Einleitung

  • Konrad H. Jarausch
  • Helga A. Welsh

Die in diesem Band enthaltenen Texte, Bilder und audiovisuellen Materialien konzentrieren sich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) während der rund drei Jahrzehnte andauernden politischen, kulturellen, sozialen und physischen Teilung. Obwohl unser Ansatz weitgehend vergleichend ist, wird der Schwerpunkt nicht nur auf die Divergenz, sondern auch auf die Konvergenz und auf die Art und Weise gelegt, in der die Entwicklungen in Ost und West oft miteinander verflochten waren. Um der Gefahr ideologischer Voreingenommenheit zu begegnen, stellt der Band zu besonders strittigen Fragen auch widersprüchliche Standpunkte vor. Jedes der sechzehn Kapitel enthält Beispiele oder Fallstudien aus Ost und West, wobei jedes System für sich dargestellt wird. Da das westliche Modell letzten Endes erfolgreich war, wird den Ereignissen in der Bundesrepublik jedoch mehr Raum eingeräumt als denjenigen in der DDR. Schließlich versucht der Band, durch eine Vielfalt von Gattungen und Stimmen ein breites Spektrum von Themen vorzustellen. Zu den vorgestellten Quellen gehören nicht nur offizielle Erlasse, politische Reden und Zeitungskommentare, sondern auch Zeitzeugenberichte und andere persönliche Schilderungen sowie gelegentliche wissenschaftliche Reflexionen.

Die knapp drei Jahrzehnte zwischen dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 und ihrem unerwarteten Fall im November 1989 stellen eine paradoxe Ära der deutschen Geschichte dar, die nicht einfach zu charakterisieren ist.[1] Einerseits vertiefte die Schließung der Grenze zu Ostdeutschland die Teilung des Landes, weil sie Kommunikation und Handel mit dem Westen unterbrach. Die physische Unüberwindbarkeit der Grenze implizierte ihre Dauerhaftigkeit und ließ die beiden deutschen Staaten unterschiedliche Entwicklungswege einschlagen. Mit der Einführung des Sozialismus im Osten und dem Aufschwung des Kapitalismus im Westen wich das Alltagsleben in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) immer stärker voneinander ab – es entwickelten sich zwei verschiedene Gesellschaften. Gleichzeitig schwächte jedoch die faktische Anerkennung der Existenz der DDR durch das größere und wohlhabendere Westdeutschland (im Rahmen einer Politik der Annäherung) die Teilung ab, indem Reisen und Handel wieder möglich und der Kulturaustausch wiederbelebt wurde. Gerade als es schien, als würde die deutsche Teilung zum Dauerzustand, führten politische Veränderungen in der Sowjetunion und in ihren osteuropäischen Satellitenstaaten zu neuen Anknüpfungspunkten, darunter Gespräche zwischen der Sozialdemokratischen Partei (SPD) und der Sozialistischen Einheitspartei (SED), Städtepartnerschaften und akademische Diskussionen.[2] Ironischerweise inspirierte eben diese Mauer, die einst Ost- und Westdeutsche trennte, die Opposition, durch die sie schließlich wiedervereinigt wurden.

Darstellungen der jahrzehntelangen Teilung sind besonders schwierig, weil die ideologischen Lehren, die sich aus ihr ziehen lassen, alles andere als eindeutig sind. Das triumphalistische Narrativ vom Sieg des Westens im Kalten Krieg neigt dazu, die Herausforderungen zu unterschätzen, die sich der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung in der BRD in den Weg stellten.[3] Die Geschichte des ostdeutschen Scheiterns ist ebenfalls zu teleologisch, weil sie sich auf den Endpunkt des Zusammenbruchs konzentriert und vorhergehende Stabilisierungs- und Modernisierungsphasen ausblendet. Außerdem müssen sich Geschichten beider Staaten mit der „Doppelbelastung“ zweier Diktaturen befassen, an denen die Deutschen maßgeblich beteiligt waren – das Dritte Reich und die DDR.[4] Während linke Intellektuelle vor allem die Gräueltaten Hitlers betonen, um ihre antifaschistische Haltung zu legitimieren, verweisen konservative Kommentatoren auf kommunistische Verbrechen, um ihr antikommunistisches Credo zu rechtfertigen. Ein normativer Anti-Totalitarismus setzt beide Regime als moderne Diktaturen, die sich auf Massenmobilisierung, Repression und unkontrollierte Herrschaft einer auserwählten Elite stützten, miteinander gleich. Doch statt allgemeine Gemeinsamkeiten zu betrachten ist es sinnvoller, beide Regime genauer zu vergleichen: So war beispielsweise die Bereitschaft zum Massenmord bei den Nazis weitaus größer, während der Geheimpolizei der DDR eine tiefere Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens gelang.[5]

Historikerinnen und Historiker der deutschen Nachkriegsgeschichte stehen auch vor der schwierigen Wahl der narrativen Struktur. Die Teilung Deutschlands in zwei rivalisierende Staaten legt es nahe, die westdeutsche Bundesrepublik als Teil der NATO und der Europäischen Gemeinschaft und die ostdeutsche DDR als Teil des Warschauer Pakts und des COMECON darzustellen. Da ihre außenpolitischen und viele ihrer innenpolitischen Angelegenheiten während des Kalten Krieges weitgehend durch ihre Zugehörigkeit zu diesen gegensätzlichen ideologischen Blöcken bestimmt waren, werden die beiden deutschen Staaten in einem großen Teil der Literatur in den meisten Fällen als deutlich voneinander unterschieden dargestellt. Häufig neigt die Forschung über den einen Staat dazu, den anderen fast vollständig zu ignorieren. Ein solcher Ansatz übersieht jedoch die zahlreichen Schnittmengen und Verbindungen, die es in den asymmetrischen Beziehungen der beiden Staaten gab.[6] Der folgende Text verfolgt eine integrierte Perspektive, die sich auf gemeinsame Herausforderungen und unterschiedliche Antworten darauf in Ost und West konzentriert.[7] Nur dort, wo sich die Entwicklungen vor allem in einem der beiden deutschen Staaten abspielten, z.B. die Jugendrebellion von 1968 im Westen (Kapitel 6) oder die Stasi-Unterdrückung im Osten (Kapitel 15), beziehen sich die Quellen jeweils nur auf die eine Seite.

Die präsentierten Dokumente, Bilder und audiovisuelle Quellen widmen sich ausgewählten Themen, die für einige der wichtigsten historischen Entwicklungen zwischen dem Bau der Berliner Mauer 1961 und ihrem Fall 1989 stehen.[8] Da die Mauer die Trennung zwischen DDR und BRD buchstäblich zementierte, ist das erste in diesem Band vorgestellte Thema das Verhältnis zwischen den beiden Staaten – um dieses geht es in den Kapiteln 1, 2 und 8. Ein eng damit verbundenes Thema, der Wettbewerb zwischen dem kommunistischen und dem kapitalistischen System, war für den gesamten Zeitraum über 28 Jahre hinweg prägend und wird in den Kapiteln 7, 13 und 15 behandelt.[9] Da der globale Wettbewerb den Wohlstand auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs bedrohte, mussten in diesen Jahren sowohl die freie Marktwirtschaft als auch die Planwirtschaft auf die Veränderungen der Weltwirtschaft und die internationale Migration reagieren. Diese Reaktionen werden in den Kapiteln 3 und 9 thematisiert.[10] Soziale Konflikte wie die Rebellion der Jugend (Kapitel 6) im Westen und neue soziale Bewegungen wie Umweltschutz, Feminismus und Pazifismus (Kapitel 10 bis 12) stellen weitere Forschungsthemen dar. Diese Entwicklungen und Bewegungen schlugen sich auch im Osten nieder (Kapitel 15).[11] Entwicklungen in der Popkultur, in der Bildung sowie im historischen und kollektiven Gedächtnis werden ebenfalls in eigenen Abschnitten behandelt, insbesondere in den Kapiteln 3, 5 und 16.[12] Die Rolle der beiden konkurrierenden deutschen Staaten in Europa und in der Welt wird schließlich in den Kapiteln 4, 8 und 14 diskutiert.[13]

Die ausgewählten Quellen sollen allen Interessierten erlauben, sich ihr eigenes Bild von den oben angesprochenen grundlegenden Fragestellungen zu machen. Anstatt streng in vorgegebene Kategorien unterteilt zu werden, sind die Texte, Bilder und audiovisuellen Materialien sechzehn Kapiteln zugeordnet, die wiederum grob chronologisch präsentiert werden, ausgehend vom Bau der Berliner Mauer im August 1961 bis zu ihrer Infragestellung im Sommer und Herbst 1989. Um der Gefahr ideologischer Voreingenommenheit zu begegnen, stellt der Band zu besonders strittigen Fragen auch widersprüchliche Standpunkte vor. Jedes Kapitel enthält ost- und westdeutsche Beispiele – mit dem Ziel, sowohl Ähnlichkeiten als auch Differenzen hervorzuheben. Da das westliche Modell letzten Endes erfolgreich war, wird den Ereignissen in der Bundesrepublik jedoch mehr Raum eingeräumt als denjenigen in der DDR. Insgesamt ist es Anliegen des Bandes, ein breites Spektrum an Themen durch eine Vielzahl von Materialien vorzuführen, darunter Behördenerlasse, politische Reden, Zeitungskommentare, Augenzeugen- und andere persönliche Berichte sowie gelegentlich auch akademische Reflexionen.

