug einer wachsenden Zahl von Spätaussiedler*innen und Asylbewerber*innen einherging, führte zu weiteren Spannungen.

Bei den Wahlen 1994 setzte sich die Koalition aus CDU/CSU und FDP trotz der Frustrationen über das Tempo der Vereinigung knapp durch. Als Reaktion auf die sinkende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und den zunehmenden Druck seitens der Wirtschaft und der Medien nahm die CDU neoliberale Ideen in ihr Programm auf, doch die Umsetzung selbst einer bescheidenen wirtschaftlichen Reformagenda erwies sich aufgrund des politischen Stillstands und der heftigen Proteste gegen Sozialabbau als schwierig. 1997 wurde der Begriff "Reformstau" geprägt, um das vorherrschende Gefühl der Frustration zu beschreiben: Probleme wurden erkannt und der Wunsch nach Reformen artikuliert, doch die vorgeschlagenen Lösungen für die Probleme bedrohten die bestehenden Ansprüche und blieben schnell im mehrstufigen Entscheidungsprozess stecken. Je weniger passierte, desto bedrohlicher wurden die Zukunftsszenarien.[24]

Die Regierung Helmut Kohls amtierte zu einem entscheidenden Zeitpunkt der europäischen Integration. Voraussetzung für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten war das feste Bekenntnis Deutschlands zur europäischen Einigung: Wiedervereinigung und europäische Integration, so Helmut Kohl, seien zwei Seiten derselben Medaille. Kohls enge Partnerschaft mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand vertiefte die deutsch-französische Aussöhnung; gemeinsam ebneten sie den Weg für eine engere Union in Europa. Mit dem Vertrag von Maastricht (1992), der seither mehrfach geändert wurde, wurden eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Zusammenarbeit in Justiz- und Innenpolitik sowie die Einführung einer gemeinsamen Währung, des Euro, festgelegt. Insbesondere die Einführung des Euro wurde gegen den Widerstand im eigenen Land durchgesetzt, da viele Deutsche die Stärke der D-Mark mit politischer und wirtschaftlicher Stabilität assoziierten; die Währung war zu einem wichtigen Identitätsmerkmal geworden, das die Bürger mit wirtschaftlichem Aufschwung und internationalem Ansehen verbanden.

1998 war Kohl seit sechzehn Jahren im Amt, und die meisten Wähler*innen waren der Meinung, dass es Zeit für einen Wechsel war. Und mit diesem Wechsel ging eine Ära zu Ende. Helmut Kohl wird immer als die treibende Kraft hinter der Modernisierung der CDU, als engagierter Europäer, der die Verhandlungen über eine gemeinsame Währung führte, und als Kanzler der Wiedervereinigung in Erinnerung bleiben. Doch seine Verstrickung in den Finanzskandal von 1999-2000, bei dem illegale Zuwendungen auf CDU-Parteikonten aufgedeckt wurden, und sein Umgang mit den Ermittlungen warfen einen bleibenden Schatten auf die letzten Jahre seiner Amtszeit.

5. Die Rot-Grüne-Koalition

Die Regierungsbildung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 1998 weckte sofort Erinnerungen an das Jahr 1969, als sich die SPD mit der FDP zusammenschloss. Beide Koalitionsregierungen kamen mit der Erwartung an die Macht, sich von der bisherigen Politik zu verabschieden und einen neuen Weg einzuschlagen. Im Gegensatz zu 1969, als manche meinten, eine sozial-liberale Koalition würde die Republik in ihren Grundfesten erschüttern, begrüßten die Verlierer der Wahl 1998 die rot-grüne Koalition mit demokratischer Gelassenheit. Die Wahl von 1998 markierte nicht nur einen Regierungswechsel, sondern auch einen Generationswechsel an der Spitze der politischen Führung: Die Kriegsgeneration wich der Nachkriegsgeneration. Die so genannte 68er-Generation hatte sich in den rebellischen 1960er Jahren ihre politischen Sporen verdient und sich in den institutionellen Rängen durchgesetzt. Nun hatten einige ihrer Vertreter, allen voran Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die Regierungsgeschäfte übernommen.

Die Umsetzung einer linken Agenda erwies sich jedoch schwieriger als erwartet. Die ersten Monate der rot-grünen Regierung waren von parteiinternen Querelen und den Schwierigkeiten der Tagespolitik geprägt. Die Umsetzung dringend notwendiger Reformen stieß auf Schwierigkeiten, wie schon in den letzten Jahren der Regierung Kohl. Angesichts höherer Staatsverschuldung, anhaltender struktureller Arbeitslosigkeit, geringen Wirtschaftswachstums, niedriger Geburtenraten und der Alterung der Bevölkerung sowie des globalen Wettbewerbs blieb kaum ein Politikbereich von Reformforderungen verschont. Auf dem Prüfstand standen unter anderem die Finanzierung der Renten- und Krankenversicherung, der Umbau des Arbeitsmarktes und der Sozialhilfe, die Neugestaltung der Bildungsstrukturen und -politik sowie die Neuordnung des Bund-Länder-Verhältnisses.

Im Gegensatz zu der breiten Unterstützung für frühere Reformen in den 1960er und 1970er Jahren, die mehr Demokratie, Sozialleistungen und Bildungschancen versprachen, riefen die Reformen jetzt immer wieder Widerstand und Proteste hervor. Auch politische Blockaden zwischen Bund und Ländern behinderten den Fortschritt. Oft gelang der politische Prozess nur, wenn eine Agenda von einem informellen Beratungsgremium vorgelegt und dann von einer ebenso informellen Großen Koalition zwischen den beiden großen Parteien SPD und CDU ausgehandelt wurde. Praktisch alle großen politischen Vorhaben – von der Kommission zur Reform der Streitkräfte über die Zuwanderungskommission und die Föderalismuskommission bis hin zur Renten- und Arbeitskommission – erfolgten auf dieser Grundlage. Dennoch wurden einige längst überfällige liberale Reformen erfolgreich eingeführt. Dazu gehören ein moderneres Staatsbürgerschaftsrecht, das unter bestimmten Umständen die doppelte Staatsbürgerschaft zulässt (2000), ein Lebenspartnerschaftsgesetz für gleichgeschlechtliche Paare (2001) und schließlich, nach vierjährigen Verhandlungen, ein Einwanderungs- und Integrationsgesetz (2005). Auch in anderen Bereichen wurden wichtige Änderungen auf den Weg gebracht: Reformen der Streitkräfte, der Steuergesetzgebung, des Sozialsystems und des Bildungswesens.

Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte jedoch 1998 versprochen, die Verringerung der Arbeitslosigkeit zum Gradmesser für den Erfolg seiner Regierung zu machen. Als die Wirtschaft in den Jahren 2001-2002 in eine Rezession geriet, wurde deutlich, dass geringfügige Anpassungen des Sozialstaats nicht ausreichten, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Vor allem die steigenden Arbeitslosenzahlen beschäftigten die politischen Entscheidungsträger*innen und die Öffentlichkeit. In einem politischen Kraftakt wurde im März 2003 die Agenda 2010 – ein mehrstufiges Arbeitsmarktprogramm – verabschiedet. Inspiriert von neoliberalen Forderungen nach wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit einer Hochlohnwirtschaft, beschnitt dieses Reformwerk einige der großzügigen Bestimmungen des Sozialstaates und versuchte, Sozialhilfeempfänger*innen durch Anreize zu motivieren. Die Agenda 2010 forderte Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung und die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (die Umsetzung des so genannten Hartz-IV-Vorschlags).

