Kurzbeschreibung

In seinem Bericht über einige ausgeklügelte Versuche, die Grenzanlagen zu überwinden, warnte der westdeutsche Schriftsteller Peter Schneider davor, dass die befestigte Grenze zunehmend zu einer Entfremdung zwischen Ost und West führte und dadurch eine regelrechte „Mauer im Kopf“ entstand, die weitere Missverständnisse erzeugte.

Die Mauer im Kopf (1982)

Quelle

Der Mauerspringer: Erzählung

[]

Die Mauer im Kopf einzureißen wird länger dauern, als irgendein Abrißunternehmen für die sichtbare Mauer braucht. Pommerer und ich mögen uns noch so weit in unseren Wünschen von unseren Staaten entfernen: wir können nicht miteinander reden, ohne daß ein Staat aus uns spricht. Wenn ich ebenso spontan auf Mehrheiten poche, wie Pommerer ihnen mißtraut, erweisen wir uns gleichermaßen als lernwillige Söhne des Systems, das uns erzogen hat. Die besitzanzeigenden Fürwörter „ihr“ und „wir“, „bei uns“ und „bei euch“, die bei jedem deutsch­deutschen Familientreff unterlaufen, sind nicht bloß die einfachen Kürzel, die Staatsbezeichnungen ersparen. Sie bezeichnen eine Art der Zugehörigkeit, die sich jenseits jeder politischen Option durchsetzt. Erst wenn die beiden Gesprächspartner die Lektion aufgesagt haben, die sich hinter dem Kürzel versteckt, kann ein Gespräch beginnen über ein Leben, das für jeden noch hinter der Mauer liegt.

Zweierlei Kriegserlebnisse: Pommerer lebt 1945 in Berlin am Prenzlauer Berg. Jeden Tag im Keller bei Bomben­alarm, mittags eine halbe Stunde hinauf in die Küche zum Kochen. Der Vater hat eine Pistole zurückgelassen für den Fall, daß die Russen kommen. Vor der Vergewaltigung soll die Mutter die Kinder und sich erschießen. Die Russen kommen zu Fuß und mit Panzern. Es gibt Vergewaltigun­gen, aber nicht im Haus der Mutter, nicht in der Nachbar­schaft. Andere Bilder bleiben haften: ein Russe bindet die Kuh beim Großbauern los und bringt sie zu einer Deut­schen, die ihr Neugeborenes nicht stillen kann. Schlitzäu­gige, mongolengesichtige Untermenschen kochen für die Besiegten, setzen Kinder auf die Panzer und verschenken Bonbons. Pommerers Scham über die Verachtung der geschlagenen Herrenmenschen gegenüber den Siegern mit dem tiefen Haaransatz, die nicht wissen, was ein Licht­schalter oder eine Serviette ist. Wo heute das sowjetische Ehrenmal steht, sind 15 000 Russen gefallen.

Ich bin 1945 mit der Mutter auf der Flucht vor den Russen in Bayern. Das Pfeifen der amerikanischen Tiefflieger, die auf offener Strecke haltenden Züge, 500 Tote sollen schon in dem Wald liegen. Die Amerikaner kommen in Flugzeu­gen. Später die Einfahrt der Jeeps in das oberbayrische Dorf, Säcke mit Zucker und Lebensmitteln werden auf die Straße geworfen. Die schönen sauberen Uniformen, die hellen Gesichter, die lässige Haltung des Beifahrers, der das Bein über das Trittbrett baumeln läßt. Dann die Care-Pakete, Truthahn, salted butter, yellow cheese in der Büchse. Die Amerikaner sind licht wie die Götter, kauen etwas, während sie reden, rauchen und verschenken Ziga­retten, sie vergewaltigen nicht, sie unterhalten Liebesver­hältnisse. Reich sind sie, großzügig, weiße Zähne.

Der erste englische Satz, den Pommerer lernt: Ami go home.