1. Die Vertiefung der Teilung

Der Bau der Mauer am 13. August 1961 besiegelte die Teilung zwischen den beiden deutschen Staaten durch die Errichtung einer faktisch unüberwindlichen Grenze in Berlin. Nachdem es der SED nicht gelungen war, immer mehr ostdeutsche Bürger an der Flucht über West-Berlin in die BRD zu hindern, unternahm die Partei diesen verzweifelten Schritt – der als Bau eines „antifaschistischen Schutzwalls“ propagiert wurde –, um das letzte Schlupfloch in der rund 1.200 Kilometer langen Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland zu stopfen. Nach dem Bau der Mauer konnten die Ostdeutschen ihr Land nicht mehr verlassen, die Westdeutschen dort nicht mehr zu Besuch kommen: Familienbande und andere persönliche Beziehungen wurden zerrissen. Jene verzweifelten Menschen, die versuchten, den „Todesstreifen“ aus Elektrozäunen, Wachhunden, Selbstschussanlagen und Betonblöcken zu überqueren, zahlten oft mit ihrem Leben, da für Grenzbeamte der DDR ein „Schießbefehl“ auf Flüchtlinge galt. Obwohl innerdeutscher Handel in sehr geringem Umfang weiter existierte und die alliierten Soldaten nach wie vor den Checkpoint Charlie nutzen konnten, durchtrennte die Mauer andere noch verbliebene institutionelle Verbindungen, wie die gemeinsame Olympiamannschaft und die evangelische Kirche.[14] Die Mauer wurde so zu dem Symbol der Teilung des europäischen Kontinents im Kalten Krieg.

Quasi über Nacht wurde die Mauer zu einer verachteten, wenngleich pragmatisch akzeptierten Grenze, die der ostdeutschen Bevölkerung und westlichen Beobachtern suggerierte, die SED-Diktatur säße fest im Sattel. Einige Kommentatoren bezeichneten ihren Bau daher als „die zweite Gründung der DDR“, der ihre Anhänger wie auch ihre Feinde zwang, mit ihr zu leben. Um die noch bestehenden grenzüberschreitenden Beziehungen zu stärken, erklärte die Bundesregierung in Bonn den 17. Juni zu einem offiziellen Feiertag, zum Gedenken an die Repression gegen die Verwandten im Osten. Als Ausdruck der Solidarität schickten Privatpersonen Geschenkpäckchen mit begehrten Konsumgütern an ihre Verwandten im Osten. In West-Berlin verstärkte die Mauer die Inselmentalität und das Gefühl, ein „Vorposten der Freiheit“ in einem kommunistischen Ozean zu sein.[15] Darüber hinaus inspirierte die hässliche Mauer die Künstler auf der westlichen Seite dazu, Graffitis auf ihre Betonplatten zu malen; auf der Mauer waren so unter anderem Aufrufe zur Befreiung und Karikaturen der sowjetisch-deutschen Freundschaft zu sehen, darunter ein Bild des legendären Bruderkusses zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker. Im Laufe der Zeit verlor das Bauwerk etwas von seiner Monstrosität, und die Westberliner begannen, in seinem Schatten zu campen und Gärten anzulegen, die schließlich von Kaninchen bevölkert wurden. Trotz der anhaltenden Bemühungen, in einer gemeinsamen Sprache zu kommunizieren, entfremdete die physische Grenze die Ostdeutschen von den Westdeutschen, und umgekehrt: Sie wurde damit auch zu einer „Mauer in den Köpfen“.[16]

Erst Anfang der 1970er Jahre wurde die Grenze mit der Einführung der Ostpolitik, einer versöhnlicheren Politik der SPD/FDP-Regierung gegenüber Ostdeutschland und dem kommunistischen Block, so weit geöffnet, dass sie für eine größere Anzahl von Menschen passierbar wurde. Als Bürgermeister von West-Berlin (1957–1966) hatte Willy Brandt (SPD) erkannt, dass die DDR nicht so bald wieder verschwinden würde. Ebenfalls war klar, dass die Westmächte nicht bereit waren, einen Dritten Weltkrieg zu riskieren, um das kommunistische Regime zurückzudrängen. Nach seiner Ernennung zum Bundeskanzler 1969 nutzte Brandt das wachsende Interesse der westdeutschen Eliten wie der Öffentlichkeit an einer Entspannung mit der Sowjetunion und mit osteuropäischen Nachbarn wie Polen. Dadurch gelang es ihm, die unerschütterlich antiwestliche DDR-Regierung in ihrem eigenen Lager zu isolieren. Unter der Prämisse „zwei Staaten in einer Nation“ wurde im Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten von 1972 Ostdeutschland de facto anerkannt. De jure enthielt der Vertrag jedoch einen Vorbehalt zugunsten der Option einer zukünftigen Wiedervereinigung. Diese „Politik der kleinen Schritte“ bot im Wesentlichen westdeutsche finanzielle Belohnungen im Gegenzug für ostdeutsche „humanitäre Zugeständnisse“, um auf diese Weise die Grenze durchlässiger zu machen. Infolgedessen wurden einige politische Gefangene freigelassen, westdeutsche Verwandte durften wieder zu Besuch kommen und ostdeutsche Rentner durften nach Westen reisen. Damit wurden trotz der Abschottungsbemühungen der SED einige zwischenmenschliche Kontakte wiederhergestellt.[17]

Bis zum Sommer 1989 vertiefte sich die Teilung Deutschlands weiter, auch wenn die Wiederherstellung einiger Verbindungen sie nie endgültig werden ließ. Das Gedenken an den Aufstand vom 17. Juni 1953 wurde im Westen immer bedeutungsloser. In den 1980er Jahren verstärkte sich der Trend zur „Zweistaatlichkeit“. Auf beiden Seiten der Mauer sahen junge Menschen die Teilung als Normalzustand an; die Friedensbewegung erachtete die Verhinderung eines Atomkriegs für wichtiger als die Wiedervereinigung und die westdeutsche Linke trat für die Anerkennung einer eigenen ostdeutschen Staatsbürgerschaft ein. Dennoch hielt die von Bundeskanzler Helmut Kohl anführte Koalitionsregierung aus CDU und FDP rhetorisch an der historischen Aufgabe der Wiedervereinigung fest; das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen warb weiter für dieses Ziel und das Bundesverfassungsgericht hielt den verfassungsmäßigen Auftrag der Wiedervereinigung hoch. Erich Honeckers Besuch in Bonn 1987 verdeutlichte dieses Paradoxon: Obwohl der DDR-Chef von der BRD-Regierung mit allen Ehren eines fremden Staatsoberhauptes empfangen wurde, betonte Kohl seine Hoffnung, die deutsche Einheit eines Tages wiederherzustellen.[18]

2. Konkurrenz der Systeme

Nach dem Bau der Berliner Mauer gelang es beiden deutschen Staaten, ihre gegensätzlichen politischen Systeme zu konsolidieren und die Teilung damit zu untermauern. Während die Bonner Regierung ihre demokratische Glaubwürdigkeit nutzte, um größere internationale Anerkennung zu erlangen, blieb das kommunistische Ostberliner Regime eine diktatorische Herrschaft, auch wenn sich seine Politik im Einzelnen weiterentwickelte. Im Westen führte der steigende Wohlstand durch das „Wirtschaftswunder“ und das Heranwachsen der Nachkriegsgeneration allmählich zu einer „inneren Demokratisierung“, die sowohl die äußere Form als auch die inneren Einstellungen und Werte einer demokratischen politischen Kultur annahm.[19] Nachdem sich der westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) trotz seines fortgeschrittenen Alters geweigert hatte, die Macht abzugeben, stürzte er schließlich 1962 über die Spiegel-Affäre, im Zuge derer die Pressefreiheit verletzt wurde, was seine politische Karriere ein Jahr später beendete. Auch wenn sein Nachfolger Ludwig Erhard, der Befürworter der Sozialen Marktwirtschaft, von der CDU gestellt wurde, verweigerten die Freien Demokraten (FDP) ihm ihre Unterstützung, weil Erhard zwar ein erfolgreicher Wirtschaftswissenschaftler, aber nur wenig geschickter Politiker war. Als Folge kam es 1966 unter Kurt-Georg Kiesinger (CDU) und Willy Brandt (SPD) zur Bildung einer Großen Koalition, die immer mehr Veränderungen in der Außen- und Innenpolitik anstieß.[20]