Aus Protest gegen diese Kürzungen gründeten enttäuschte SPD-Mitglieder und Gewerkschafter die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), die sich im Januar 2005 als politische Partei etablierte und 2007 mit der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) fusionierte. Hohe Arbeitslosigkeit, die im Mai 2005 bei 4,8 Millionen (11,6 Prozent) lag, parteiinterne Streitigkeiten über die Wirtschafts- und Sozialpolitik und eine Niederlage nach der anderen bei den Landtagswahlen – besonders schlimm traf es die Partei in der traditionellen sozialdemokratischen Hochburg Nordrhein-Westfalen – veranlassten Bundeskanzler Gerhard Schröder, vorgezogene Neuwahlen auszurufen. Eine Vertrauensfrage, die Schröder im Bundestag absichtlich verlor, ebnete den Weg für eine vorgezogene Bundestagswahl im September 2005. Im Nachhinein wurden diese Reformen – trotz ihrer Mängel – weithin dafür gelobt, die deutsche Wirtschaft in den kommenden Jahren wieder angekurbelt zu haben.[25]

Ähnlich umstritten war der Beschluss der rot-grünen Koalition, mit dem Tabu des militärischen Engagements im Ausland nach dem Zweiten Weltkrieg zu brechen. Unter Berufung auf die Verantwortung Deutschlands, einen weiteren Völkermord auf europäischem Boden zu verhindern, wurden die Einwände der pazifistischen Flügel in beiden Parteien beim NATO-Einsatz im Kosovo 1999, an dem sich deutsche Truppen beteiligten, überwunden. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten beteiligten sich deutsche Truppen auch an der NATO-geführten Mission in Afghanistan. Der Regierungswechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder führte schließlich zu einer selbstbewussteren Außenpolitik.[26] Dazu gehörten insbesondere die (gescheiterte) Bewerbung um einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die entschiedene Opposition gegen die US-geführte Intervention im Irak im Jahr 2003. Die internationale Rolle Deutschlands nahm auch dank der hohen Sichtbarkeit des Außenministers Joschka Fischer in internationalen Angelegenheiten zu.

Der rot-grünen Koalition gelang es, den „Reformstau“ aufzubrechen und die außen- und sicherheitspolitischen Weichenstellungen moderat, aber deutlich vorzunehmen. Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde wegen seiner Kompetenz im Umgang mit den Medien auch als „Medienkanzler“ bezeichnet. Seine engen Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin kamen den deutsch-russischen Beziehungen in einer Zeit zugute, in welcher der Westen auf eine engere Zusammenarbeit mit Russland hoffte, wurden jedoch umstritten, als Putin zunehmend autokratisch wurde.

6. Die Ära Merkel

Um eine Regierungsmehrheit im Bundestag zu erlangen, waren in der Regel Koalitionen mit einer der großen Parteien erforderlich. Entweder CDU/CSU oder SPD hatten mit Hilfe einer der kleineren Parteien (FDP oder Bündnis 90/Die Grünen) regiert. Das Patt bei der Bundestagswahl 2005 endete jedoch in einer Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, der zweiten in der Geschichte der Bundesrepublik. Allen Unkenrufen zum Trotz überlebte die zunächst unpopuläre Koalition nicht nur vier Jahre im Amt und meisterte die weltweite Finanzkrise 2008/2009, sondern zog auch eine positive Bilanz aus dem Amt. Die mit Spannung erwartete Rückkehr zur traditionellen Koalition aus CSU/CSU und FDP (2009-2013) brachte dagegen Revierkämpfe und 2013 die Rückkehr einer weiteren Großen Koalition aus CSU/CSU und SPD.[27] 2017 sollte der Kreislauf der Regierungszusammenarbeit zwischen den beiden großen Parteien zunächst enden. Doch nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen trat im März 2018 erneut eine Große Koalition an.

Große Koalitionen, die einst als Ausnahme galten und auf wenige Jahre begrenzt waren, sind zur Regel geworden. Wenn zwei oder mehr Parteien eine Koalitionsregierung bilden, wirkt sich dies auch auf die Machtverhältnisse zwischen den Parteien aus. Sie müssen zusammenarbeiten und gleichzeitig ihre individuellen Parteiprofile im Hinblick auf die nächsten Wahlen bewahren. Sie können grundlegende Reformen in Angriff nehmen oder sich gegenseitig behindern. Diese Dynamiken werden besonders sichtbar, wenn die beiden größten Parteien gemeinsam regieren. Die Oppositionsparteien verfügen nur über eine Minderheit der Stimmen im Bundestag wenn die beiden größten Parteien regieren und konkurrieren miteinander dabei, ihr Profil zu schärfen. Die Häufigkeit Großer Koalitionen ist eine Begleiterscheinung tiefgreifender Wahlveränderungen, bei denen der Stimmenanteil der großen Parteien CDU/CSU und SPD (1990: 77,3 %; 2017: 53,4 %; 2021: 49,8%) gesunken ist und kleinere Parteien stärker vertreten sind. Zählt man die CDU/CSU auf Bundesebene als eine Partei, so hat sich die Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien von vier vor 1990 (CDU/CSU, SPD, FDP, Die Grünen) auf fünf mit der PDS, später Die Linke, im Jahr 1990 und auf sechs im Jahr 2017 mit der AfD erhöht. Mit ihr ist erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine rechtsextreme Partei in den Bundestag eingezogen.

Weder die Partei Die Linke noch die AfD gelten als politisch akzeptable Koalitionspartner auf Bundesebene. Die Linke wird vor allem wegen einiger ihrer außenpolitischen Positionen und des anhaltenden Misstrauens gegenüber einer Partei ausgeschlossen, deren Ursprünge auf die Jahre 1989/90 zurückgehen, als sie die Regierungspartei der DDR, die SED, ablöste. Dennoch wurde ihre allmähliche Akzeptanz als legitimer Akteur (aber nicht als Koalitionspartner) durch die Präsenz ihrer Bundestagsabgeordneten seit 1990 begünstigt. Die Rolle des politisch Geächteten wird nun der AfD zugewiesen; ihre Vertreter*innen werden aufgrund ihrer nationalistischen/fremdenfeindlichen Rhetorik und ihrer starken Euroskepsis eindeutig als Außenseiter angesehen. Der Ausschluss von zwei der sechs Parteien schränkt das Spektrum an Koalitionsoptionen stark ein. Im Jahr 2017 führte dieses Szenario zu fast sechsmonatigen Koalitionsverhandlungen, den längsten in der Geschichte der Bundesrepublik.

