Einleitung

  • S. Jonathan Wiesen
  • Pamela Swett

Dieser Band über das nationalsozialistische Deutschland bietet Studierenden, Lehrenden und anderen Forschenden eine Vielzahl von Primärquellen. Da wir uns mit einem Zeitraum beschäftigen, der ausgiebig dokumentiert ist, waren wir als Editoren in der Lage, eine Fülle von Materialien zusammenzustellen, welche für den Gebrauch im Unterricht, für selbständige oder angeleitete Quellenrecherche, sowie für die Beschäftigung aus allgemeinem Interesse geeignet sind. Die ausgewählten Themen – von der Außenpolitik über Konsumkultur bis zur Rassenpolitik – erlauben den Zugang zu einer Vielfalt von Erfahrungen und Entwicklungen, die zu oft auf einen singulären Fokus auf Hitler und seine Politik des Völkermords reduziert werden. Lehrende, Studierende und andere Benutzer/innen können so Bilder, Dokumente, Videos und Tonaufnahmen entdecken, welche Diskussionen anregen: über die Machtstrukturen im Dritten Reich, die Beziehungen Nazi-Deutschlands zu anderen Ländern sowie über die Erfahrungen und das Verhalten der Deutschen aus allen Schichten – Frauen und Männer, Industriearbeiter, Bauern, Konsumenten aus der Mittelschicht, Architekten der Rassengesetzgebung, und diejenigen (wie Juden, Linke, sexuelle und geschlechtliche Minderheiten, Roma, körperlich und geistig Behinderte sowie „Asoziale“), die das Regime für unwillkommen und eine Bedrohung für die sogenannte „Volksgemeinschaft“ erklärte. Die ausgewählten Quellen und begleitenden Einführungstexte werden die Benutzer/innen hoffentlich dazu inspirieren, weitere historische Materialien zu erforschen, sei es im Internet oder in Bibliotheken und Archiven.

1. Das nationalsozialistische Deutschland als Unterrichtsthema

Die Anzahl der Publikationen zum Nationalsozialismus ist enorm. Unser editorisches Ziel war es daher, sowohl einige bekannte als auch neue Materialien wiederzugeben, die einen grundsätzlichen Überblick über diesen Zeitraum von 12 Jahren geben und gleichzeitig neue und provokative Denkanstöße geben. Vor diesem Hintergrund mussten wir mit dem enormen wissenschaftlichen und öffentlichen Interesse am Nationalsozialismus ringen, was die Auswahl einer begrenzten Zahl von Quellen erschwerte. Die NS-Zeit gehört zu den am meisten dokumentierten der Geschichte: eine Schnellsuche nach dem Stichwort „Hitler“ im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek ergibt mehr als 16.000 Suchergebnisse; im Katalog der U.S. Kongressbibliothek ergeben die Suchbegriffe „Nazi“ und „National Socialism“ jeweils ungefähr 9.000 Titel. Dies ist eine astronomisch hohe Zahl von Publikationen, selbst wenn man einige Überschneidungen einrechnet. Zudem hat das öffentliche und akademische Interesse an dieser Ära, welches zunächst während des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem Höhepunkt war und dann in den 1950er und 1960er Jahren etwas abnahm, in den letzten Jahrzehnten wieder zugenommen. Solche Trends lassen sich mithilfe des Google Ngram Viewers (https://books.google.com/ngrams) sehr gut nachvollziehen, welcher es Benutzer/innen ermöglicht, das Vorkommen bestimmter Schlüsselbegriffe in Buchpublikationen über lange Zeiträume hinweg nachzuverfolgen. Hieraus ist zu lernen, dass es seit den späten 1970ern einen bemerkenswerten Zuwachs an Büchern gab, deren Titel „Nazi“ enthalten und seit den 1990ern von Publikationen, deren Titel „Hitler“ enthalten.