In Ostdeutschland wurde die Mauer als Normalität angesehen, da sie jede Fluchtmöglichkeit ausschloss. Während Opportunisten in die SED strömten, zogen sich viele Menschen in ihre privaten Nischen zurück. Einige wagten es sogar, sich dem Regime entgegenzustellen. In den frühen 1970er-Jahren büßte SED-Chef Walter Ulbricht seine Macht ein, weil er mit Wirtschaftsreformen, der Annäherung an Westdeutschland und einem ostdeutschen Weg zum Sozialismus experimentierte und damit die sowjetische Führung befremdete. Der orthodoxere Erich Honecker, dem dieses Abweichen von der Parteilinie missfiel, stürzte Ulbricht mit Moskauer Hilfe und versprach eine sozialistische Form des Konsums unter dem Motto der „Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik“.[21] Unter seiner Führung erreichte die DDR den höchsten Lebensstandard im Ostblock: Renten und Kindergelder stiegen, bessere Wohnungen wurden verfügbar und ein breiteres Sortiment an Konsumgütern tauchte in den Geschäften auf. Aber sein impliziter Gesellschaftsvertrag mit der Bevölkerung – materielle Vorteile gegen stillschweigende politische Zustimmung – weckte Erwartungen, die auf Dauer nicht erfüllt werden konnten. Die Bevorzugung von Konsumgütern auf Kosten von Investitionen war teuer und kein geeignetes Mittel gegen Produktivitätsverzögerungen und veraltete Technologien, deren Modernisierung ausländische Kredite erforderte, die letztlich die DDR in den Ruin trieben.[22] Im Widerspruch zu seinem relativ harmlosen Image untermauerte Honecker den diktatorischen Charakter des kommunistischen Regimes durch den Ausbau der Geheimpolizei noch weiter. Doch unerfüllte politische und wirtschaftliche Versprechungen und eine stärkere Bindung an den Westen führten letztlich zu Kulturkritik und Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse.

Im Gegensatz dazu stellte die Bildung der Regierung Brandt-Scheel im Westen zwei Jahrzehnte nach Gründung der Bundesrepublik eine Machtübergabe an die Opposition dar. Nach dem Gewinn einer knappen gemeinsamen Mehrheit bei den Wahlen 1969 stimmten die Sozialdemokraten und die Freien Demokraten der Bildung der ersten sozialliberalen Koalitionsregierung auf Bundesebene zu. Unter dem Motto „mehr Demokratie wagen“ setzte der neue Kanzler Willy Brandt im Inland eine kühne Reformpolitik in Gang, die vor allem rebellische jüngere Wähler ansprach. Im Rahmen dieser Politik erweiterte die SPD/FDP-Regierung den Sozialstaat, machte großzügige Lohnerhöhungen möglich, verbesserte die Bildungschancen und gründete zahlreiche neue Universitäten. Im Ausland förderte die sozialliberale Koalition die Aussöhnung mit der Sowjetunion und ihren östlichen Nachbarn durch eine neue Politik, die auf Nichtangriffsverträgen, der faktischen Anerkennung der DDR und dem Erreichen humanitärer Zugeständnisse durch wirtschaftliche Einflussnahme basiert. Auch wenn ein Spionageskandal Brandt 1974 zum Rücktritt zwang, zeigte diese Abkehr vom Antikommunismus des Kalten Krieges, dass das parlamentarische System der BRD in der Lage war, grundlegendere Veränderungen einzuleiten als das starre DDR-Regime.[23] Darüber hinaus schien der allmähliche Anstieg des Wohlstands die Überlegenheit der Demokratie zu bestätigen.

Infolge wirtschaftlicher Stagnation und ideologischer Erosion büßte der Marxismus-Leninismus im Osten in den 1970er und 1980er Jahren viel von seiner politischen Attraktivität ein. In einer „Mangelwirtschaft“ zu leben und das schwierig zu finden, war für die Arbeiter die eine Sache. Aber es war eine ganz andere, als die Truppen des Warschauer Pakts im Sommer 1968 in die Tschechoslowakei rollten, um Alexander Dubceks „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ niederzuschlagen. Zu diesem Zeitpunkt wurde den Intellektuellen der DDR klar, dass die kommunistischen Regime hinter dem Eisernen Vorhang auf Zwang statt auf Zustimmung der Bevölkerung beruhten.[24] Selbst überzeugte Marxisten verloren den Glauben an die Überlegenheit ihrer sozialistischen Utopie. Zunehmend kritisierten Dissidenten wie Robert Havemann die SED; unter dem Dach der evangelischen Kirche entwickelte sich eine unabhängige Friedensbewegung und eine gegenkulturelle Jugendszene sowie eine Gemeinschaft engagierter Künstler entstanden. Für die kommunistischen Führer, einschließlich der DDR-Führung, bedeutete die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Jahr 1975, dass sich die Bürger auf die Zustimmung ihrer Regierungen zu durchlässigeren Grenzen und zur Achtung der Menschenrechte berufen konnten. Massive Stasi-Unterdrückung bewegte oppositionelle Gruppen dazu, die Bedeutung der Bürgerrechte nach westlichem Vorbild anzuerkennen.[25] Hingegen gelang es den Sozialdemokraten im Westen unter der Führung von Bundeskanzler Helmut Schmidt, die Anreize des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs mit der Bereitstellung eines Sozialversicherungssystems in einem geregelten Sozialstaat in Einklang zu bringen.[26]

3. Wirtschaftliche Probleme

Während der 1960er Jahre katapultierte das „Wirtschaftswunder“ mit seinen rasanten Wachstumsraten über das Wiederaufbauniveau nach dem Krieg hinaus die meisten Westdeutschen in eine voll entwickelte Konsumgesellschaft. Der Druck der Gewerkschaftsbewegung führte dazu, dass die Löhne allmählich stiegen und die Arbeitszeit auf etwa vierzig Stunden pro Woche schrumpfte, wodurch der Samstag für die Freizeitgestaltung zur Verfügung stand. Als Folge des steigenden Wohlstands gönnten sich die Menschen kulinarische Köstlichkeiten, kauften neue Kleider, ersetzten ihre Möbel und reisten ins Ausland – sie konnten sich jetzt Wünsche erfüllen, die in den langen Jahren des Krieges und der Entbehrung nach dem Krieg unbefriedigt geblieben waren. Darüber hinaus konnten die Westdeutschen endlich neue Gebrauchsgüter wie Staubsauger, Wasserboiler, Gasherde, Waschmaschinen, Radiogeräte, Fernseher und andere Waren kaufen, die entweder die Hausarbeit erleichterten oder für häusliche Unterhaltung sorgten. Mit steigendem Einkommen konnten sich immer mehr Verbraucher Kraftfahrzeuge leisten, angefangen bei Mopeds. Den Höhepunkt der Mobilität stellten Automobile wie der VW-Käfer dar, der zur Ikone der sogenannten Wirtschaftswunderjahre wurde. Durch intensive Sparanstrengungen gelang es vielen Westdeutschen sogar, ein eigenes Haus zu bauen, manchmal sogar mit einem Garten als grüner Oase. Die Ostdeutschen zeigten ein ähnliches Konsumverhalten, wenn auch mit erheblicher Verzögerung und in geringerem Umfang, da ihre weniger produktive Wirtschaft diesem Grenzen setzte.[27]