Angela Merkel, die erste Bundeskanzlerin und während ihrer Amtszeit oft als die mächtigste Frau der Welt bezeichnet, regierte Deutschland von 2005 bis 2021.[28] In ihre Amtszeit fielen Reformen, die während der rot-grünen Regierung eingeführt wurden, und längst überfällige Reformen, über die seit Jahren diskutiert wurde. Föderalismusreformen, verbindliche Schuldenbremsen auf Bundes- und Landesebene, Mindestlöhne, eine neue Zuwanderungs-, Integrations-, Familien- und Geschlechterpolitik (s.o.) sowie die Neuausrichtung der Energiepolitik standen dabei im Vordergrund. Seit den 1970er Jahren, als die ersten Kernkraftwerke in Westdeutschland in Betrieb genommen wurden, erweckt ihre Anwesenheit öffentliche Befürchtungen und Proteste. Die von der rot-grünen Koalition 2001 eingeführte Politik des Ausstiegs aus der Kernenergie sollte 2010 aufgehoben werden, doch nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 wurde diese Entscheidung überraschend schnell wieder rückgängig gemacht. Dieser plötzliche politische Schritt, der in der Öffentlichkeit auf breite Zustimmung stieß, setzte die Diversifizierung des deutschen Energiesektors und die Energiekosten weiter unter Druck; alle Kernreaktoren sollten bis Ende 2022 abgeschaltet werden (die letzten drei AKWs wurden im April 2023 vom Netz genommen).[29]

Angela Merkels lange Amtszeit wurde durch den beeindruckenden Aufschwung der deutschen Wirtschaft trotz aller Hindernisse begünstigt. Der Weg Deutschlands vom „kranken Mann Europas“ zur europäischen Wirtschaftsmacht war von Protesten und Rückschlägen begleitet. In einer Zeit steigenden Wirtschaftswachstums und sinkender Arbeitslosenzahlen und Staatsverschuldung traf die internationale Finanzkrise 2008/09 die Wirtschaft hart. Konjunkturpakete und Bankenreformen trugen entscheidend zur Stabilisierung der Wirtschaft bei und sie erholte sich rasch. Die Wettbewerbsfähigkeit stieg auch dank des vorteilhaften Wechselkurses des Euro, durch den die Exporte boomten. Der Exportüberschuss erreichte einen neuen Höchststand und die Arbeitslosenzahlen sanken auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Grundlegende Merkmale des deutschen Wirtschaftsmodells wie der Rückgriff auf Familienunternehmen, kooperative Arbeitsbeziehungen, die Betonung der Berufsausbildung und qualitativ hochwertige Waren haben dabei überlebt. [30] Am Ende der Amtszeit Angela Merkels schrumpfte die deutsche Wirtschaft zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt, vor allem wegen der Covid-19-Pandemie. Insgesamt hat sich die deutsche Wirtschaft besser entwickelt als die anderer europäischer Staaten, doch Stagnation und Rezession kündigten sich bald an. Die Ursachen sind vielfältig: hohe Energiekosten, Fachkräftemangel, bürokratische Hürden, rückständige Infrastrukturinvestitionen und ein veränderter Exportmarkt, um nur einige der wichtigsten zu nennen.

Die Auswirkungen der Globalisierung, Produktivitäts- und Wettbewerbsveränderungen hatten jedoch auch ihren sozialen Preis: Schwächung der Gewerkschaften, langfristige Stagnation der Reallöhne, Zunahme von Ungleichheit und Armut, und die Entstehung einer Doppelverdienerstruktur. Die Liberalisierung der Wirtschaft schützte viele Beschäftigte vor den negativen Auswirkungen, führte jedoch zu prekären, schlecht bezahlten Arbeitsplätzen mit oft kurzfristigen Verträgen. Diese Veränderungen haben auch langfristige Folgen für die Rentenleistungen und die Vermögensbildung. Hinzu kommt, dass kein Land für sein Wirtschaftswachstum und seinen Wohlstand stärker auf seine Exportindustrien angewiesen ist als Deutschland, was Abhängigkeiten schafft. Als Reaktion auf die wachsende Staatsverschuldung wurde 2009 eine sogenannte Schuldenbremse eingeführt, die bis 2016 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt und bis 2020 einen ausgeglichenen Landeshaushalt vorsah. Im Jahr 2015 wurde ein ausgeglichener Staatshaushalt erreicht. Skeptiker stellten diese Regelungen in Frage und verwiesen auf den Rückstand bei den Infrastrukturinvestitionen, zum Beispiel beim flächendeckenden Zugang zum Hochgeschwindigkeitsinternet. Diese Bedenken haben in den letzten Jahren zugenommen, da die strukturellen wirtschaftlichen Probleme immer deutlicher zutage treten. Strenge Haushaltsregeln werden nun in Frage gestellt.

Die Amtszeit von Angela Merkel war auch geprägt von ihrer Rolle innerhalb der Europäischen Union und ihrem Profil in der internationalen Politik im Allgemeinen. Nach der erfolgreichen Einführung des Euro in den Jahren 1999/2002 haben die Nachwirkungen der weltweiten Finanzkrise 2008-2009 die damit verbundenen Probleme offengelegt. Die Ausweitung einer gemeinsamen Währung auf Länder mit sehr unterschiedlichen Volkswirtschaften (bisher 19) und die laxe Durchsetzung der Kriterien, welche die Finanzen der Mitgliedstaaten stabilisieren sollten, erwiesen sich als katastrophal, insbesondere in den südeuropäischen Ländern, wobei Griechenland besonders stark betroffen war. Die Krise katapultierte Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble ins Zentrum der Verhandlungen in Brüssel. Ihr Beharren auf einem Schuldenschnitt, um das Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln und das Wirtschaftsverhalten in den betroffenen Ländern zu ändern, zog schnell heftige Kritik aus dem Ausland nach sich.[31] Auch der große Zustrom von Flüchtlingen nach 2011 machte die Schwächen der Asyl- und Einwanderungspolitik der EU deutlich. Die Öffnung der deutschen Grenze im Sommer/Herbst 2015 für eine große Anzahl von Flüchtlingen rief Kritik hervor, da die deutsche Regierung die anderen EU-Staats- und Regierungschefs nicht konsultiert hatte und für viele einen Präzedenzfall geschaffen hatte, der nur noch mehr Flüchtlinge anlocken würde.

Dennoch sind Angela Merkels Entschlossenheit und ihr Geschick, das Auseinanderbrechen der EU und des Euro zu verhindern, allgemein anerkannt. Sie übernahm die Führungsrolle bei der Verabschiedung des Vertrags von Lissabon (2009) und war eine Schlüsselfigur in den Beziehungen zwischen der EU und Russland sowie bei der Aushandlung des Minsk-II-Abkommens im Jahr 2015, das Frieden in der Ukraine schaffen sollte. Auch nach der autoritären Wende von Präsident Wladimir Putin, der Annexion der Krim und der Einmischung seiner Regierung in die inneren Angelegenheiten der westlichen Demokratien blieb Deutschland ein wichtiger Vermittler bei der Beilegung von Streitigkeiten und der Aufrechterhaltung der Kommunikationskanäle. Trotz der gegen Russland verhängten Sanktionen wurden die Handelsbeziehungen und damit auch die Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland fortgesetzt, bis Wladimir Putins Vorgehen in der Ukraine im Jahr 2022 Schockwellen durch die westlichen Demokratien sandte. Die Entscheidungsträger*innen der deutschen Politik und Wirtschaft mussten sich fragen, ob sie zu sehr auf Diplomatie und Wirtschaftsinteressen gesetzt hatten, während sie die zunehmend aggressive Außen- und Sicherheitspolitik Wladimir Putins herunterspielten.