Wie sollen Wissenschaftler/innen und Studierende nun mit dieser fast obsessiven Beschäftigung mit dem Dritten Reich umgehen, z.B. der weit verbreiteten scherzhaften Bezeichnung des History Channel als „Hitler Channel“ oder der Entstehung des Begriffs „Godwin’s Law“? Die letztere „Regel“ besagt, je länger eine Diskussions-Thread im Internet andauert (und dies kann auf andere Foren und öffentliche Debatten übertragen werden), desto wahrscheinlicher wird es, dass jemand Hitler erwähnt – um eine andere Person anzugreifen oder eine Diskussion zu ersticken oder aber als Versuch, historische Parallelen herzustellen, welche vermutlich den Einzelnen sowie Entscheidungsträger von unklugen Entscheidungen abhalten sollen.

Neben dieser Herausforderung besteht außerdem eine teils akademische, teils öffentliche Debatte darüber, ob die Jahre des Nationalsozialismus einen überproportionalen Platz in der deutschen Geschichte und der neueren Geschichte allgemein einnehmen.[1] Schließlich deckt dieser Band den kürzesten Zeitraum von allen auf der German History in Documents and Images (GHDI) Webseite ab. Die zwölf Jahre des Dritten Reiches stehen so einigen Bänden zu früheren Epochen gegenüber, welche jeweils ungefähr 150 Jahre umfassen. Der Band zur Weimarer Republik ist ebenfalls relativ kurz – er deckt 14 Jahre ab – und während dieser Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg ausführlich in der Forschung behandelt worden ist, ist er doch nicht annähernd so gut erforscht wie die Zeit des Nationalsozialismus. Das Infragestellen der Allgegenwärtigkeit der Geschichte des Nationalsozialismus kann eine wichtige Übung für Wissenschaftler/innen darstellen, welche Studierende dazu ermutigen wollen, ausgewogene Forschungsschwerpunkte zu entwickeln, Kontinuitäten in der Geschichte aufzudecken und eine langfristige Denkweise zu entwickeln, die weder die Zeitgeschichte noch die Geschichte der Menschheitsverbrechen privilegiert. Doch kann dies auch als ein kontroverser politischer gemeinsamer Nenner dienen: so zum Beispiel während der deutschen Bundestagswahlkampagne 2017, als rechtsextreme Kandidaten von einer fast masochistischen Besessenheit von den 12 Jahren des Nationalsozialismus sprachen und damit sowohl implizit als auch explizit die Deutschen aufforderten, das Dritte Reich und seine Opfer weniger in Unterricht und Gedenkveranstaltungen zu thematisieren.

Studierende und Lehrende sollten diese Diskussionen kennen, denn sie eröffnen wichtige Fragen hinsichtlich der auf dieser Webseite präsentierten Quellen. Welche Fragestellungen werfen Adolf Hitler, der NS-Polizeistaat, sowie das Leben der Menschen im nationalsozialistischen Deutschland heute für Studierende, Wissenschaftler/innen und die Öffentlichkeit auf? Was verraten diese Dokumente über politische Entscheidungen, die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und historische Kausalitäten in einer Zeit, die bis heute als Paradigma für Staatsterror und Völkermord gilt? Was ist einzigartig am nationalsozialistischen Deutschland, und welche Aspekte des Dritten Reichs spiegeln langfristigere, globale Entwicklungen wider? Vor dem Hintergrund dieser Fragen haben wir als Editoren versucht, die Geschehnisse der Jahre 1933-1945 wenn möglich in einen breiteren Kontext einzuordnen – indem wir Bezüge zu früheren Epochen der deutschen Geschichte herstellen und eine kritische Betrachtung der Bedeutung der NS-Jahre in unseren Quelleneinführungen anbieten. Ganz offensichtlich stehen wir auf dem Standpunkt, dass die NS-Zeit gebündelte Aufmerksamkeit verdient – dass sie zeitgemäße Fragen zu Ideologie, Konformität, Willensfreiheit und Modernität aufwirft – welche nicht nur wesentlich für das Studium der Geschichte sind, sondern auch entscheidend für das Verständnis der heutigen Welt.

