Kurzbeschreibung

Der romantische Sprachwissenschaftler, Rechtsgelehrte und Volksmärchensammler Jacob Grimm (1785-1863) war eine Schlüsselfigur in der Entwicklung des deutschen Nationalismus und des kulturellen Erbes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Grimm pflegte Kontakte mit Gelehrten und Kulturschaffenden vieler Nationalitäten – unter anderem mit dem slowenischen Sprachwissenschaftler und kulturellen „Erwecker“ Jernej Kopitar (auch bekannt als Bartholomeus Kopitar) (1780-1844) in Wien. Der folgende Briefwechsel zwischen Grimm und Kopitar zeugt von Grimms Bemühen, das Anliegen des serbischen Volksdichters und Sprachgelehrten Vuk Karadžić zu unterstützen und ihn und sein Werk der deutschen literarischen Öffentlichkeit bekannt zu machen. Eine besonders wichtige Rolle spielte Grimm insofern, als er den Kontakt zwischen Karadžić und Goethe vermittelte, der dazu führte, dass Goethe in einem Essay über serbisches Liedgut Karadžićs Gedichte kommentierte. Grimm selbst übersetzte in der Folge auf Drängen von Karadžić und Kopitar Karadžićs serbische Grammatik ins Deutsche. Grimms und Kopitars romantische, über nationale Grenzen hinausgreifende Begeisterung für die Volksdichtung wird in ihrem Briefwechsel spürbar und steht in Zusammenhang mit Goethes Begriff der Weltliteratur, zu der auch das serbische Volksliedgut zählte.

Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und Jernej Kopitar (1823–24)

Quelle

[Brief von J. Grimm an B. Kopitar]
Cassel, 10. Oct. 1823

Verehrter Freund!

Vuk hat mir eine große Freude gemacht und mich ein paar Tage hier besucht. Heute morgen will er aber schon über Göttingen abreisen. Als er gestern zufällig die serbische Gastfreundschaft besprach, fiel mir aufs Herz, daß ich ihn in meinem engen Häuschen weder aufnehmen konnte, noch bewirthen wie ich möchte. So geht’s uns gelehrten, pedantischen Deutschen; die einfachen Naturtugenden und Poesien ungebildeter Völker fühlen wir zwar nach, können sie aber nicht mehr ordentlich nachahmen. Ich habe ihn weder herumführen, noch mit ihm ausfahren dürfen, so geplagt bin ich mit allerhand Geschäft. Was konnte ich ihm groß Merkwürdiges zeigen? Auf unserer Bibl. beschränkten sich alle Curiosa slavica auf ein Paar Trubersche Glagolitica und auf ein Ex. der Bibl. Ostrog. (Dobr. P. L-LI) von 1581 (Geschenk Gustav Adolpho von Schweden mit dessen Wappen in Gold auf dem Sammeteinband).

Die neue Leipz. Ausg. der Lieder hat meine alte Liebe wieder angefacht, wie schön sind diese Poesien! Wenn ich Wörter nachschlagen will und mir Zeit nehme (Geduld habe ich von Natur), so bringe ich das Meiste heraus, und mit der Zeit sollte es besser gehen. Aber wenn nur nicht so viel anderes zu treiben wäre. Der zweite (viel schwerere) Band meiner Deutschen Grammatik macht mir zu schaffen, daneben sollen historische Studien fortgehen. Mein Censoramt ficht mich wenig an, dergleichen treiben wir gelinder als Ihr Herren dort und alles wischt durch. Allein nun setzt mir Vuk wieder einen neuen Floh ins Ohr; er meint es sei gut und könne angehen, daß ich eine deutsche Übers. seiner Serb. Gr. herausgebe. Was meinen Sie? Sinke ich da nicht in ein für mich noch bodenloses Erdreich über Hals und Kopf oder wenigstens do ramena ein, wo ich mir hernach nicht heraushelfen werde? Meine aufrichtige Ansicht von der Sache ist folgende: die mir von Herrn Vuk vorgelegte, in Ungarn gefertigte Version scheint genau und richtig; in den deutschen Ausdrücken muß ein wenig nachgeholfen werden. Das kann leicht geschehen. Zusätze, Umstellungen, Vergleichungen (wozu mich meine Halbkenntniß zwar führen, aber auch irreführen könnte) muß ich unterwegen laßen. Was kann ich in eine Vorrede anders thun, als was schon von Ihnen und Andern gesagt ist über Geschichte und Werth der serb. Sprache wiederholen, und litterarische Notizen, die mir Vuk noch geben will, mittheilen? Hauptbedenken sind:

1) Verleger. Ich werde nach Berlin an Reimer, der jetzt die Weidmannsche Buchh. zu Leipzig besitzt, schreiben; ein honetter, sonst willfähriger Mann.