Zu Beginn der vierten Amtszeit von Angela Merkel im März 2018 befand sich Deutschland in einer beneidenswerten wirtschaftlichen und politischen Lage. Doch ihre letzte Wahl signalisierte auch bereits, dass ein Wandel bevorstand. Ihre vierte und letzte Amtszeit als Bundeskanzlerin endete 2021. Merkels ungewöhnlicher Hintergrund als Physikerin und ihre Erziehung im kommunistischen Osten wurden zur Erklärung ihrer Führung herangezogen: vorsichtig, pragmatisch, systematisch, kooperativ und nicht ideologisch. Die „Merkel-Methode“ zeichnete sich dadurch aus, dass sie Optionen auf der Grundlage von Fakten abwägte und keine voreiligen Schlüsse zog; sie baute auf dem Aufschieben von Entscheidungen auf, konnte aber manchmal zu überraschenden Änderungen ihrer Politik führen. Das wichtigste Merkmal ist, dass dieser Politikstil Parteigrenzen überschritt. Die Annäherung der CDU an die politische Mitte, u. a. durch eine offenere Einwanderungs- und Geschlechterpolitik, verwischte die Grenzen zwischen links und rechts und trug zu den Wahlniederlagen der SPD bei. Da sie den Verlust des konservativen Kerns ihrer Partei beklagten, wechselten einige CDU-Wähler bei der Bundestagswahl 2017 zu AfD und FDP. Für einige Kritiker*innen hat der zentristische Konsens der letzten Jahre auch entscheidende politische Debatten erstickt. Die Wahlkämpfe der letzten Jahre waren meist glanzlos und kurz. Angesichts neuer kultureller und wirtschaftlicher Unterschiede, des Einzugs der AfD in den Bundestag und eines unruhigen internationalen Umfelds wird die relative Harmonie der deutschen Politik auf eine harte Zerreißprobe gestellt.

Im Jahr 2021 ging die lange Ära Merkel etwas überraschend zu Ende, als sie aus dem Amt schied und ihre designierte Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer es nicht schaffte, von der Verteidigungsministerin zur Kanzlerin aufzusteigen. Der CDU-Spitzenkandidat und nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet verlor die Wahl aufgrund einiger Wahlkampf-Fehltritte gegen den ehemaligen Hamburger Bürgermeister und Bundesfinanzminister Olaf Scholz, den nüchternen norddeutschen SPD-Vorsitzenden. Das Wahlergebnis von 2021 – und die anschließenden Koalitionsverhandlungen – führten zu einer bisher nicht erprobten Dreierkoalition auf Bundesebene zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP unter SPD-Kanzler Olaf Scholz. Es bestand weitgehende Einigkeit darüber, dass eine weitere Große Koalition nicht angestrebt wurde. Diese so genannte „Ampelkoalition“, die nach den Parteifarben Rot, Grün und Gelb benannt ist, war ein beispielloses Arrangement, in dem sich das Regieren als schwierig erwies, da die drei Partner Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner auf einer gegensätzlichen Sozial-, Umwelt- und neoliberalen Politik beharrten.[32] Während die Medien ihre Differenzen mit großem Erfolg herausstellten, gelang es der Koalition, die für sich in Anspruch genommen hatte, Deutschland zu modernisieren, in der Praxis bisher, gerade genug Kompromisse zu finden, um die Regierung zusammenzuhalten. Es bleibt abzuwarten, ob dies auch in Zukunft der Fall sein wird.

7. Europa und die Welt

Die deutsche Wiedervereinigung im Oktober 1990 löste eine Vielzahl von widersprüchlichen Reaktionen und Erwartungen aus; die Welt beobachtete mit Neugier, wenn nicht gar mit Sorge, wie sich Deutschland entwickeln würde. Für die einen beschwor sie alte Ängste vor deutschen Sonderwegen und einer erneuten deutschen Dominanz in Europa herauf. Andere wiederum sahen darin eine Chance für Deutschland, in der internationalen Gemeinschaft als „normaler“ Staat wie jeder andere anerkannt zu werden.

Die Wiedervereinigung und die damit verbundene Erlangung der vollen Souveränität stärkte die Rolle der Bundesrepublik als Macht im Herzen Europas und erweiterte schrittweise den Umfang ihrer Aktivitäten und Verantwortlichkeiten. Sie ist über ihre frühere Charakterisierung als Regionalmacht hinausgewachsen, doch ihre sich abzeichnende und entwickelnde Rolle in den internationalen Beziehungen bleibt umstritten: Ist sie die dominierende Führungsmacht in Europa, sogar sein Hegemon? Oder ist sie eine zurückhaltende Führungsmacht, die zu langsam reagiert und risikoscheu ist? Ist Deutschland einzigartig in seiner Konstellation von wirtschaftlicher Stärke und militärischer Zurückhaltung? Es versteht sich als Mitführungsmacht mit Gestaltungsmacht. Die Selbstbeschränkung, welche die Außenpolitik der alten Bundesrepublik kennzeichnete, ist immer noch vorherrschend, wird aber zunehmend durch Zeichen der Selbstbehauptung ergänzt.

Deutschland hat sich zu einer herausragenden Soft Power entwickelt und rangiert regelmäßig unter den Top-Ländern der Welt. Soft Power ist bekanntermaßen schwer zu definieren, bezieht sich aber auf die Anziehungskraft eines Landes auf andere, die auf seinen Werten, seiner Politik und seinen Institutionen beruht. Anziehungskraft allein ist jedoch noch kein Einfluss. Dieser muss durch Taten untermauert werden. Die deutschen Regierungen der letzten Jahrzehnte standen unter dem Druck, eine aktivere und umfassendere Rolle in internationalen Angelegenheiten zu spielen. Die Veränderungen in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik waren in erster Linie eine Reaktion auf die Veränderungen in der internationalen Arena und nicht das Ergebnis bewusster neuer Strategien. In einer Zeit, in der die Umgestaltung der internationalen Ordnung von der Hegemonie der USA zu einer multipolaren Konfiguration Konflikte und Unklarheiten schafft, hat sich Deutschland als Schlüsselakteur in Europa mit wachsenden, aber begrenzten globalen Ambitionen positioniert. Diese politischen Anpassungen erfolgten schrittweise und beruhen auf der langjährigen Verpflichtung, als Zivilmacht und in Abstimmung mit anderen zu handeln. Eine Zivilmacht legt den Schwerpunkt auf internationale Zusammenarbeit und gemeinsame Problemlösungen; militärische Maßnahmen sind das letzte Mittel. Dieses Konzept ist mit dem Multilateralismus verbunden, einer Verpflichtung, mit anderen zusammen zu handeln, anstatt Alleingänge zu unternehmen.[33]

Die Kultur der Zurückhaltung und das Festhalten am Multilateralismus haben sich in einem sich rasch verändernden internationalen Umfeld bewährt. Die politischen Instrumente sind multidimensional; sie bieten Optionen und erfordern Entscheidungen. In den Beziehungen Deutschlands zu China stehen beispielsweise wirtschaftliche Interessen im Vordergrund, die jedoch mit rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Erwägungen kollidieren. Die Diplomatie kann mit Wirtschaftssanktionen kombiniert werden, wie die jüngsten Maßnahmen gegen Russland zeigen. Bei den Atomverhandlungen mit dem Iran nutzte Deutschland zusammen mit den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats und der EU Diplomatie, um Spannungen abzubauen und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Internationales militärisches Engagement wurde aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt: zur Erhaltung oder Förderung des Friedens, zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Bekämpfung des Terrorismus.[34]

