Einführung

Als der verheerende Dreißigjährige Krieg endlich zu Ende ging, standen die Überlebenden vor der schwierigen Aufgabe des Wiederaufbaus und der Wiederherstellung der Ordnung. Während sich die Menschen von dieser Krise erholten, gestalteten sie die deutsche Gesellschaft allmählich neu. Während des langen 18. Jahrhunderts, also der Zeit von 1648 bis 1815, erlebte die Bevölkerung der deutschsprachigen Territorien Europas unzählige Veränderungen. Diese führten schließlich zum Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs, zum Aufstieg ambitionierter dynastischer Staaten, die von absolutistischen, um die Herrschaft wetteifernden Monarchen regiert wurden, sowie zur Proto-Industrialisierung der Region, welche die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft von Grund auf veränderte. Gleichzeitig prägten tiefgreifende geistige und kulturelle Veränderungen diese Epoche: Von der Überschwänglichkeit des Spätbarocks über die Wiederkehr des Pietismus in der Religion und die Ausbreitung des rational-reformierenden Denkens der Aufklärung bis hin zur starken emotionalen Resonanz, welche die Romantik hervorrief. Zwar hatten sich die deutschen Staaten in der Zeit bis zum Jahr 1815 frappierend gewandelt, das traditionelle Weltverständnis und die althergebrachte Auseinandersetzung mit Notlagen jedoch – geprägt durch christlichen oder auch heidnisch-magischen Glauben und die Achtung vor königlicher Autorität – bestanden weiter fort.Geschichtsforschende, die sich mit den deutschen Staaten im langen 18. Jahrhundert beschäftigen, stellten diesen Zeitraum lange Zeit als eine Epoche des Fortschritts dar. Im historischen Rückblick und unter Berufung auf eine teleologische Perspektive, die Modernisierungstheorien innewohnt, haben sie ihre Aufmerksamkeit auf die Ursprünge des modernen deutschen Nationalstaates, die Entwicklung aufgeklärter Vernunft und den kulturellen Aufschwung der Zeit gerichtet. Jüngste Forschungen haben dieses Bild jedoch in mehrfacher Hinsicht differenziert. Politikwissenschaftler haben die Unvermeidbarkeit des Untergangs des Heiligen Römischen Reichs infrage gestellt und argumentiert, dass dieser eher der Zäsur durch die Napoleonischen Kriege geschuldet war als einem Fehler des kaiserlichen Herrschaftssystems selbst oder der Dynamik Preußens. Stattdessen betonen sie die Rolle, die das Heilige Römische Reich bei der Förderung der Zusammenarbeit und der Vermittlung bei Streitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten im Laufe des langen 18. Jahrhunderts gespielt hat. Auch das traditionelle Bild der Aufklärung als weitgehend konservative geistige Bewegung, die Deutschland durch ihre Betonung der Vernunft grundlegend wandelte, wurde von Wissenschaftlern revidiert. Ihre Forschungsschwerpunkte – die radikalen Ausmaße dieser intellektuellen Veränderungen sowie konservative Gegenreaktionen auf den Wandel – haben das Verständnis neu verortet. Zuletzt hat die jüngste Kulturforschung untersucht, inwieweit der Sturm und Drang, verkörpert durch Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller, während der Zeit der Napoleonischen Kriege kraftvolle nationalistische Impulse setzte und liberale politische Bestrebungen entfesselte und damit Kräfte, die Deutschland später im 19. Jahrhundert prägen sollten.

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