2. Benutzung der Quellen

Als das DHI Washington die Erweiterung und Modernisierung seiner GHDI-Webseite ankündigte, erlebten wir Editoren begeisterte Reaktionen. Einige Studierende und Fachkollegen/innen freuten sich besonders über die Erweiterung der Seite um zusätzliches Quellenmaterial, das zeitgenössische Diskussionen über den Nationalsozialismus abbildet. Andere wiederum begrüßten die verbesserten Möglichkeiten für Studierende, sich wissenschaftlich im Feld der digitalen Geisteswissenschaften zu betätigen. Dabei ist uns bewusst, dass einige Nutzer/innen der Seite bereits über ein hohes Maß an digitaler Kompetenz verfügen, während andere eher über weniger Erfahrungen in der Benutzung von online-Primärquellensammlungen verfügen. Insofern möchten wir die Nutzer/innen ermuntern, sich den Quellen auf flexible Weise zu nähern, sei es, indem sie gezielt einzelne Quellen anklicken und damit arbeiten oder aber indem sie die gesamte Seite betrachten. Einige Studierende werden die Quellen nutzen wollen, um Ideen und Schlüsselbegriffe in Diagrammen und Zeitleisten zu verorten; andere wiederum werden zunächst einmal lernen, Quellen kritisch zu lesen und zu interpretieren. Es handelt sich bei dieser Webseite nicht um ein digitales Archiv, und Studierende werden sicherlich nicht nur diese Auswahl für ihre Arbeit heranziehen, sondern auch eine Vielzahl anderer im Netz verfügbarer Primärquellen wie Zeitungsarchive und andere Sammlungen zur NS-Propaganda oder dem Holocaust. Vor diesem Hintergrund haben wir versucht, einen repräsentativen Querschnitt an Quellen aus der NS-Zeit zusammenzustellen. Selbstverständlich birgt diese Strategie ihre eigenen Probleme. Zum Beispiel: was gilt als „repräsentativ“? Die Erfahrungen eines jüdischen Menschen, der gerade seines oder ihres Lebensunterhalts beraubt wurde unterscheiden sich erheblich von denen eines „arischen“ Deutschen, der oder die Ende der 1930er Jahren verstärkt in den Genuss von Konsumgütern kommt. Zudem hatte jede/r jüdische oder nicht jüdische Deutsche zu dieser Zeit unterschiedliche Interaktionen mit dem Regime, ein verschiedenes Maß an Optimismus oder Pessimismus über den weiteren Verlauf der Politik, sowie unterschiedliche finanzielle Ressourcen zur Verfügung.

Wir haben uns bemüht, möglichst viele Perspektiven wiederzugeben, doch werden stets Lücken bestehen bleiben, insbesondere dort, wo Lernende und Lehrende nach Quellen suchen, die ganz bestimmte Themen behandeln. Diejenigen, die sich für militärische Strategie während des Zweiten Weltkriegs interessieren, werden beispielsweise feststellen, dass diese Quellensammlung sich weniger auf Schlachtfeldtaktiken konzentriert als auf die Erfahrungen der Soldaten an der Ostfront oder in Afrika, welche mit der Brutalität der Kriegführung konfrontiert oder an ethnischen Säuberungen beteiligt waren. Wir möchten die Nutzer/innen dazu anregen, eine Text-, Bild-, Ton- oder Videoquelle auszuwählen, die ihr Interesse weckt und deren Verbindungen sowohl zu anderen Quellen innerhalb der Webseite als auch darüber hinaus nachzuverfolgen. Begegnet man beispielsweise zuversichtlichen Einschätzungen von Anfang Februar 1933, die davon ausgehen, dass Hitlers Amtszeit als Reichskanzler nur von kurzer Dauer sein wird – gleich seinen Vorgängern – so könnte man anschließend im Archiv der Chicago Tribune oder der London Times recherchieren, um zu lesen, was ausländische Journalisten Anfang 1933 voraussagten. Existierten außerhalb Deutschlands die gleichen Fehleinschätzungen, dass Hitler durch gemäßigtere Politiker gezügelt werden könne? Wir haben oft festgestellt, dass Studierende von Zeitungsüberschriften, welche zeitgenössische Ereignisse ankündigen, fasziniert sind, sei es eine Zeitungskolumne über die Olympischen Spiele in Berlin 1936 oder ein New York Times-Artikel vom 10. November 1938, dem Tag nach der Pogromnacht, der berichtete, dass „am frühen Morgen gewaltsame anti-jüdische Demonstrationen überall in Berlin ausgebrochen waren“.[2]