2) Der Druck kann unmöglich hier, noch in der Gegend, muß also zu Leipzig geschehen, folgl. die Correctur dort besorgt werden. Da wirds hapern. Meine Arbeit und Mühe wird also unbedeutend sein. Die Sache ist mir sehr werth, so werth, daß ich ein Jahr lang drüber studieren und dann an sie gehen möchte. In Eile dies, den Brief soll ein heute noch abreisender besorgen und Herr Vuk für Sie einige Zeilen zusetzen. Bleiben Sie mir freundschaftl. zugethan und melden mir, wenn Sie einmahl schreiben, mit ein paar Worten, ob Ihr acquirirter Cod. Glossarum Monseensiu der von Pez edirte, oder ein besserer, reicherer sei?

Der Ihrige Grimm.

[Brief von B. Kopitar an J. Grimm]
Wien 25. 8br. 1823.

Verehrter Freund!

Ihr gütiges Schreiben vom 2t. d. hat mich beschämt, da ich Ihnen nicht allein Antwort, sondern auch für Thorkelin Geld schuldig bin. Letzteres hätte ich leicht durch Vuk abgethan, wenn er mir nicht zu spät sein Vorhaben berichtet hätte. So disponiren Sie nun hier darüber, wenn Sie nicht lieber es über Leipzig beziehen wollen, i. e. ich kann es Ihnen in Leipzig bei einem Buchhändler anweisen durch einen hiesigen Dr. – Vuk ist über Ihren Empfang und Empfehlung an Göthe entzückt. Ich fürchte, Sie haben Recht, was Sie in der Rec. des Wörterbuchs sagten, daß die Theilnahme an Volksliedern erschöpft und misbraucht sey, auch bei Göthe! Ja, wenn es noch Griechen wären: aber Rátzen! – Indeß, die Hoffnung fliegt doch am letzten davon. – So wollen auch Sie mit der kleinen Grammatik ein Jahr lang warten! Bis dat, qui cito dat, und nun, da Lexikon und Klassiker da sind, ist eine kleine Grammatik dringendstes Bedürfniß? Will Reimer nicht daran, so will Volke hier sie verlegen. Machen Sie das Ms. nur druckfertig, sprechen das Honorar aus, und es wird angefangen; bis dat, qui cito dat, noch einmal. Und gerade von Ihnen, als einem unbefangenen Ausländer, würden es In- und Ausländer am liebsten empfangen.

So weit ich das Salzburger Exemplar der Monsee’ischen Glossen verglichen habe, sind sie beide gemelli, vielleicht von einem Schreiber.

In Meiland hab‘ ich den Ulfilas angeregt. Ein Verleger wäre da: aber ein Bearbeiter fehlt. Graf Castiglione darf nichts mehr lesen, seiner Augen wegen. Ich erwarte noch Briefe darüber, sehe aber schon, daß nichts rechtes geschehen wird, wenn Sie nicht hingehen. Könnten sie denn nicht ein halb Jahr in Meiland verweilen? Kurz, sehen Sie sich als den Editor an, und disponiren sich dazu. – Auf den 2. Theil Ihrer Grammatik sind wir sehr begierig. Dr. Appendini von Ragusa, ein Piemonteser, der dalmatisch kann, lernt Gothisch, was er mit aller Gewalt für slawisch hält, aus Ihnen, und erstaunt über Ihre Geduld und Gründlichkeit. Er lernt nun auch deutsch, aber das Gothische begreift er leichter, sagt er.

Vale et fave tuissimo

Kopitar.

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[Brief von B. Kopitar an J. Grimm]
Cassel, 31. Dec. 1823.

Herrn von Kopitar, k.k. Bibliothecar und Censor etc. Hochwohlgeb. Wien.

[]

Allen den wichtigen Argumenten nachgegeben, welche für den Ursprung der Kirchensprache in Südslavenland streiten, ist es immer auffallend, wie in diesen Affectionen ь und ъ die Nordslaven treuer und länger Farbe halten. – Ich zwinge die Elemente des Slavischen noch nicht so bald. Jetzt mit allen Leibes- und Seelenkräften muß ich mich wieder aufs Deutsche werfen, denn der Druck meines zweiten Theils läßt sich nicht länger hemmen, das Meiste ist ungeschrieben, vieles unbedacht. Daher glaube ich kaum, daß ich in der Vorrede zu Vuk was Gescheidtes zu Markte bringen werden. ([Johann Severin] Vater meint, er wolle noch eine Abhandlung über die Entstehung der serb. Volksdichtung dazu geben, und hat mir einen Antrag gemacht, der mich in Verlegenheit setzt, denn in Wahrheit, das gehört nicht in die kleine Grammatik und vertheuert sie. Der Verleger mag entscheiden).