Der wirtschaftliche Aufschwung im Westen hatte auf dem stetigen Nachschub an billigen, meist deutschen Arbeitskräften aus dem Osten beruht. Nachdem der Mauerbau diesen Zustrom hatte versiegen lassen, begann die Bundesrepublik, ausländische Arbeiter anzuwerben, nicht zuletzt deswegen, um Frauen aus dem Arbeitsmarkt heraus- und deren traditionelle Hausfrauenrolle aufrecht zu erhalten. Da diese Arbeitsmigranten nur vorübergehend im Land bleiben sollten, wurden sie euphemistisch „Gastarbeiter“ genannt. Ein wechselndes vertragliches System brachte mehrere Millionen Italiener, Spanier, Jugoslawen und zuletzt auch Türken in die Bundesrepublik, um die schweren und unangenehmen Aufgaben zu erledigen, die die einheimischen Arbeitern nicht übernehmen mochten – und um die expandierende Wirtschaft mit am Laufen zu halten. Viele Gastarbeiter kehrten zwar letzten Endes nach Hause zurück, andere ließen jedoch ihre Familien nachkommen und machten Westdeutschland dadurch unbeabsichtigt zu einem Einwanderungsland. Als der Wirtschaftsaufschwung zu Ende ging und die Arbeitslosigkeit in den 1970er Jahren anstieg, nahmen fremdenfeindliche Einstellungen zu, so dass Einwanderungs- und Integrationsfragen – die durch Asylbewerber und Spätaussiedler noch verkompliziert wurden – in den 1980er Jahren ungelöst blieben.[28] Auch Ostdeutschland warb schließlich ausländische Arbeitskräfte an, meist aus Entwicklungsländern wie Vietnam, doch deren Leben blieb stark eingeschränkt und ihr Einfluss auf Gesellschaft und Wirtschaft war marginal.[29]

Die Ölkrisen der 1970er Jahre beendeten die lange Wachstumsphase, weil der Energiepreis dramatisch anstieg. Bereits Mitte der 1960er Jahre hatte die Abkühlung der Konjunktur der „sozialen Marktwirtschaft“ einen ersten Stoß versetzt. Doch die von Wirtschaftsminister Karl Schiller koordinierte „konzertierte Aktion“, die in von der Regierung geschaffenen Investitionsanreizen und der Vermeidung von Arbeitskämpfen bestand, brachte das Wachstum wieder in Schwung. Mit den freigiebigen öffentlichen Ausgaben und den zweistelligen Lohnerhöhungen der frühen 1970er Jahre war es jedoch schlagartig zu Ende, als das Kartell der Ölförderländer (OPEC) 1973 den Preis für fossile Brennstoffe um mehr als das Zehnfache anhob.

Die Folge war ein jäher Anstieg der Rezession, steigende Arbeitslosigkeit und unerfreuliche Stagflation. Bundeskanzler Helmut Schmidt, ein versierter Wirtschaftsfachmann, stoppte den Ausbau der Sozialleistungen und die Lohnerhöhungen. Obwohl es durch keynesianisch-antizyklische öffentliche Ausgaben gelang, erneut ein moderates Wachstum zu erreichen, bremste der zweite Ölpreisanstieg von 1979 das Wirtschaftswachstum weiter. Die Entscheidungsträger verstanden nicht, dass die hartnäckigen Probleme auch das Ergebnis eines Strukturwandels hin zur Dienstleistungswirtschaft und zu einer Verschärfung des Wettbewerbs aus Fernost waren, der zum Zusammenbruch traditioneller Leitindustrien wie Textil, Stahl, Schiffbau und dergleichen führte.[30]

Ein Ausweg aus der strukturellen Sackgasse war die wirtschaftliche Integration, weil man davon ausging, dass die Ausweitung des heimischen Marktes größere Absatzmärkte eröffnen würde. Die sukzessive Aufhebung der Binnenzölle und die Einführung eines gemeinsamen Außenzolls in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den 1960er Jahren war für die Bundesrepublik ein Segen, da sie dadurch ihren Handel mit Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern intensivieren konnte. Die üppigen Lebensmittelsubventionen trugen auch dazu bei, den schwierigen Übergang der Landwirtschaft zur Großproduktion abzufedern. Darüber hinaus ermöglichte es die Freundschaft zwischen Valery Giscard d'Éstaing und Helmut Schmidt, die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Systems und der anschließenden Währungsspekulation durch die Schaffung des Europäischen Währungssystems im Jahr 1979 aufzufangen. Verglichen mit anderen westlichen Ländern meisterte die BRD damit die doppelte Herausforderung von Energieknappheit und globalem Wettbewerb relativ erfolgreich. Auch wenn die sowjetischen Energiepreise unter Weltmarktniveau zunächst dazu beitrugen, das Überleben der DDR zu verlängern, bedrohten Kürzungen der russischen Öllieferungen und Preiserhöhungen schließlich die Grundlage der ostdeutschen Exporte von raffinierten Derivaten in den Westen. Darüber hinaus waren die Vorteile des COMECON für die DDR viel geringer, da der Handel zwischen seinen Mitgliedern weniger intensiv war und die Beziehungen auf sowjetischer Dominanz beruhten.[31]

4. Neue soziale Bewegungen

In den späten 1960er Jahren sahen sich beide deutsche Staaten mit dem Ausbruch unvorhergesehener sozialer Konflikte konfrontiert, die sich im Westen um den Generationenkonflikt, im Osten um die Reform des Sozialismus drehten. In der Bundesrepublik rebellierten Studenten gegen die autoritäre Kontrolle durch die Elterngeneration, die überlaufenen Bildungseinrichtungen, die unterbliebene gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit und die amerikanischen Verbrechen in Vietnam. Inspiriert wurden die aufgebrachten Jugendlichen durch unorthodoxe Marxisten der Neuen Linken, anarchistische Provokateure und radikale Demokraten. Sie kopierten viele Protestformen wie die „Sit-ins“ oder die „Teach-ins“ der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und erregten Aufsehen durch gewaltlose Provokation der Behörden. Nachdem Benno Ohnesorg 1967 durch brutale Polizeigewalt während einer Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs in Westberlin 1967 zu Tode gekommen war, entstand in der Bundesrepublik eine studentische Protestbewegung. Aber auch dieser „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) gelang es nicht, die Ausweitung der umstrittenen Notstandsbefugnisse auf die Exekutive zu verhindern. Als der Massenprotest scheiterte, entschieden sich einige Radikale, dem Beispiel von Che Guevaras städtischer Guerilla zu folgen und sich für den Terrorismus der Roten Armee Fraktion zu engagieren, was zu einer massiven staatlichen Reaktion führte. Die ostdeutsche Entsprechung hierzu ist in der Faszination zu sehen, die von den Bemühungen ausging, im Nachbarland Tschechoslowakei einen Reformsozialismus (Prager Frühling) zu schaffen – und die anschließende Unterdrückung dieser Bewegung im August 1968.[32]

Eine wichtige Folge dieser Generationenrevolte war der Aufstieg eines neuen Feminismus im Westen. Während eines umstrittenen Treffens des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) forderten einige Frauen, die sich nicht mehr mit Kaffeekochen begnügen wollten, als eigenständige Personen teilzunehmen. Sie forderten eine vollständige Gleichstellung der Geschlechter, zu der auch die Möglichkeit gehörte, ihre eigene Sexualität durch erleichterten Zugang zu oraler Verhütung und legalen Abtreibungen zu kontrollieren sowie die Gleichbehandlung in Bildungseinrichtungen und am Arbeitsplatz. Ermutigt von Theoretikern in den USA gründeten diese neuen westdeutschen Feministinnen ihre eigenen Organisationen, gründeten radikale Zeitschriften wie Emma und stellten ihre lesbischen Neigungen manchmal auch öffentlich zur Schau. Es gelang ihnen, politische Zugeständnisse wie Frauenhäuser für misshandelte Frauen, Frauenbeauftragte in öffentlichen Institutionen, Quotensysteme in politischen Parteien und gleiche Einstellungsbedingungen durchzusetzen. Die DDR war stolz darauf, Frauen mehr Unterstützung zu bieten, da die SED umfassende Kinderbetreuung gewährleistete und Einschränkungen bei Scheidung, Abtreibung und dergleichen lockerte. Die Politik im Osten zielte jedoch darauf ab, Frauen in die Arbeitswelt zu integrieren, um den Verlust von Arbeitskräften Richtung Westen auszugleichen, und tat wenig, um die Doppelbelastung durch Arbeit und Familie zu verringern.[33]