Insofern hoffen wir, dass diese Quellen Studierenden nicht nur „Daten“ liefern, sondern auch Begeisterung für eigene Forschung wecken sowie für das Nachempfinden der gelebten Geschichte. Wir möchten die Nutzer/innen dazu anregen, Tendenzen in den Quellen zu diskutieren, darüber nachzudenken, wie wir Editoren bestimmten Arten von Dokumenten und Bildern den Vorzug vor anderen gegeben haben (ist beispielsweise das Thema Propaganda überrepräsentiert? Gibt es zu wenig Material über die Erfahrungen nicht deutscher Menschen während der Besatzung?) und zu fragen, ob eine spezifische Quelle allgemeingültige Vorstellungen zu einem bestimmten Thema unterstützt oder in Frage stellt. Wir möchten die Besucher/innen der Seite ebenfalls dazu einladen, darüber nachzudenken, wie die verschiedenen Quellentypen am besten genutzt werden können. Wie können wir es vermeiden, Bilder lediglich als Illustrationen zu verstehen und sie stattdessen kritisch als eigenständige historische Quellen interpretieren?[3] Wie kann uns das Anhören zeitgenössischer populärer Musik dabei helfen, das Leben in NS-Deutschland zu verstehen?[4] Die Besucher einer Webseite wie dieser nähern sich ihr häufig in dem Glauben, bereits recht viel über den Nationalsozialismus zu wissen. Vielleicht vermögen wir es mit unserer Auswahl, einige traditionelle Vorstellungen in Zweifel zu ziehen oder neue Themen einzuführen.

Noch ein Wort zum Aufbau der Seite sowie eine Warnung. Zunächst einmal haben wir lediglich weitere Quellen zur exzellenten ersten Edition des GHDI-Bandes zum nationalsozialistischen Deutschland hinzugefügt, jedoch keine ersetzt. Insofern mögen unsere Leser/innen eine Vielzahl an Dokumenten oder Bildern vorfinden, welche entweder das spezielle Forschungsinteresse des ersten oder der aktuellen Editoren widerspiegelt wie z.B. das Bombenattentat auf Hitler von 1944 oder aber Propaganda und Konsumpolitik. Mit anderen Worten erfahren einige Themen schlichtweg mehr Aufmerksamkeit als andere, wie dies in jeder Quellensammlung der Fall ist. Zweitens sollten Lehrende, Studierende und allgemeine Leser/innen sich der Präsenz von Neonazi-Webseiten bewusst sein, wenn sie die GHDI-Seite verlassen und nach anderen online-Quellen suchen. Suchmaschinen sind heute sehr viel besser darin, Algorithmen zu entwickeln, die rechtsextreme Webseiten in den Suchergebnissen nach Begriffen wie „Nazi Germany“ oder „Nationalsozialismus“ erst weit unten erscheinen lassen. Und natürlich kann es im Interesse der Studierenden liegen, diese Seiten für ihre Forschung zum Neonazismus aufzurufen. Doch erfordert die weitverbreitete Beschlagnahmung der NS-Geschichte für tendenziöse und zuweilen verabscheuenswerte Zwecke, dass alle Nutzer/innen sich Webseiten zur NS-Zeit mit besonderer Vorsicht nähern sowie in dem Bewusstsein, dass nicht alle im Internet vorzufindenden Informationen gleichermaßen verlässlich sind.