Mein erster englischer Satz: Have you chewing-gum?

Aus solchen Unterschieden werden noch 35 Jahre später Rüstungsetats gemacht. Durch alle Zahlenkolonnen der Experten über die atomare Feuerkraft des Feindes geistern – als die gewichtigsten Faktoren – die Glaubenssätze, die in der Kindheit erworben wurden: Die Russen wollen die Welt erobern – oder: Die Russen wissen, was Krieg ist, und wollen den Frieden.

[]

Ich bin letztes Jahr 40 geworden, die beiden Staaten, die das Wort „deutsch“ in ihren Initialen führen, haben gerade ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Ich bin also knapp zehn Jahre älter als der Staat, der da neben und in mir aufgewachsen ist. Schon aus Altersgründen kann ich ihn nicht mein Vaterland nennen. Hinzukommt, daß dieser Staat nur einen Teil des Landes repräsentiert, das mein Vaterland wäre. Falls mein Vaterland existiert, so ist es kein Staat, und der Staat, dessen Bürger ich bin, ist kein Vaterland. Wenn ich auf die Frage nach meiner Nationali­tät ohne Zögern antworte, ich bin Deutscher, so optiere ich damit offensichtlich nicht für einen Staat, sondern für meine Zugehörigkeit zu einem Volk, das keine staatliche Identität mehr besitzt. Damit behaupte ich aber gleich­zeitig, daß meine nationale Identität nicht an meine Zuge­hörigkeit zu einem der beiden deutschen Staaten gebunden ist.

Dasselbe gilt für die Behauptung „Ich komme aus Deutschland“. Entweder hat der Begriff keinen Sinn, oder ich spreche von einem Land, das auf keiner politischen Landkarte verzeichnet ist. Solange ich von einem Land namens Deutschland spreche, spreche ich weder von der DDR noch von der BRD, sondern von einem Land, das nur in meiner Erinnerung oder Vorstellung existiert. Gefragt, wo es liegt, wüßte ich keinen anderen Aufenthaltsort zu nennen als seine Geschichte und die Sprache, die ich spreche.

Wenn ein Vaterland der Deutschen weiterhin existiert, so hat es am ehesten in ihrer Muttersprache überlebt, und wenn es wahr ist, daß das Land vom Vater und die Sprache von der Mutter stammt, so hat sich das mütterliche Erbe als stärker erwiesen. In dieser Hinsicht scheinen die Deut­schen wieder beim Anfang ihrer Geschichte angelangt. Das Wort deutsch bezeichnete ja ursprünglich weder ein Volk noch einen Staat, sondern bedeutete „Volk“, „volks­mäßig“, als Bezeichnung der gemeinsamen Sprache ver­schiedener Stämme, die die gesprochene Sprache gegen die lateinische Urkunden- und Kirchensprache durchzuset­zen begannen. Diese sprachliche Einheit bestand Jahrhun­derte vor der Gründung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und sie hat die Entstehung, und den Zerfall aller weiteren unheiligen Reiche überlebt. In einem bestimmten Sinn scheinen die Deutschen also wieder am Ausgangspunkt ihrer Geschichte angelangt: das Wort „deutsch“ läßt sich unmißverständlich nur noch als Adjek­tiv gebrauchen, und zwar nicht in bezug auf Staat oder Vaterland, sondern, soweit von der Gegenwart die Rede ist, in bezug auf ein einziges Substantiv: Sprache. Und wie vor 1000 Jahren kann der Versuch, eine gemeinsame deutsche Sprache zu sprechen, nur mit einer Weigerung anfangen: mit der Weigerung, das Kirchenlatein aus Ost und West nachzuplappern.

[]

Quelle: Peter Schneider, Der Mauerspringer: Erzählung. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1982, S. 117–19, 124–25. © 1982, Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg.

Die Mauer im Kopf (1982), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-5031> [29.03.2024].