Ein weiteres Ergebnis der Jugendrebellion war die Entstehung einer breiten Umweltbewegung in der Bundesrepublik. Als Reaktion auf die Zersiedelung und die Massenmotorisierung, die die Warnungen des Club of Rome vor den Grenzen des Wachstums zu bestätigen schienen, verstärkte sich in den 1960er Jahren die traditionelle Sorge um die Natur. Lokale Bürgerinitiativen begannen sich für den Erhalt landschaftlich besonders reizvoller Orte einzusetzen, wie die Wutachschlucht im Schwarzwald, die durch den Bau eines neuen Staudamms bedroht war. Mit der Unterstützung der Bauern vor Ort begannen linke Jugendliche, apokalyptische Ängste vor potentiellen Unfällen in Atomkraftwerken zu äußern. In der Folge begannen sie, sich dem Bau von Kernkraftwerken zu widersetzen, was zu einer Reihe von teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen an Orten wie Wyhl in Baden führte. Ende der 1970er Jahre flossen diese lokalen Initiativen in der Gründung einer neuen politischen Partei zusammen, die sich „Die Grünen“ nannte und das biedere BRD-Establishment provozieren wollte. Obwohl in der DDR schon früher neue Umweltgesetze verabschiedet worden waren, dauerte es bis in die 1980er Jahre, bis sich hier Umweltschutzgruppen bildeten, die gegen die Verwüstungen durch Tagebau, Braunkohleverbrennung und Chemieanlagen in den Regionen um Bitterfeld protestierten. Die repressive Reaktion der SED auf ihre Beschwerden ließ ihnen keine andere Wahl, als eine dissidente Haltung zum Regime einzunehmen.[34]

Ein letzter Aspekt dieser Mobilisierung der Bürger war das Aufkommen einer starken Friedensbewegung, die letztlich sogar die deutsch-deutsche Grenze überwand. In beiden deutschen Staaten war die Kriegsangst auch deswegen besonders groß, weil der Kalte Krieg auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zur Konzentration einer enormen Anzahl von Truppen wie von Waffen, einschließlich taktischer Atombomben, geführt hatte. Der NATO-Doppelbeschluss von 1979 reagierte auf die Stationierung sowjetischer Raketen mit dem doppelgleisigen Ansatz, einerseits im Westen dieselben Waffen einzusetzen, andererseits Verhandlungen anzubieten. Diese neue Phase des Wettrüstens führte in Westdeutschland zu breitem öffentlichen Aufruhr: Gewerkschaften, Kirchen und Intellektuelle sprachen sich gegen die Stationierung zusätzlicher Raketen aus. Die Proteste kulminierten 1981 in einer Demonstration von 300.000 Bürgern in Bonn. Das Trauma des Zweiten Weltkrieges hatte eine breite Opposition gegen die Wiederbewaffnung hervorgebracht und zu einem nachsichtigen Umgang mit Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen geführt. Als Reaktion darauf wurde ein alternativer Zivildienstes eingeführt. Auf der anderen Seite der Grenze gab sich die DDR-Führung friedensbewegt, während sie ihre eigene Gesellschaft durch paramilitärisches Pflichttraining in den Schulen militarisierte. Unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ formierte sich eine ostdeutsche Friedensbewegung im Umfeld der evangelischen Kirche, die das atomare Wettrüsten kritisierte.[35]

5. Verunsicherungen der Moderne

Im Bereich der Kultur triumphierte während der 1960er Jahre die Moderne in der Hochkultur im Westen und schließlich auch in Ostdeutschland. Die westdeutschen Intellektuellen lehnten den kleinbürgerlichen Geschmack der Nazis ab und machten sich die Moderne stilistisch und inhaltlich zu eigen – im Versuch, ihren Platz in der internationalen Gemeinschaft zurückzugewinnen. In öffentlich geförderten, intellektuell anspruchsvollen Institutionen wie Museen, Theatern und Konzertsälen dominierte jetzt eine internationale Avantgarde, die abstrakten Expressionismus, das absurde Theater und experimentelle Musik propagierte – Vorlieben, die nur Kenner ansprachen. Alle fünf Jahre versammelte die riesige Kunstausstellung Documenta die Vertreter der neuesten Innovationen im Bereich der Malerei und der bildenden Kunst, die dort mit ungegenständlicher Kunst experimentierten. Gleichzeitig kehrten die Emigranten der philosophisch-kritischen Frankfurter Schule in die BRD zurück und führten westliche sozialwissenschaftliche Methoden zur Förderung der Demokratie ein.[36] Im Gegensatz dazu griff die DDR zunächst zum populistischen Repräsentationsstil des Sozialistischen Realismus und lehnte die Abstraktion als bürgerliche Dekadenz ab. Erst nach langem Kampf setzten sich hinter dem Eisernen Vorhang auch modernistische Formen in Möbeln, Wohndesign und Wohnungsbau durch.[37]

In den 1960er Jahren wandte sich die breite Öffentlichkeit der Populärkultur zu, als diese durch Transistorradios, Farbfernseher, Langspielplatten, Kassettenrecorder und ähnlichem immer zugänglicher wurde. Diese Geräte verbreiteten westliche Importe wie Rock’n’Roll, Hollywood-Filme und Seifenopern und machten dabei den amerikanischen Lebensstil, wie er in Hochglanzmagazinen dargestellt wurde, zum Synonym für die moderne Version des guten Lebens. Während öffentlich-rechtliches Radio und staatlich gefördertes Fernsehen weiterhin Bildungsprogramme ausstrahlten, bevorzugten die meisten Zuschauer und Zuhörerinnen unkomplizierte Unterhaltung in Form von Krimiserien, Rockmusik oder Sportberichterstattung. Im Westen waren die konservativen Eliten ambivalent in Bezug auf das, was sie als „Amerikanisierung“ wahrnahmen. Die meisten Jugendlichen empfanden diese Stilrichtungen allerdings als befreiend und kosmopolitisch. Die provinziellere DDR-Führung versuchte, den Versuchungen des „Klassenfeindes“ zu widerstehen, indem sie eine eigene Version der Populärkultur mit sozialistischem ideologischen Inhalt anbot. Um das Eindringen von westlicher Rockmusik und Blue Jeans zu verzögern, förderte die SED antiimperialistische Befreiungslieder und stellte ihre eigenen Sporthelden als Vorbilder dar.[38]

Der Kultur- und Einstellungswandel wurde zum Teil durch den massiven Ausbau der weiterführenden Schulen und der Hochschulen befördert. In der Bundesrepublik kritisierte der Pädagoge und Philosoph Georg Picht das „Bildungsdefizit“, und der Sozialwissenschaftler und liberale Politiker Ralf Dahrendorf bezeichnete Bildung als ein „Bürgerrecht“. Er forderte eine Ausweitung des höheren Schulwesens und gerechtere Bildungschancen für benachteiligte Schüler. Die Entwicklung weg von der Disziplin hin zu offenem und kritischem Engagement prägte den Schulunterricht nachhaltig. Massive Investitionen in die Rekrutierung von Lehrpersonal und in den Schulbau ermöglichten in den 1970er Jahren ungefähr der Hälfte einer Alterskohorte den Zugang zum Gymnasium und einem Viertel den Besuch einer Universität. Bildungsreformer entwickelten außerdem Gesamtschulen und Ganztagsschulen und boten eine größere Auswahl an Studiengängen. Doch in den 1980er Jahren erlahmte der Schwung, mangelnde finanzielle Ausstattung führte erneut zur Überfüllung, und das Bundesverfassungsgericht schraubte die studentische Mitbestimmung zurück. In der DDR bevorzugten die Sozialisten stattdessen eine an der Berufsausbildung orientierte polytechnische Schulbildung, die bevorzugt Kindern aus Arbeiter- und Bauernfamilien zugute kam. Die dritte Universitätsreform der späten 1960er Jahre war eine seltsame Mischung aus überfälliger Modernisierung und Politisierung, die die Kontrolle der SED weiter ausdehnte.[39]

Das rasante Tempo der sozialen und kulturellen Modernisierung löste eine Reihe von Identitätsdebatten über die deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. In der Bundesrepublik schrieben Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass Kurzgeschichten und Romane, die sich mit der Beteiligung der Bevölkerung an NS-Verbrechen auseinandersetzten. Daneben warnten Sozialwissenschaftler wie Theodor Adorno und Alexander und Margarete Mitscherlich vor einer Tendenz, die unangenehme Vergangenheit zu beschönigen und forderten eine moralische Erneuerung. Fernsehsendungen wie die amerikanische Miniserie „Holocaust“ erinnerten die widerstrebende Bevölkerung immer weider an die schrecklichen Verbrechen des Dritten Reiches. Gleichzeitig forderte Bundespräsident Richard von Weizsäcker mehr Mitgefühl für die NS-Opfer und weniger Beachtung des deutschen Leids. Der „Historikerstreit“ beschäftigte sich mit der Frage der deutschen Schuld und betonte die Einzigartigkeit des Holocausts. Kritische Intellektuelle machten sich diese Ideen zu eigen, konservative Mitglieder der älteren Generation lehnten sie jedoch weiter ab.[40] In der DDR bemühte sich das Honecker-Regime, seinen Rückhalt in der Bevölkerung über den Antifaschismus hinaus zu erweitern, indem es einige zuvor kritisierte Persönlichkeiten wie den Reformator Martin Luther aus dem 16. Jahrhundert, den preußischen König Friedrich den Großen und den Einiger Deutschlands, Otto von Bismarck, für sich vereinnahmte. Auch wenn sie den Nationalismus ablehnten, benutzten Schriftsteller auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs den Begriff „Kulturnation“, um ein gemeinsames Gefühl von Deutschsein auszudrücken, das auf Sprache, Traditionen und Kultur basiert.[41]