3. Schlüsselthemen

Statt einer chronologischen Zusammenfassung des Dritten Reichs oder einer Vorschau auf die einzelnen Quellen, die bereits von Kurzeinführungen begleitet werden, besteht unser Ziel in diesem Teil der Einleitung darin, einige Themen herauszustellen, welche sich durch den Band ziehen und unseren Leser/innen produktive Denkanstöße zu geben. Als die erste Edition der GHDI Seite online ging, bot dieser Band eine Reihe von Perspektiven „von oben“ an. Das heißt, die Quellensammlung neigte dazu, die Bedeutung Hitlers und seiner politischen Entscheidungsträger zu betonen sowie den von ihnen errichteten Terrorapparat, offizielle Erlässe des Regimes und die Außenpolitik im Vorfeld sowie während des Zweiten Weltkriegs. Für das Studium einer Diktatur sind solche Perspektiven von grundlegender Bedeutung, und wir haben sie daher beibehalten. Gleichzeitig enthielt die Originalseite auch einige wenige – doch hervorragende – Tagebucheinträge und andere Reflektionen von Menschen, die das Dritte Reich „von unten“ erlebten, und wir haben uns bemüht, diesen Zugang „von unten“ in dieser Neuauflage stärker zu betonen. Einige Historiker/innen rangen mit der Frage, wie das Alltagsleben der Deutschen in ihre Untersuchung eines auf Einschüchterung aufgebauten Regimes einzubauen sei. Wie vereinbart man Einblicke in die alltägliche Existenz der meisten Deutschen – bei der Arbeit, dem Einkaufen, im Urlaub, und in ihr Familienleben – mit der Realität, dass es sich beim nationalsozialistischen Deutschland um ein außerordentlich stark in die Privatsphäre eingreifendes Regime handelte, das erhebliche Teile des öffentlichen und privaten Lebens regulierte?[5] Während der Planung dieser Neuausgabe haben wir daher zunächst mit dem Gedanken gespielt, ein separates Kapitel mit dem Titel „Alltagsleben“ hinzuzufügen. Doch stießen wir dabei bald auf das Problem, dass ein solches, isoliertes Kapitel beliebig erscheinen muss. Denn jedes einzelne Kapitel – zur Rassenpolitik, Polizeikontrolle, zu Widerstand und Rettung oder dem Holocaust – sollte auch die gelebten Erfahrungen der Deutschen und anderer Europäer unter einer Diktatur herausstellen. Deshalb haben wir innerhalb jedes Kapitels die Anzahl der Quellen von und über „normale“ Deutsche erhöht. Wir möchten Studierende und Lehrende allerdings zur Diskussion über diese Herausforderungen ermuntern. Bedeutet „Alltagsleben“ gleichzeitig „normales Leben“? Was galt als „normal“ in jenen Jahren – oder in jeder beliebigen politischen Situation – und ist es überhaupt möglich, allgemeine Aussagen zu treffen, wenn zahlreiche Deutsche in den 1930er und 40er Jahren aus ideologischen Gründen aus der Gesellschaft, der Politik, dem Militär und der Wirtschaft ausgeschlossen waren? Verschiebt die Konzentration auf das Alltagsleben die Aufmerksamkeit zu stark weg von dem staatlichen Verfolgungsapparat? Wie lebten Menschen mit dem, was ein Historiker als ein „gespaltenes Bewusstsein“ bezeichnet hat, welches es den Deutschen ermöglichte, ein brutales Regime zu unterstützen oder zumindest zu tolerieren und gleichzeitig weiter ihre täglichen (oft fröhlichen) Rituale auszuüben, als ob die Verbrechen des Regimes nicht existierten?[6]

Ein weiteres Thema, das sich durch die ausgewählten Quellen zieht, ist der Rassismus, und auch dieses Thema spiegelt eine größere Debatte im Feld der deutschen Geschichtswissenschaft wider. Inwieweit war Deutschland ein „Rassenstaat“, um mit dem Titel eines wichtigen Buches in diesem Feld zu sprechen?[7] Mit anderen Worten, in welchem Ausmaß bestimmte die Besessenheit Hitlers und anderer hochrangiger Nazis mit den Juden und anderen „rassisch“ und biologisch „Minderwertigen“ deren Politik und definierte das Leben im Dritten Reich? Inwieweit bestimmten andere Erwägungen und Realitäten – wie der blanke Machtwille, die Fokussierung auf den wirtschaftlichen Aufschwung, und das Manifestieren verschiedener Formen nicht rassistischer Vorurteile (z.B. die Darstellung der Juden sowohl als wirtschaftliche Ausbeuter als auch als „rassisch“ Minderwertige) – die Jahre der NS-Herrschaft? Außerdem könnte man die Frage stellen, wie einzigartig das nationalsozialistische Deutschland in seiner Isolation und Verfolgung von Minderheiten war. Ohne den beispiellosen industrialisierten Mord an den Juden und anderen Bevölkerungsgruppen in Frage zu stellen, haben Historiker/innen auch Denkweisen und Formen der Rassentrennung in anderen rassistischen Regimes wie den Südstaaten der USA oder Südafrika untersucht. Man könnte also fragen, ob die Nazis einen „Rassenstaat“ par excellence errichtet haben – in dem das politische und gesellschaftliche Leben sich um den Antisemitismus und die biologische Volksgesundheit drehte – oder ob das nationalsozialistische Deutschland in seinen Zielen komplexer war und anderen Regimes stärker ähnelte als wir gern wahrhaben möchten?