Der Ruf nach einem stärkeren internationalen Engagement hat sich in konkreten Maßnahmen im Bereich der internationalen Sicherheit niedergeschlagen. Die Bundeswehr hat sich von einer reinen Verteidigungsarmee zu einer einsatzfähigen militärischen und friedenserhaltenden Truppe entwickelt, deren Soldatinnen und Soldaten sich an NATO-, EU- und UN-Missionen auf verschiedenen Kontinenten beteiligen, auch wenn die Personalstärke insgesamt gering bleibt. So waren im März 2018 rund 3.600 Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz.[35] Die lang geforderte Modernisierung der Bundeswehr resultierte in der Abschaffung der Wehrpflicht zugunsten einer Berufsarmee mit derzeit 185.000 Soldat*innen. Die Forderung, die Streitkräfte aufzurüsten und weiter zu modernisieren, sind Routine und an die NATO-Mitgliedschaft gebunden, nach der russischen Invasion der Ukraine nahmen sie jedoch neue Dimensionen an.

Die Sicherheit Deutschlands hängt von der NATO ab, einem Bündnis von derzeit 32 Staaten (Stand 2023). Die deutschen Militärausgaben in Prozent des BIP gingen nach 1990 drastisch zurück und stiegen über viele Jahre hinweg nur geringfügig an. Die Beiträge zur NATO lagen immer noch weit unter den angestrebten 2 Prozent, auf die sich die NATO-Mitgliedstaaten 2006 geeinigt hatten und die nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 bekräftigt wurden. Eine drastische Erhöhung der Militärausgaben erwies sich jedoch als schwierig in einem innenpolitischen Umfeld, in dem militärische Aufrüstung verpönt ist. Erst der russische Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 und der Druck, die europäischen Verteidigungskräfte aufzustocken, haben die deutsche Regierung dazu veranlasst, den Verteidigungshaushalt erheblich zu erhöhen. Es wird erwartet, dass die deutschen NATO-Beiträge im Jahr 2024 das 2-Prozent-Ziel erreichen werden. Gemessen an den Gesamtzahlen war Deutschland 2023 der zweittgrößte Beitragszahler zum NATO-Haushalt nach den USA. Der Anstieg der Militärausgaben steht neben Steigerungen bei der Entwicklungs- und humanitären Hilfe, die als ebenso wichtig für Sicherheit und Frieden angesehen werden. Trotz des weit verbreiteten deutschen Pazifismus und der Skepsis gegenüber ausländischen Militäreinsätzen ist die Neuausrichtung der Rolle der Streitkräfte in der Öffentlichkeit auf relativ wenig Widerstand gestoßen.

Die guten und engen Beziehungen zu einem der wichtigsten Partner Deutschlands, den Vereinigten Staaten, beruhen auf starken militärischen Bindungen innerhalb der NATO und einem dichten Netz von Geschäfts- und Bürgerbeziehungen.[36] Diese freundschaftlichen Beziehungen sind jedoch wiederholt auf die Probe gestellt worden. Der vehemente Widerstand gegen die deutsche Beteiligung am Irak-Krieg führte zu erheblichen transatlantischen Spannungen, die jedoch nach 2005 und insbesondere nach der Ablösung von George W. Bush durch Barack Obama schnell behoben wurden.[37] Die Wahl des Populisten Donald Trump zum Präsidenten wurde in Deutschland skeptisch bis ablehnend aufgenommen und löste eine Diskussion über die künftige Rolle Deutschlands und der USA in den bilateralen Beziehungen und in globalen Angelegenheiten im Allgemeinen aus. Das Vertrauen in die internationale Führungsrolle der USA nahm während Trumps Präsidentschaft deutlich ab.[38] Während der Präsidentschaft Joe Bidens haben sich die Beziehungen wieder verbessert, doch die Europäer im Allgemeinen und die Deutschen im Besonderen haben aus den Trump-Jahren und der russischen Invasion in der Ukraine gelernt, dass sie sich nicht mehr allein auf die Vereinigten Staaten als ihren Sicherheitsschirm verlassen können.

Der Multilateralismus bindet Deutschland an die EU (eine weitere Zivilmacht), seine wichtigsten Bündnispartner und internationale Organisationen im Allgemeinen. Wenn Konsens und pragmatische Anpassung die deutsche Außenpolitik kennzeichnen, dann gilt dies umso mehr für seine Europapolitik. Die Wiedervereinigung fiel mit der Vertiefung und Ausweitung der europäischen Integration und der Einführung des Euro zusammen. Die internationale Transformation Deutschlands ging einher mit der Transformation der EU zu einem engagierten internationalen Akteur, insbesondere in Fragen des internationalen Handels. Die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration wurde sowohl zu einer Chance als auch zu einer Belastung. Sie war eine Belastung, weil die Durchlässigkeit der nationalen Grenzen Ängste vor Zuwanderung schürte und Befürchtungen über mögliche negative wirtschaftliche und politische Folgen auslöste. Die zentrale Lage Deutschlands bot aber auch die Möglichkeit, die Beziehungen zu den östlichen Nachbarn auszubauen und sich mit demokratischen Verbündeten zu umgeben. Deutsche Politiker wurden daher schon früh zu Befürwortern der NATO- und EU-Erweiterung. Zwischen 1995 und 2013 wuchs die Zahl der Mitglieder von 12 auf 28; nach dem Austritt Großbritanniens liegt die Zahl nun bei 27. Weitere Beitrittskandidaten stehen vor der Tür. Die rasche politische und geografische Erweiterung ist auf Schwierigkeiten neuen Ausmaßes gestoßen; der freizügige Konsens der Vergangenheit, als EU-Angelegenheiten weitgehend Elitenangelegenheiten waren, ist einer größeren Skepsis der Bevölkerung gewichen.[39]

Neue und sich vertiefende Reibungen traten erstmals im Sommer 2005 zutage, als die Wähler*innen in Frankreich und den Niederlanden die europäische Verfassung nicht ratifizierten. Die 2010 ausgebrochene Euro-Krise machte die ausgeprägten wirtschaftlichen Nord-Süd-Unterschiede deutlich und stellte die europäische Solidarität inmitten des wachsenden Nationalismus auf die Probe. Konflikte im Ausland und die anhaltende Armut in vielen Ländern des Globalen Südens führten zu einem Anstieg der Flüchtlings- und Migrantenzahlen, wodurch die Schwächen der EU-Einwanderungspolitik und die mangelnde Solidarität noch deutlicher zutage traten. Neuere Herausforderungen sind demokratische Rückschritte in einigen bestehenden und aufstrebenden Mitgliedstaaten und ein wiedererstarktes Russland im Osten. Das Ergebnis des Brexit-Referendums 2016 in Großbritannien und der Austritt des Landes aus der EU im Jahr 2020 veranschaulichten die extreme Seite des wachsenden Euroskeptizismus, doch Elemente davon existieren überall. Diese weitreichenden und rasanten Entwicklungen haben Fragen nach den Grenzen der EU aufgeworfen. Sie betreffen ihre territoriale Ausdehnung, den Geltungsbereich und das Konzept der Demokratie, die Zukunft der Währung und die des europäischen Integrationsprojekts.[40] Der jüngste wirtschaftliche Aufschwung in den Mitgliedsländern der Eurozone und die Herausforderungen im internationalen Umfeld haben andererseits auch einen allzu großen Pessimismus verhindert, indem sie die positiven Seiten der europäischen Integration aufgezeigt haben.