6. Europa und die Welt

Unter dem Schutzschild der USA tauchte die Bundesrepublik Deutschland als demokratischer Nachfolger des Dritten Reiches allmählich wieder auf der Weltbühne auf. Die DDR wollte ihrerseits nichts mit der barbarischen Nazi-Vergangenheit zu tun haben. Im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens verhielt sich die BRD oft wie ein „Musterschüler“ und strebte danach, eine Kopie Amerikas zu werden. Doch schon in den 1960er Jahren kam es während der Dollarkrise zu ernsthaften Konflikten, als Präsident Lyndon Johnson darauf bestand, dass Bonn mehr für die Stationierung von US-Truppen bezahlte. Präsident Richard Nixon zeigte sich skeptisch gegenüber den Bemühungen der BRD, mit der Ostpolitik, einer eigenen Version der Entspannungspolitik, wieder einen unabhängigen politischen Kurs zu fahren. Trotz der deutschen Dankbarkeit für die amerikanische Unterstützung in der Nachkriegszeit verschlechterten sich die Beziehungen unter Jimmy Carter weiter, als Helmut Schmidt den US-Präsidenten über den richtigen Umgang mit den wirtschaftlichen Verwerfungen der Energiekrise belehrte. Erst als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde verbesserte sich das Klima wieder, denn seine sanfte neoliberale Wendung stieß bei den Neokonservativen im Umfeld von Präsident Ronald Reagan auf Sympathie. Unterstützt durch die 1974 eingerichteten US-Botschaft in Ost-Berlin versuchte SED-Chef Erich Honecker in den 1980er Jahren, die Beziehungen zu Washington zu verbessern, indem er einen amerikanischen Rabbiner einlud, in Ost-Berlin zu arbeiten, in der Hoffnung, die DDR durch einen Staatsbesuch symbolisch anerkennen zu lassen.[42]

Unabhängig von den politischen Parteien, aus denen sie sich zusammensetzte, unterstützte jede westdeutsche Regierung die europäische Integration nachdrücklich, da eine enge Zusammenarbeit mit den westlichen Nachbarn Wirtschaftswachstum, die Flucht aus dem Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Mitgliedschaft in der internationalen Gemeinschaft ermöglichte. Obwohl einige Kritiker des Gemeinsamen Marktes Einwände dagegen erhoben, zu viel bezahlen zu müssen und unter Frankreichs Führung nur die zweite Geige zu spielen, profitierten die meisten Unternehmen in der Praxis von der Schaffung eines größeren Marktes, und unter dem Deckmantel des Multilateralismus war die Verfolgung deutscher Wirtschaftsinteressen akzeptabler. Geschützt durch die Sicherheitsgarantie der NATO konnte Bonn zu einem „Wirtschaftsriesen“ werden und sich gleichzeitig sein internationales Image als „politischer Zwerg“ bewahren. Konflikte entstanden erst, als die Präferenz des französischen Präsidenten Charles de Gaulle für ein „Europa der Vaterländer“ den weiteren Fortschritt der Integration blockierte und sein Veto den Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks zum Gemeinsamen Markt bis 1973 verzögerte. Bonn befürwortete die weitere Ausdehnung der nunmehr so genannten Europäischen Gemeinschaft auf die Mittelmeerstaaten, um die postdiktatorischen Demokratien in Griechenland, Spanien und Portugal zu unterstützen. Doch erst Ende der 1980er Jahre nahm die Integration mit der Einheitlichen Europäischen Akte wieder an Fahrt auf.[43] Obwohl die DDR-Mitglied des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) war, profitierte sie davon weniger.

Verglichen mit der Integration war die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn komplizierter und umstrittener, da die Erinnerungen an das Kriegsleiden tief verwurzelt waren und die DDR jede Annäherung scheute. Als Voraussetzung für verbesserte Beziehungen musste sich Bonn von den Erwartungen von Millionen Vertriebenen aus Mittel- und Osteuropa freimachen, die eine Rückkehr in ihre verlorenen Heimatländer forderten. Die BRD musste auch die Hallstein-Doktrin aufgeben, die verlangte, dass Westdeutschland die Beziehungen zu jedem Staat abbrechen würde, der die DDR anerkannte, weil deren Regierung nicht durch freie Wahlen zustande gekommen war. Die Aufnahme West- wie Ostdeutschlands in die Vereinten Nationen 1973 war die logische Fortsetzung der neuen Annäherungspolitik, auch wenn das dem ideologischen Wettbewerb beider Staaten in den Entwicklungsländern noch kein Ende bereitete. Indem die westdeutsche Regierung die Nachkriegsgrenzen im Helsinki-Abkommen von 1975 als unveränderlich akzeptierte, signalisierte sie den sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa, dass die propagandistische sowjetische Behauptung des „Revanchismus“ falsch war. Die Auffassung, dass nur „Wandel durch Annäherung“ den Eisernen Vorhang durchlässiger machen könnte, lief jedoch Gefahr, die DDR vorübergehend zu stabilisieren und deutsche Gebietsverluste ohne Gegenleistung festzuschreiben. In der anhaltenden Hoffnung auf eine gewaltsame Zurückdrängung des Kommunismus war die konservative Opposition in Bonn daher nicht bereit, auf eine Verbesserung der Beziehungen zu setzen. Dennoch war die sozialliberale Ostpolitik auf lange Sicht ein voller Erfolg, denn ihre „Aggression auf Filzlatschen“ destabilisierte die DDR von innen, während sie den östlichen Nachbarn versicherte, dass die Versöhnung mit Deutschland ihren Weg zur Rückkehr nach Westeuropa öffnen würde.[44]

Das Ergebnis der Westintegration und der Versöhnung mit dem Osten war die Rückkehr der Bundesrepublik Deutschland als dem legitimen deutschen Staat auf die weltpolitische Bühne. Ende der 1980er Jahre hatte sich die DDR den Platz als zehntgrößte Industrienation der Welt erkämpft und konnte sich der Anerkennung durch weit über hundert Länder rühmen. Dennoch verblieb sie immer im Schatten ihres größeren westlichen Verwandten. Bei einigen linken Regimen in Entwicklungsländern war Ost-Berlin beliebter, da es zivile Helfer und Militärberater entsandte, die dieselbe Ideologie teilten. Aber für die meisten seiner wirtschaftlichen und politischen Partner war Bonn attraktiver, wegen seiner größeren Finanzkraft in der Entwicklungshilfe und wegen seiner weniger aufdringlichen Ideologie. Aufgrund der begrenzten Größe der Bundeswehr und deren Charakters als Armee von „Bürgern in Uniform“ agierte die Bundesrepublik als „zivile Macht“ und entschied sich, ihre Interessen ohne Anwendung militärischer Gewalt durchzusetzen. Stattdessen bewegte sich Bonn im multilateralen Rahmen der Europäischen Union, der NATO und der Vereinten Nationen und zog Verhandlungen und finanzielle Anreize vor, um sich zu behaupten. Auf internationalen Konferenzen zu verschiedenen Themen wurde Westdeutschland zunehmend miteinbezogen. Mit einem selbstkritischen Bild der Bundesrepublik betrieben das Goethe-Institut, der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Humboldtstiftung und andere westdeutsche Organisationen im Ausland eine Kulturpolitik, die glaubwürdiger war als die ideologische Propaganda des Ostens.[45]