Vuks Misgeschick betrübt mich, wie können Sie mit dem warmen Eifer für ihn daran Schuld haben? Und was ist die Schuld daran? Die Erhebung der verachteten Sprache zur Schriftsprache allein kann die Gegner nicht so aufbringen. Sinds die freien Wörter und Stellen? Und wenn Milosch Hand abzieht, ist nicht ein ungrischer Magnat mäcenatisch genug? Vater und selbst Vuk meinen, Reimer werde ein paar hundert Exemplare der Lieder kaufen, allein das hat doch Bedenken. Beßer thätes Volke oder der, bei dem das Wörterbuch liegt, vertriebe sie auch leichter. Schwerlich wird außerhalb Oestreich, Ungarn, Böhmen und Rußland viel abgesetzt werden; laßt zwei, drei Deutsche die Serb. Gramm. treiben, zwölf deutsche Bibliotheken die Lieder kaufen, das ist alles!

Göthe ist jetzt zu hoch im Alter und zu vielseitig, als daß man ihm was im Ernste zumuthen könnte (soll auch wieder neuerdings krank liegen); er riecht an einzelnen Blumen der Volkspoesie und hat seine Freude dran. Ein ganzes Feld zu pflegen und zu warten ist nicht seine Sache mehr. Das neugriechische Lied von Charon hat ihn besonders ergriffen, unter den Serb. werden ihm am besten gefallen, die in den ersten Band kommen, die Mädchen – und Liebeslieder. Die großen, epischen stehen vermuthlich bei ihm geringer. Seine seltsame Ansicht von der Volkspoesie halte ich für halbfalsch. Über die serbischen Lieder wird man gewis noch zur Erkenntnis kommen. Mir sind zwei, drei dieser frischen Gesänge werther als der ganze Band Motenebbi,[1] den Hammer verdeutsch that. In Göthes Diwan ist das Herrlichste, was aus dem Orientalischen ins Deutsche zurücklenkt. Und Rückert und Platen, zwei geistreiche Dichter, thun sich selber schaden, daß sie das Ghasellenwesen noch weiter treiben.

Was ich von den neugriechischen weiß? Schon lange hat Haxthausen, jetzt Regierungsrath zu Cölln ein wohlmeinender, aber zur Herausgabe ganz und gar nicht gerüsteter Mann, herausgeben wollen, was ihm ein Grieche zu Wien während des Congresses dictiert hatte. Göthes Beifall spornt den Faulen die ganze lange Zeit nicht an. Mehr traue ich dem Fauriel zu, den ich zu Paris kennen gelernt habe, 1814, 1815; ein feiner Provenzal, damahls auch mit den troubadours gelehrt beschäftigt. Ich weiß seine Addresse nicht, möchte ihm sonst einmahl schreiben.

Zu spät kam Ihr Rath wegen Mellerio! Der Posttag vorher hatte ich an Castiglione geschrieben, dessen Antwort ich nun abwarte.

Meine flüchtige Anzeige der serb. Lieder ist nicht des Aufhebens werth. Wie Sie noch glimpflich umzugehen wißen mit einem, der Tyronenschnitzer wie Trschitcha für Trschitsch macht! In tch löste ich das ћ auf, mit Rücksicht auf meine Gramm. p.555, weil die Schweden denselben Laut haben. Für die vielen Belehrungen in Ihrem letzten Briefe danke ich. Warum lassen Sie mir gerade jetzt das Geld für Beovulf zahlen, da Sie mir Slavica verschaffen wollen, wofür ich es hernach und mehr dazu schicken muß?

Glückseeliges Neujahr! Bleiben Sie mir gewogen, ich verspreche auch im ganzen Verlaufe desselben mit weniger Briefen lästig zu fallen, als in diesen zwei Monaten.

[J.] Grimm.

Anmerkungen

[1] Motenebbi (Mutanabbi), arabischer Dichter (915-965). Goethe zeigt Kentnis dieses Dichters im „West-Östlichen Diwan“. J. von Hammer-Purgstalls Übersetzung erschien Wien 1823.

Quelle: B. Kopitars Briefwechsel mit Jakob Grimm, herausgegeben von Max Vasmer. Köln und Wien: Böhlau 1987, S. 4–15.