Deutschlands Platz in Europa ist geprägt von einem starken Engagement für die europäische Integration und engen Beziehungen zu seinem Nachbarn Frankreich. Die deutsch-französischen Beziehungen sind für den Erfolg der europäischen Integration unverzichtbar und haben sie seit Beginn des Prozesses vorangetrieben. Die engen Beziehungen sorgen für ein Gefühl des Gleichgewichts, auch wenn sich der Machtvorteil seit der Wiedervereinigung von Frankreich nach Deutschland verlagert hat. Bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2017 trat ein starker Befürworter der europäischen Integration, Emmanuel Macron, gegen eine entschieden euroskeptische Kandidatin, Marine Le Pen, an. Macrons Sieg 2017 und Wiederwahl 2022 wurden in Deutschland mit großer Erleichterung aufgenommen. Die beiden Länder stehen nach wie vor im Zentrum der europäischen Integration, doch hinter der freundschaftlichen Rhetorik verbergen sich oft schwer zu vereinbarende politische Differenzen in der Sicherheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik, die auch Auswirkungen auf Europa haben.

Das hohe Tempo der europäischen Integration in den 1990er und 2000er Jahren, die damit einhergehende geografische Erweiterung der EU, Krisennarrative und die Sorge um die Wahrung deutscher Interessen haben die deutsche Öffentlichkeit geprägt, auch wenn sich die Mehrheit mit Europa identifiziert.[41] Europaskeptische Stimmen werden je nach Thema von Mitgliedern der Linkspartei und der AfD artikuliert. Das Bundesverfassungsgericht wurde wiederholt in EU-Fragen angerufen. Seine Urteile bildeten die Rechtsgrundlage für die Einführung des Euro, die Ausweitung der Rechte von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten und die Verfassungsmäßigkeit der Euro-Rettungsschirme, setzten aber auch dem Supranationalismus Grenzen.

8. Von der Bonner zur Berliner Republik

Im Rückblick hat sich für die Republik und ihre Bürgerinnen und Bürger mehr verändert, als man vor mehr als drei Jahrzehnten hätte vorhersagen können. Die vergangenen Jahrzehnte waren eine Zeit des Übergangs, die gerade dann einsetzte, als die Menschen sich in der alten Bundesrepublik zurechtgefunden hatten. Die Vereinigung kam außerordentlich schnell und veränderte nahezu alle Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die Deutschland als Ganzes betrafen, wurden im Vergleich dazu eher zögerlich durchgesetzt, doch ihre langfristigen Auswirkungen waren erheblich. Wiedervereinigung, Europäisierung und Globalisierung wirkten überlappend und zum Teil konkurrierend und erforderten neue Problemlösungs- und Verhaltensweisen.[42] Das internationale Ansehen Deutschlands und die Reichweite seiner Außen- und Sicherheitspolitik sind allmählich und stetig gewachsen. Die Debatten über den Einigungsprozess, die Ursachen, die Reaktionen, die Auswirkungen politischer und wirtschaftlicher Reformen und die Rolle der Bundesrepublik auf der Weltbühne sind oft pointiert, weil der oder die Einzelne persönlich und unmittelbar betroffen ist.

Das Verschwinden der Bonner Republik (1949-1990) und das allmähliche Entstehen der neuen Berliner Republik war kein abrupter Prozess, sondern eine evolutionäre Anpassung an neue nationale und internationale Bedingungen entlang eines Kontinuums. Der Begriff „Berliner Republik“ entstand im Zusammenhang mit der Hauptstadtdebatte und drückte zunächst die Befürchtung aus, dass die Verlegung des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin auch eine Abkehr von der postnationalistischen Ausrichtung der „geglückten Demokratie“ der „alten“ Bundesrepublik bedeuten könnte.[43] Im Vergleich zur Bonner Republik ist die Berliner Republik vielfältiger in der Bevölkerung, weniger patriarchalisch und egalitärer in den Geschlechterverhältnissen und neoliberaler in der Wirtschaft, auch wenn Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft nach wie vor stark vertreten sind. Eine starke Zivilgesellschaft, die in den letzten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland entstanden ist, hat sich etabliert. Die Berliner Republik hat mit der Bonner Republik das klare Bekenntnis zur Demokratie gemeinsam. Die Normalisierung des internationalen Status der Bundesrepublik ist weit vorangeschritten, und das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Staat ist von einem neuen Nationalbewusstsein geprägt, das Kritik und Stolz, Heimatliebe und internationale Offenheit in sich vereint. Jedoch konnten sich gerade wegen der erfolgreichen Umgestaltung kultureller Normen nationalistische Rhetorik, die Betonung traditioneller Geschlechterrollenmodelle und einwanderungsfeindliche Einstellungen bei einigen Gruppen wieder durchsetzen.

Im September 2021 veröffentlichte das britische Nachrichtenmagazin The Economist die siebte Sonderausgabe zu Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre. Ihre Titel erlauben einen Blick auf zentrale Themen der letzten Jahrzehnte: „Divided Still“ (1996), „An Uncertain Giant“ (2002), „Waiting for a Wunder“ (2006), „Older and Wiser“ (2010), „Reluctant Hegemon“ (2013), „The New Germans“ (2018), und „After Angela“ (2021). Deutschland sei heute, so die Herausgeber 2018, sowohl offener als auch fragmentierter. Der zentristische Konsens, der von der großen Mehrheit der Eliten und der Öffentlichkeit geteilt wird, sowie die Anpassungsfähigkeit der Politik könnten jedoch ein gutes Zeichen für die Bewältigung künftiger Herausforderungen sein.[44]

Der Titel „After Angela“ verweist auf ihre lange Zeit an der Spitze und ihr Wirken für die Bundesrepublik, aber auch auf die vielfältigen Herausforderungen, die vor ihr liegen. Als die neue Regierung im Dezember 2021 ihre Arbeit aufnahm, stellten die Koalitionspartner SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP die Modernisierung des Landes in den Mittelpunkt. Doch innerhalb von drei Monaten änderte sich die nationale und internationale Lage dramatisch, als russische Truppen in die Ukraine einmarschierten. Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete umgehend eine „Zeitenwende“ in der Außen- und Sicherheitspolitik und heizte damit die anhaltende Debatte über die internationale Rolle Deutschlands und die unzureichende Finanzierung der Bundeswehr neu an. Von Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch, dass die engen Beziehungen Deutschlands zu Russland auf den Prüfstand kamen. Im Vordergrund stand dabei das Pipelineprojekt Nord Stream II, das die ohnehin schon hohe Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland weiter erhöht hätte. Millionen von ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern flohen aus ihrer Heimat und stellten einmal mehr die Fähigkeit Europas und Deutschlands auf die Probe, eine große Zahl von Migranten aufzunehmen und zu integrieren. Der Krieg in der Ukraine und die Wirtschaftssanktionen gegen Russland erzwangen eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Energiepolitik. Die Energiekosten für die Verbraucher stiegen sprunghaft an, und Deutschland musste neue Energiequellen erschließen, um den Verlust des billigen russischen Gases zur Versorgung seiner energieintensiven Industrien zu kompensieren. Interne Koalitionsstreitigkeiten erschwerten die Verhandlungen über diese Themen.