7. Stabilität oder Niedergang

Der Zeitraum zwischen 1961 und 1989 war geprägt von einer paradoxen Umkehrung des Schicksals: Die Vertiefung der Feindseligkeit führte zu einer Annäherung, welche die spätere Vereinigung vorbereitete. Im Bereich der internationalen Beziehungen schienen der Bau der Mauer, der Beitritt beider deutscher Staaten zu den Vereinten Nationen 1973 und die internationale Anerkennung der DDR die Teilung des Kontinents in zwei feindliche Blöcke zu besiegeln. Gleichzeitig gelang es der westdeutschen Deutschland- und Ostpolitik, die Grenze durch die Zunahme zwischenmenschlicher Kontakte durchlässiger zu machen. Zahlungen aus der Bundesrepublik ließen die SED von westlichen Krediten abhängig werden. Obwohl die DDR eine bewusste Abgrenzungspolitik vom Westen betrieb, übernahmen beide Staaten schließlich eine „Verantwortungsgemeinschaft“ für den Frieden. Die Anerkennung der europäischen Grenzen dämpfte die Angst vor einem deutschen Revanchismus. Zugleich schützte die Schlussakte von Helsinki von 1975 jene Menschenrechte, die den osteuropäischen Dissidenten entscheidenden Raum zum Atmen gaben. Ausgerechnet die Anerkennung der Ordnung des Kalten Krieges durch die Bundesrepublik stellte somit eben jene Kommunikation und Kooperation zwischen Ost und West wieder her, die schließlich den Weg zu ihrer Überwindung ebneten.[46]

Auch die innenpolitische Entwicklung verlief überraschend, denn während die umkämpfte Bundesrepublik der 1960er Jahre ihre Legitimität festigte, begann die scheinbar solide DDR zu zerfallen. In den 1960er Jahren kritisierte die Neue Linke die westdeutsche Autoritätsgläubigkeit heftig und forderte mehr partizipative Demokratie sowie wirtschaftliche Gleichberechtigung und soziale Sicherheit. Doch die Bonner Republik trotzte der Herausforderung des Generationenkonfliktes und dem Angriff durch den Terrorismus der RAF (Rote Armee Fraktion) mit einer Mischung aus Reformen und Polizeiaktionen. Letzten Endes wurde die parlamentarische Demokratie durch die Bürgerproteste sogar gestärkt, indem diese sie reaktionsschneller werden ließ. Im Gegensatz dazu machte die militärische Unterdrücken der Reformbemühungen in der Tschechoslowakei durch den Warschauer Pakt alle Hoffnungen auf eine marxistische Selbsterneuerung unter ostdeutschen Kommunisten zunichte, wodurch die utopische Ideologie ihre Anziehungskraft verlor. Darüber hinaus führte Honeckers „Fürsorgediktatur“ langfristig zu wirtschaftlicher Stagnation, und die Mehrheit der Ostdeutschen verlor schließlich den Glauben in die materiellen Versprechungen der SED.[47] Obwohl die Bürger Wege fanden, sich an die ungezügelte staatliche Kontrolle anzupassen und diese zu umgehen, bewegte die Verweigerung grundlegender Rechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit immer mehr Dissidenten zum Handeln.

Im wirtschaftlichen Bereich gelang es dem Westen ebenfalls besser als dem Osten, mit den unvorhergesehenen Herausforderungen der technologischen und strukturellen Modernisierung fertig zu werden. Das anhaltende Nachglühen des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders ermöglichte es der SPD, im Wahlkampf 1976 noch mit dem stolzen Schlagwort des „deutschen Modells“ von sozialem Frieden und betrieblicher Mitbestimmung zu werben. Doch die Ölkrisen von 1973 und 1979, die Verlagerung der Produktion in die asiatischen Tigerstaaten und der Übergang zu einer Dienstleistungswirtschaft zerstörten die traditionellen Industrien wie Textil, Kohlebergbau, Stahlproduktion und Schiffbau und führten gleichzeitig zu einer Zunahme der strukturellen Arbeitslosigkeit. In der DDR versäumten es die großen Industrieunternehmen, die Kombinate, sich an ein sich veränderndes internationales Wirtschaftsumfeld anzupassen; außerdem überforderten die Ausweitung der Sozialleistungen und die Umstellung auf Konsumgüter das System. Durch regulierten Wettbewerb gelang es der BRD, den schmerzhaften Übergang von einer hochindustriellen zu einer postindustriellen Wirtschaft zu meistern, während die DDR-Planwirtschaft an der Umstellung auf Hochtechnologien scheiterte.[48]

Angesichts unerwarteter sozialer Veränderungen erwies sich die pluralistische Gesellschaft des Westens als anpassungsfähiger als das streng kontrollierte SED-System im Osten. Obwohl die ältere Generation auf beiden Seiten der Grenze von der grellen amerikanischen Populärkultur schockiert war, konnten sich westliche Eliten schließlich dazu durchringen, Rockmusik und Hollywood-Filme zu tolerieren, während die Sittenrichter im Osten mit Repression reagierten und dadurch die Wahl des Lebensstils politisierten.[49] Unabhängig von Ort und Ideologie lehnten patriarchalische Männer die Versuche von Frauen ab, gleiche Rechte zu erlangen. Im Westen gelang es den Frauenrechtlerinnen jedoch, eine theoretische Kritik zu äußern und sich zu organisieren, während im Osten die Unterstützung angeblich wohlmeinender Männer darauf abzielte, den politischen Einfluss von Frauen zu kontrollieren und zu steuern. Obwohl keiner der beiden Staaten die Kritik von Umweltschützern begrüßte, waren ihre Antworten unterschiedlich: Die Gerichte der BRD boten den Demonstranten zumindest einen gewissen Schutz vor polizeilicher Brutalität, während die Demonstranten in der DDR kriminalisiert wurden. Gleichzeitig hielten die meisten Politiker und Soldaten auf beiden Seiten der Grenze die Friedensbewegung für zu idealistisch, aber Pazifisten im Westen konnten öffentlich protestieren, während sie im Osten unterdrückt wurden.[50]

Bei aller Kommerzialisierung brachte die verwestlichte Hoch- und Popkultur schließlich eine attraktivere Version der modernen deutschen Identität hervor als die sowjetisierte Bildungsdiktatur der DDR. Auf lange Sicht gesehen erwies sich die Selbstbefragung im Westen, die durch Kritik an der unzureichenden Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Gang gesetzt worden war, als erfolgreicher für die Einhaltung der Menschenrechte als der von oben befohlene Antifaschismus im Osten. Auch wenn die Offenheit für internationale Einflüsse „deutsche“ Wesenszüge zuweilen zu überdecken drohte, erlaubte es gerade die Empfänglichkeit für amerikanische, britische und französische Ideen und Stilrichtungen, mit der Tradition eines deutschen Sonderwegs zu brechen und die Bundesrepublik kulturell und politisch im Westen zu verankern. Im Gegensatz dazu drang der von der Sowjetunion geförderte marxistische Internationalismus nicht sehr tief ins kollektive Bewusstsein ein und konnte das Gefühl deutscher Überlegenheit im Ostblock nicht beseitigen. Ironischerweise betrachteten westliche Beobachter wie Günter Gaus die DDR als den traditionelleren „deutschen“ Staat. Letzten Endes führten die langfristigen Lernprozesse, die durch die Gräuel des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs ausgelöst worden waren, im Westen zur Wiederherstellung einer lebendigen Zivilgesellschaft, die sich in vorteilhaftem Kontrast zum repressiven Charakter des sozialistischen Experiments im Osten präsentierte.

Konrad H. Jarausch und Helga A. Welsh
Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Katharina Böhmer