Ein weiteres Thema, das die ausgewählten Quellen aufwerfen ist, dass Wissenschaftler/innen heute erneut fragen: wie modern war das Dritte Reich? Lange Zeit neigten Historiker/innen und die allgemeine Öffentlichkeit dazu, die NS-Bewegung als grundsätzlich rückwärtsgewandt zu sehen – forderte sie doch die Rückkehr zu einer glorreichen deutschen Vergangenheit, drängte Frauen in ihre traditionell beschränkte häusliche Sphäre zurück und beschränkte sich auf eine durch „Blut und Boden“ definierte Weltsicht. Es steht außer Zweifel, dass diese Beschreibung auf einige Realitäten der NS-Ideologie und des Lebens im Dritten Reich zutrifft. Als Beleg können zahllose Beispiele rückschrittlicher Geschlechterpolitik und eine Vielzahl an Klagen gegen den zersetzenden Einfluss moderner Kunst, Hollywood und anderer Formen „jüdischer Moderne“ angeführt werden; wir haben mehrere Quellen zu diesen Themen integriert. In der Tat war es Hitlers Ziel, den aus seiner Sicht verderblichen Einfluss „entarteter“ und offen „moderner“ Formern kultureller und gesellschaftlicher Ausdrucksformen in Deutschland auszulöschen und die Nation zu einer vermeintlich vormodernen Ära völkischer Reinheit zurückzuführen. Doch entfaltet sich heute ein komplizierteres Bild, nämlich das eines Führers und eines Regimes, welche moderne Formen der Propaganda und Medien für sich nutzten sowie das einer Bevölkerung, welche die Produkte der modernen Konsumkultur wie Kino, Radio, Musik und motorisiertes Reisen genoss. Ein Historiker hat die NS-Ideologie als „reaktionären Modernismus“ bezeichnet, worin sich die rückschrittlichen ideologischen Zielsetzungen des Regimes ebenso wie die modernen Mittel, die es zu deren Erreichen einsetzte spiegeln.[8] Andere wiederum betonen, dass „die Nazis“ nicht auf eine monolithische Gruppe mit einem einzigen Standpunkt zur Moderne oder jeglichem anderen gesellschaftlichen oder kulturellen Thema reduziert werden können. Unsere Quellen zu Film, Freizeit, Werbung, mechanisierter Kriegführung und Völkermord sollen Studierende dazu anregen, die Frage, wie modern Deutschland in den 1930ern und 40ern war, zu durchdenken. Warum ist diese Frage von Bedeutung? Bedeutet die „Modernität“ des Dritten Reichs, dass das Leben während der NS-Herrschaft vertraute Züge hatte, die wir zur damaligen Zeit leicht in anderen Ländern wiedererkannt hätten oder sogar heute wiedererkennen würden? Wenn die Nationalsozialisten „modern“ waren, was sagt dies dann über die Rolle aus, welche die Wissenschaften, die Medizin und die Medien bei der Wegbereitung der NS-Diktatur und ihrer Verbrechen spielten?