Autoritäre Regime sind weltweit auf dem Vormarsch, und Polarisierung und Zersplitterung der politischen Landschaft sind zu einem Markenzeichen vieler demokratischer Regime geworden. Die sozialen und politischen Spaltungen haben sich vertieft. Die Militärbudgets steigen inmitten neuer Konflikte und des internationalen Wettbewerbs um Einfluss; Handelskonflikte sind häufiger geworden. Das nationale und internationale Machtgefüge ist im Wandel begriffen. In diesen Zeiten des Übergangs und trotz politischer, wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen geht es Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern weiterhin gut. Die Art und Weise, wie die politische Führung auf die wichtigen Veränderungen im nationalen und internationalen Umfeld reagiert, ist nicht nur für die künftige Generation der Deutschen von Bedeutung, sondern wird auch die Zukunft Europas beeinflussen.

Helga A. Welsh und Konrad H. Jarausch

Anmerkungen

[1] Dieser Text wurde ursprünglich im Frühjahr 2018 fertiggestellt. Sechs Jahre später haben wir ihn aktualisiert, um dem Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel und den politischen Auswirkungen des Einmarsches Russlands in der Ukraine Rechnung zu tragen. Die Aktualisierungen umfassen ebenfalls einige zusätzliche Dokumente und Bilder. Sie bieten keine umfassende Analyse der Jahre seit 2018, dennoch hoffen wir, dass sie für das Verständnis der wichtigsten Entwicklungen seither hilfreich sind.
[2] Klaus-Dietmar Henke, Die Mauer: Errichtung, Überwindung, Erinnerung (München, 2011); Mary Elise Sarotte, The Collapse. The Accidental Opening of the Berlin Wall (New York, 2014).
[3] Konrad H. Jarausch, Die unverhoffte Einheit 1989-1990 (Frankfurt am Main, 1995) und The Rush to German Unity (New York, 1994); Wolfgang Jäger, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90 (Stuttgart, 1998); Charles S. Maier, Dissolution:The Crisis of Communism and the End of East Germany (Princeton, NJ, 1997); Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, Hrsg., Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (München, 1998).
[4] Philip Zelikow und Condoleezza Rice, Germany United and Europe Transformed: A Study in Statecraft (Cambridge, MA, 1995); Werner Weidenfeld mit Peter M. Wagner und Elke Bruck, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90 (Stuttgart, 1998); Frédéric Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War, and German Unification (New York, NY, 2005); Mary Elise Sarotte, 1989: The Struggle to Create Post-Cold War Europe (Princeton, NJ, 2009).
[5] Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte. Mit einer Einführung von Dirk Koch und Klaus Wirtgen, Hrsg. (Stuttgart, 1991); Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung (Berlin, 1991); Claus J. Duisberg, Das deutsche Jahr. Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/90 (Berlin, 2005).
[6] Stellvertretend für die reichhaltige Literatur zu diesem Thema seien hier genannt: Gerhard Lehmbruch, „Die deutsche Vereinigung: Strukturen und Strategien“ Politische Vierteljahresschrift 32 (1991), S. 585-604; Roland Czada, „Schleichweg in die 'Dritte Republik'. Politik der Vereinigung und politischer Wandel in Deutschland“, Politische Vierteljahresschrift 35, 2 (1994), S. 245-70; Wade Jacoby, Imitation and Politics: Redesigning Modern Germany (Ithaca, NY, und London, 2000); Helga A. Welsh, „Policy Transfer in the Unified Germany: From Imitation to Feedback Loops“, German Studies Review, 33, 3 (2010): 531-38.
[7] Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates (München, 2006).
[8] Jürgen Kocka, Die Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart (Göttingen, 1995).
[9] Siehe z.B. den Vergleich der gegensätzlichen Positionen in Raj Kollmorgen, Ostdeutschland. Beobachtungen einer Übergangs- und Teilgesellschaft (Wiesbaden, 2005); Hannes Bahrmann und Christoph Links, Hrsg., Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit - Eine Zwischenbilanz (Berlin, 2005); Raj Kollmorgen, Frank Thomas Koch und Hans-Liudger Dienel, Hrsg., Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen (Wiesbaden, 2011); Konrad H. Jarausch, ed., United Germany. Debating Processes and Prospects (New York und Oxford, 2013).
[10] Jährliche Aktualisierungen zum Stand der Wiedervereinigung finden Sie im Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit (Hrsg. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie) und in der halbjährlichen Publikation Datenreport. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland (Hrsg. Statistisches Bundesamt und Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Sozio-oekonomischen Panel am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung). Die Publikationen sind online verfügbar.
[11] Ruth Wittlinger, Gernan Nationale Identität im einundzwanzigsten Jahrhundert. A Different Republic After All? (Basingstoke: Palgrave Macmillian, 2010); Christian Wicke, Helmut Kohl's Quest for Normality: His Representation of the German Nation and Himself (New York, 2015).
[12] Christoph Kleßmann et al. (Hrsg.), Deutsche Vergangenheiten - eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte (Berlin, 1999); Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland: Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Politik und Justiz (Hamburg, 2007).
[13] Siehe z.B. Etienne François und Hagen Schulze, Hrsg., Deutsche Erinnerungsorte (München, 2001); Paul Betts, „Germany, International Justice and the Twentieth Century“, History and Memory, 17, 1-2 (2005): 45-86; Torben Fischer und Matthias N. Lorenz, Hrsg., Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland: Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (Bielefeld, 2015); Jenny Wüstenberg, Civil Society and Memory in Postwar Germany (Cambridge, UK, 2017); Richard J. Evans, „From Nazism to Never Again: How Germany Came to Term with Its Past“, Foreign Affairs, 97, 1 (Jan./Feb. 2018): 8-15.
[14] Es überrascht nicht, dass die Literatur zu diesen Themen immens ist. Hier einige Beispiele: Martin Sabrow und Irmgard Zündorf, Hrsg., Wohin treibt die DDR Erinnerung? Der Streit um eine Debatte (Göttingen, 2007); Andrew Beattie, Playing Politics with History: The Bundestag Inquiries into East Germany (New York, 2008);
[15] Steve Cranshaw, Easier Fatherland. Germany and the Twenty-First Century (London und New York, 2004); Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation (Wiesbaden, 2005). Konrad H. Jarausch, Nach Hitler: Recivilizing Germans, 1945-1995 (Oxford, UK, 2006).
[16] Siehe z. B. Patricia Anne Simpson und Helga Druxes, Hrsg., Plural of Pegida: New Right Populism and the Rhetoric of the Refugee Crisis. Sonderausgabe von German Politics and Society (Winter, 2016).