Das letzte Thema, das aus den ausgewählten Quellen hervorgeht, kann als die Debatte über „Zwang und Zustimmung“ bezeichnet werden. Viele Studierende, die beginnen, sich mit der NS-Zeit zu beschäftigen, haben die Vorstellung, dass der/die durchschnittliche Deutsche, der/die nicht als Außenseiter gebrandmarkt war, durch Gehirnwäsche zur Unterstützung der Pläne von Ideologen wie Hitler, Propagandaminister Goebbels und SS-Führer Heinrich Himmler bewegt wurde. Zudem existiert die hiermit verwandte Ansicht, dass die Deutschen ihre Fähigkeit zum Widerstand, zur Kritik an der Politik des Regimes oder zur Ausübung ihres freien Willens verloren hätten. Diese Theorie geht davon aus, dass die Deutschen, soweit sie nicht passive Opfer eines Propaganda-Blitzkriegs waren, doch zumindest gezwungen wurden, Hitlers brutale Ziele zu unterstützen. Es ist nicht überraschend, dass viele Studierende, Akademiker/innen und die allgemeine Öffentlichkeit einer Version dieser „Zwangstheorie“ Glauben schenken. Dieser aus älteren Totalitarismustheorien stammende Ansatz findet sich gewöhnlich in Dokumentationen des Privatfernsehens, die sich häufig auf Hitlers Weltsicht und die repressiven Aspekte des NS-Staates konzentrieren. Doch findet diese Sichtweise auch deswegen viele Anhänger, weil es gute Belege für einige ihrer Aspekte gibt. Das NS-Regime war ein brutaler Polizeistaat, der über einem Netzwerk von schließlich hunderten an Konzentrations- und Vernichtungslagern wachte. Es bedrohte Regimekritiker mit Gefängnisstrafen oder Exekution, und es militarisierte weite Bereiche der Gesellschaft. Und schließlich indoktrinierte es die deutsche Jugend mit rassistischem Gedankengut und forderte Nachbarn dazu auf, einander bei den Behörden zu denunzieren.[9]

Dennoch hat die Forschung gezeigt, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. Seit den Anfangstagen des Dritten Reichs bis weit in den Krieg hinein bestand breite Unterstützung für das Regime, und diese Unterstützung war nicht lediglich durch Zwang entstanden. Die hierzu ausgewählten Quellen werfen die Frage auf, wo der Zwang endet und die Zustimmung beginnt. Schwärmerische Briefe an Hitler bezeugen, dass der Führer während der NS-Zeit lange Zeit enorm populär war, sodass die Deutschen dem „Hitler-Mythos“ huldigten, demgemäß ihr Führer beinahe gottgleich in seiner Fähigkeit war, das Unrecht der Vergangenheit zu beheben und eine neue Ära nationaler Größe für ihr Land einzuleiten.[10] Ebenso bedurfte es der Arbeit von Millionen deutscher Staatsbürger, um nationalsozialistische Vorstellungen einer „reinrassigen“ Gesellschaft durchzusetzen. Selbstverständlich trug nicht jeder in gleichem Ausmaß Verantwortung, und jeder Einzelne handelte aus verschiedenen Motiven – sei es aus direkter Unterstützung des Regimes, aus Angst vor der Polizei oder der Gestapo oder aus einem Gefühl der Distanz von der übergeordneten Architektur der Rassenpolitik; in einem autoritären Regime „seine Arbeit zu machen“ bedeutet nicht notwendigerweise, sich mit dem System zu identifizieren. Im Gegensatz dazu gab es allerdings auch Menschen, die Widerstand gegen das NS-Regime leisteten, oft zu ihrem Schaden, und es gab sogar Soldaten, welche die Beteiligung am Völkermord verweigerten.[11] Einige von ihnen wurden für ihre Taten hingerichtet; anderen wurden schlicht andere Aufgaben zugeteilt. Fragen nach Zustimmung und Zwang, nach Widerstand und Mitschuld sind äußerst komplex. Wir hoffen, dass die hier präsentierte große Bandbreite an Reaktionen auf die Diktatur und ihre Verbrechen unsere Nutzer/innen dazu anregt, schwierige Fragen zu stellen wie: ist es realistisch, von den meisten Deutschen zu erwarten, mit dem gleichen Maß an Zivilcourage zu handeln wie die relativ kleine Zahl derer, die gegen den Staat aktiv wurden?

Tatsache ist, dass Hitler sowohl ein populärer Politiker war, der einem durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise zermürbten Volk einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung und territoriale Verbesserungen zu bieten hatte, als auch ein Politiker, der Angst, Konformität und Verzweiflung angesichts seiner kriegstollen Politik hervorrief. So konnte die Unterstützung des Nationalsozialismus einhergehen mit der Ablehnung bestimmter politischer Maßnahmen. Loyalität gegenüber dem Nationalsozialismus und dessen Kriegszielen konnte durchaus mit einer Verurteilung seines brutalen Rassismus gepaart sein. Nationalismus, Vertrauen in den Führer, die Sorge um Familienmitglieder und Freunde an der Front – es kann eine ganze Bandbreite an Emotionen und Verpflichtungen in einer Situation bestehen, in der staatliche Gewalt und die Angst vor Regelverstößen weit verbreitet sind. Die Quellen in diesem Band behandeln diese komplexen Zusammenhänge. Das Dritte Reich erfährt deswegen noch immer hohe Aufmerksamkeit, weil es uns zwingt, über das Wesen individueller Einwilligung, die Staatsmacht, die Fähigkeit von Demagogen, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, sowie über die Gefahren dessen, einem raschen gesellschaftlichen und politischen Wandel unkritisch zuzusehen, nachzudenken.

Die Deutschen konnten die Zukunft nicht vorhersehen. Wir verfügen heute über das rückblickende Wissen, dass das Dritte Reich mit ausgebombten Städten, Straßen voller Flüchtlinge und mehreren Zehnmillionen toter Soldaten und Zivilisten endete. Es ist wichtig, Sensibilität für die Stimmen derjenigen zu bewahren, die derzeit schlicht versuchten, ihr Leben zu leben ohne sich selbst und ihre Familien in Gefahr zu bringen. Gleichzeitig müssen wir die Konsequenzen von Apathie, Gleichgültigkeit und Angst benennen, ebenso wie die Tatsache, dass zahlreiche Deutsche nicht nur um die im Dritten Reich allgegenwärtige Brutalität wussten, sondern diese auch guthießen und dazu beitrugen, wie auf verschiedene Weise in den hier präsentierten Quellen deutlich wird.

S. Jonathan Wiesen und Pamela Swett

Anmerkungen

[1] Vgl. „Forum: German History beyond National Socialism“, German History 29, no. 3 (2011): 470–84; and S. Jonathan Wiesen and Geoff Eley, „Beyond National Socialism?“, German Studies Review 35: 3 (October 2012): 474–79.
[2] „Berlin Raids respond to Death of Envoy“, New York Times, November 10, 1938, S. 1.
[3] Als weiterführende Lektüre zur Bedeutung der Fotografie in dieser Zeit und der Benutzung von Fotos als historischer Quellen, siehe die Sonderausgabe von Central European History, vol. 48, no. 3 (2015), insbesondere die Einleitung der beiden Herausgeberinnen, Elizabeth Harvey und Maiken Umbach, „Introduction: Photography and Twentieth-Century German History“: 287–299.
[4] Vgl. Brian Currid, A National Acoustics: Music and Mass Publicity in Weimar and Nazi Germany (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2006).
[5] Für eine Einführung in das Konzept der Alltagsgeschichte, siehe Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen (Frankfurt, 1989) und Paul Steege, Andrew Bergerson, Maureen Healy und Pamela E. Swett, „The History of Everyday Life: A Second Chapter“ in The Journal of Modern History, 80, no. 2 (June 2008): 358–378.
[6] Hans-Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein: Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit. 1933–1945 (München: Hanser, 1981).
[7] Michael Burleigh und Wolfgang Wipperman, The Racial State: Germany, 1933–1945 (Cambridge: Cambridge University Press, 1991), und Devin O. Pendas, Mark Roseman, und Richard Wetzell, eds., Beyond the Racial State: Rethinking Nazi Germany (Cambridge/New York: Cambridge University Press, 2017).
[8] Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich (Cambridge: Cambridge University Press, 1984).
[9] Vgl. Richard J. Evans, „Coercion and Consent in Nazi Germany“, British Academy Review, issue 10 (2007): 26–27.
[10] Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos: Führerkult und Volksmeinung. Übersetzt von Klaus Kochmann (Stuttgart: DVA, 1999).
[11] Christopher R. Browning, Ordinary Men: Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland (New York: Harper Collins, 1992).
Übersetzung: aus dem Englischen ins Deutsche: Katharina Böhmer