[17] Neue Formen der Identität werden zum Beispiel diskutiert in Patricia Mazón und Reinhild Steingröver (Hrsg.), Not so Plain as Black and White: Afro-German Culture and History 1890-2000 (Rochester, NY, 2005) und Esra Özyürek, Being German, Becoming Muslim. Race, Religion, and Conversion in the New Europe (Princeton, NJ und Oxford, 2015).
[18] Triadafilos Triadafilopolos, Becoming Multicultural: Immigration and the Politics of Membership in Canada and Germany (Vancouver, 2012).
[19] Isabelle Hertner et al. (Hrsg.), The Importance of Being German: Narratives and Identities in the Berlin Republic (Sonderausgabe von German Politics and Societies, Frühjahr/Sommer 2015);
[20] Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland: Eine Bestandsaufnahme (München, 2016).
[21] Douglas B. Klusmeyer und Demetrios G. Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany (New York, 2009); Richard Alba und Nancy Foner, Strangers No More: Immigration and the Challenges of Immigration in North America and Western Europe (Princeton, NJ, 2015).
[22] Joyce Marie Mushaben, The Changing Faces of Citizenship. Integration and Mobilization among Ethnic Minorities in Germany (New York, 2008); Herfried Münkler und Mariana Münkler, Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft (Berlin, 2016); Cornelia Wilhelm, Hrsg., Migration, Memory, and Diversity: Germany from 1945 to the Present (New York und Oxford, 2017).
[23] Myra Marx Ferree, Varieties of Feminism. German Gender Politics in Global Perspective (Stanford, CA, 2012); Louise Davidson-Schmich, Gender Quotas and Democratic Participation: Recruiting Candidates for Elective Office in Germany (Ann Arbor, 2016).
[24] Helga A. Welsh, “German Policymaking and the Reform Gridlock”, in David P. Conradt u.a., Hrsg., Precarious Victory. The 2002 German Federal Election and its Aftermath (New York und Oxford, 2005), S. 205-19; und Hans Vorländer, Hrsg., Politische Reform in der Demokratie (Baden-Baden, 2005); Simon Green und William E. Paterson, Hrsg., Governance in Contemporary Germany: The Semisovereign State Revisited (Cambridge, UK, 2005).
[25] Klaus F. Zimmermann, Hrsg., Deutschland was nun? Reformen für Wirtschaft und Gesellschaft (München, 2006); Peter Bofinger, Wir sind besser als wir glauben. Wohlstand für alle (Reinbek bei Hamburg, 2006);
[26] Hans-Peter Schwarz, Republik ohne Kompaß. Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik (Berlin, 2005); Helga Haftendorn, Coming of Age: German Foreign Policy since 1945 (Lanham, MD, 2006).
[27] Christoph Egle und Reimut Zohlnhöfer, Hrsg., Die zweite Große Koalition: Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005-2009 (Wiesbaden, 2010); Reimut Zohlnhöfer und Thomas Saalfeld, Hrsg., Politik im Schatten der Krise: Eine Bilanz der Regierung Merkel, 2009-2013 (Wiesbaden, 2013).
[28] Stefan Kornelius, Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Welt (Hamburg, 2013); George Packer, “The Quiet German: The Astonishing Rise of Angela Merkel, the Most Powerful Women in the World”, The New Yorker, December 1, 2014; Joyce Marie Mushaben, Becoming Madam Chancellor. Angela Merkel and the Berlin Republic (Cambridge, UK, 2017).
[29] Dolores L. Augustine, Taking on Technocracy. Nuclear Power in Germany, 1945 to the Present (New York und Oxford, 2018)
[30] Stephen J. Silvia, Holding the Shop Together: German Industrial Relations in the Postwar Era (Ithaca, NY, 2013). Christian Dustmann et al., “From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany Resurgent Economy,” Journal of Economic Perspectives, 28, 1 (2014): 167-88.
[31] Siehe z. B. die Beiträge in Matthias Matthijs und Mark Blyth (Hrsg.), The Future of the Euro (Oxford, UK, 2015).
[32] Konrad H. Jarausch, “Das vereinte Deutschland, 1990-2023“, in Ulf Dirlmeier et al., Deutsche Geschichte (Stuttgart, 2024).
[33] William Glenn Gray, Trading Power: West Germany’s Rise to Global Influence, 1963-1975 (Cambridge, 2023).
[34] Sebastian Harnisch und Hanns W. Maull, Hrsg., Germany as a Civilian Power? The Foreign Policy of the Berlin Republic (Manchester, UK, 2001); Beverly Crawford, Power and German Policy. Embedded Hegemony in Europe (Basingstroke, 2007); Thomas Kleine-Brockhoff und Hanns W. Maull, „Der überforderte Hegemon. Ziele und Grenzen deutscher Macht“, Internationale Politik, 6 (2011): 50-61; Lily Gardner Feldman, Germany's Foreign Policy of Reconciliation: From Enmity to Amity (Lanham, 2012); Stefan Bierling, Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart (München, 2014); Hans Kundnani, The Paradox of German Power (Oxford, 2015).
[35] Michael Paul, Die Bundeswehr im Auslandseinsatz. Vom humanitären Impetus zur Aufstandsbekämpfung (Berlin, 2010).
[36] Mary Nolan, Das transatlantische Jahrhundert: Europe and America,1890-2010 (Cambridge, UK, 2012). Konrad H. Jarausch et al. , eds., Different Germans, Many Germanies: New Transatlantic Perspectives (New York und Oxford, 2018).
[37] Peter Rudolf, Das „neue“ Amerika: Außenpolitik unter Barack Obama (Frankfurt/M., 2010).
[38] Konrad H. Jarausch, „Der Trump-Schock“, Zeitgeschichte-online, Februar 2017. Vgl. Volker Benkert, Hrsg., Feinde, Freunde, Fremde? Deutsche Perspektiven auf die USA (Baden-Baden, 2018).
[39] Liesbet Hooghe und Gary Marks, “A Post-Functionalist Theory of Integration: From Permissive Consensus to Constraining Dissensus”, British Journal of Political Science, 39, 1 (2009): 1-23.
[40] Siehe z. B. Jürgen Habermas, The Crisis of the European Union. A Response (Cambridge, UK, 2012); deutsche Ausgabe: Zur Verfassung Europas. Ein Essay (Berlin, 2011); Claus Offe, Europe Entrapped (Cambridge, UK, 2015); Loukas Tsoukalis, In Defense of Europe: Can the European Project Be Saved? (Oxford, UK, 2016); Ivan Krastev, After Europe (Philadelphia, 2017).
[41] Kenneth Dyson und Klaus H. Goetz, Hrsg., Germany, Europe and the Politics of Constraint (Oxford, UK, 2003); Sonderausgabe der Zeitschrift German Politics (Bd. 14, Nr. 3; September 2005), From Model Deutschland to Model Europa: Europe in Germany and Germany in Europe); Gisela Müller-Brandeck-Bouquet et al: Von Adenauer bis Merkel (Stuttgart, 2010); Ulrich Beck, German Europe (Cambridge, UK,2013); Sebastian Harnisch und Joachim Schild, Hrsg., Deutsche Außenpolitik und internationale Führung: Ressourcen und Praktiken und Politiken in einer veränderten Europäischen Union (Baden-Baden, 2014); Herfried Münkler, Macht in der Mitte: Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa (Hamburg, 2015); Katrin Böttger und Mathias Jopp, Hrsg., Handbuch zur deutschen Europapolitik (Baden-Baden, 2016).
[42] Christiane Lemke und Helga A. Welsh, Germany Today. Politics and Policies in a Changing World (Lanham, 2018)
[43] Der Begriff der „geglückten Demokratie ist entnommen aus Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart (Stuttgart, 2006).
[44] „Die neuen Deutschen“, Special report Germany, The Economist, 14. April 2018; “After Angela”, Special report Germany, The Economist, 25. September 2021.