Anmerkungen

[1] Hans-Günter Hockerts, „Zeitgeschichte in Deutschland: Begriff, Methoden, Themenfelder“, Aus Politik und Zeitgeschichte, 1993, B29–30, 3–19; Christoph Kleßmann, „Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung“, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2002, B51/2, 3–12; sowie Thomas Lindenberger und Martin Sabrow, Hrsg., German Zeitgeschichte: Konturen eines Forschungsfeldes (Göttingen, 2016).
[2] Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit: Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart (München, 2009); sowie Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert (München, 2014).
[3] Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow, Hrsg., Verletztes Gedächtnis: Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt (Frankfurt, 2002); sowie Jeffrey Herf, Divided Memory: The Nazi Past in the Two Germanys (Cambridge, MA, 1997).
[4] Ian Kershaw, The Nazi Dictatorship: Problems and Perspectives of Interpretation. 4. Aufl. (New York, 2000); Corey Ross, The East German Dictatorship: Problems and Perspectives in the Interpretation of the GDR (New York, 2002); sowie Mary Fulbrook, Anatomy of a Dictatorship: Inside the GDR, 1949–1989 (Oxford, 1995).
[5] Konrad H. Jarausch und Michael Geyer, Shattered Past: Reconstructing German Histories (Princeton, 2003).
[6] Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Von der Gründung bis zur Gegenwart (München, 1999); sowie Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949–1990 (München, 1998).
[7] Peter Bender, Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland (München, 1996); sowie Konrad H. Jarausch, „‚Die Teile als Ganzes erkennen‘. Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten“, Zeithistorische Forschungen 1 (2004), 10–30. Cf. Frank Bösch, Hrsg., Geteilte Geschichte: Ost und Westdeutschland 1970–2000 (Göttingen, 2015); Udo Wengst und Hermann Wentker, Hrsg., Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz. Eine Veröffentlichung des Instituts für Zeitgeschichte (Berlin, 2008).
[8] Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990 (München, 2004).
[9] Heinrich-August Winkler, Der lange Weg nach Westen. 4 Bde. (München, 2000); Konrad H. Jarausch und Hannes Siegrist, Hrsg., Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970 (Frankfurt, 1997).
[10] Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945 (München, 2004) sowie André Steiner, The Plans that Failed: An Economic History of the GDR (New York, 2010).
[11] Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie: Geschichte der Bundesrepubik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart (Stuttgart, 2005).
[12] Axel Schildt u. a., Hrsg., Dynamische Zeiten: Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften (Hamburg, 2000); Jan-Werner Müller, Hrsg., German Ideologies since 1945: Studies in the Political Thought and Culture of the Bonn Republic (New York, 2003).
[13] Christian Hacke, Weltmacht wider Willen: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland (Frankfurt, 1993); Joachim Scholtysek, Die Außenpolitik der DDR (München, 2003); Gareth M. Winrow, The Foreign Policy of the GDR in Africa (Cambridge und New York, 1990).
[14] Hans-Herrmann Hertle, Konrad H. Jarausch und Christoph Kleßmann, Hrsg., Mauerbau und Mauerfall. Ursachen – Verlauf – Auswirkungen (Berlin, 2002); A. James McAdams, East Germany and Detente: Building Authority After the Wall (Cambridge und New York, 1985).
[15] Scott Krause, “Outpost of Freedom: A German-American Network’s Campaign to bring Cold War Democracy to West Berlin, 1933–66” (Diss. Chapel Hill, 2016).
[16] Edith Sheffer, Burned Bridge: How East and West Germans Made the Iron Curtain (New York, 2011); sowie Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke, Hrsg., The Victims at the Berlin Wall 1961–1989: A Biographical Handbook (Berlin, 2011).
[17] Timothy Garton Ash, In Europe’s Name: Germany and the Divided Continent (New York, 1993); Mary E. Sarotte, Dealing with the Devil: East Germany, Détente, and Ostpolitik, 1969–1973 (Chapel Hill, 2001).
[18] Konrad H. Jarausch, „Nation ohne Staat: Von der Zweistaatlichkeit zur Vereinigung“, Praxis Geschichte 13 (2000), 6–11; A. James McAdams, Germany Divided: From the Wall to Reunification (Princeton, 1993).
[19] Arndt Bauerkämper, Konrad H. Jarausch und Markus Payk, Hrsg., „Demokratiewunder:“ Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands (Göttingen, 2005).
[20] Dennis L. Barck und David A. Gress, A History of West Germany. 2. Aufl., 2 Bde. (London, 1993).
[21] Mary Fulbrook, Hrsg., Power and Society in the GDR, 1961–1979: The “Normalisation of Rule'”? (New York, 2009); Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker: Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen von 1962 bis 1972 (Berlin, 1997).
[22] Steiner, The Plans that Failed, passim.
[23] Peter Merseburger, Willy Brandt 1913–1992: Visionär und Realist (Stuttgart, 2002); Barbara Marshall, Willy Brandt: A Political Biography (New York, 1997).
[24] Jens Gieseke, The History of the Stasi: East Germany's Secret Police, 1945–1990 (New York, 2014).
[25] Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR, 1971–1989 (Berlin, 1999); Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Berlin, 1997) sowie Christian Joppke, East German Dissidents and the Revolution of 1989: Social Movement in a Leninist Regime (New York, 1995).
[26] Hans-Günter Hockerts, Hrsg., Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit: NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich (München, 1998).
[27] Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft (Stuttgart, 2000); Hanna Schissler, Hrsg., The Miracle Years: A Cultural History of West Germany, 1949–1968 (Princeton, 2001).
[28] Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge (München, 2001); sowie Klaus Bade, Migration in European History (Malden, MA, 2003).
[29] Cornelia Wilhelm, Hrsg., Migration, Memory, and Diversity: Germany from 1945 to the Present (New York, 2017).
[30] Konrad H. Jarausch, Hrsg., Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte (Göttingen, 2008); sowie Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, Nach dem Boom: Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3. Aufl. (Göttingen, 2012).
[31] Gerold Ambrosious, Wirtschaftsraum Europa: Das Ende der Nationalökonomien (Frankfurt, 1996); sowie John Gillingham, European Integration, 1953–2003: Superstate or New Market Economy? (London, 2003).
[32] Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur (Hamburg, 2000); Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA (München, 2001) sowie Carole Fink, Philipp Gassert und Detlev Junker, Hrsg., 1968: The World Transformed (Cambridge und New York, 1999).
[33] Ute Frevert, Women in German History: From Bourgeois Emancipation to Sexual Liberation (Oxford, 1989).
[34] Andrei Markovits und Philip S. Gorski, The German Left: Red, Green and Beyond (New York, 1993); Gene E. Frankland und Donald Schoonmaker, Between Protest and Power: The Green Party in Germany (Boulder, 1992).
[35] Jeffery Herf, War by Other Means: Soviet Power, West German Resistance, and the Battle of the Euromissiles (New York, 1991); sowie Holger Nehring, Politics of Security: British and West German Protest Movements and the Early Cold War, 1945–1970 (Oxford, 2013).
[36] 50 Jahre documenta, 1955–2005 = 50 years documenta, 1955–2005 (Göttingen, 2005); Martin Jay, The Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923–1950. 2. Aufl. (Berkeley, 1996).
[37] Eli Rubin, Amnesiopolis: Modernity, Space, and Memory in East Germany (Oxford, 2016); sowie Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis: Geschichte der Konsumkultur in der DDR (Köln, 1999).
[38] Uta Poiger, Jazz, Rock, and Rebels: Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany (Berkeley, 2000); sowie Bodo Mrozek, Popgeschichte (Bielefeld, 2014).
[39] Konrad H. Jarausch, „Das Humboldt-Syndrom: Die westdeutschen Universitäten 1945 –1989 – Ein akademischer Sonderweg?“ sowie John Connelly, „Humboldt im Staatsdienst. Ostdeutsche Universitäten 1945–1989“, in Mitchell G. Ash, Hrsg., Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten (Wien, 1999), 58–104.
[40] Herman Glaser, Kleine deutsche Kulturgeschichte. Eine west-östliche Erzählung vom Kriegsende bis heute (Frankfurt, 2004). Vgl. Charles S. Maier, The Unmasterable Past: History, Holocaust and German National Identity (Cambridge, MA, 1988).
[41] Helmut Meier und Walther Schmidt, Hrsg., Erbe und Tradition in der DDR: Die Diskussion der Historiker (Berlin, 1988). Vgl. Konrad H. Jarausch, „Die postnationale Nation: Zum Identitätswandel der Deutschen 1945–1995“, Historicum (Frühjahr 1995), 30–35.
[42] Helga Haftendorn, Coming of Age: German Foreign Policy since 1945 (Lanham, 2006); sowie Volker Benkert, Hrsg., Feinde, Freunde, Fremde? Deutsche Perspektiven auf die USA (München, 2017).
[43] Desmond Dinan, Europe Recast: A History of European Union. 2. Aufl. (Boulder, 2014); sowie Kiran Klaus Patel, Fertile Ground for Europe? The History of European Integration and the Common Agricultural Policy since 1945 (Baden-Baden, 2009).
[44] Ash, In Europe’s Name, passim; sowie Katarzyna Stoklosa. Polen und die deutsche Ostpolitik 1945–1990 (Göttingen, 2011).
[45] Frank Trommler, Kulturmacht ohne Kompass: Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert (Köln, 2014).
[46] Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe: Geschichte des geteilten Deutschland (Berlin, 2000); sowie Mary Fulbrook, The People’s State: East German Society from Hitler to Honecker (New Haven, 2005).
[47] Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik; sowie Konrad H. Jarausch, Hrsg., Dictatorship as Experience: Towards a Socio-Cultural History of the GDR (New York, 1999).
[48] Werner Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1989 (Frankfurt, 1983); Andre Steiner, „Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang: Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR“, in Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow, Hrsg., Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR (Göttingen, 1999); Jeffrey Kopstein, The Politics of Economic Decline in East Germany, 1945–1989 (Chapel Hill, 1997) sowie Charles S. Maier, Dissolution. The Crisis of Communism and the End of East Germany (Princeton, 1997).
[49] Dorothee Wierling, Geboren im Jahr Eins: Der Jahrgang 1949 in der DDR: Versuch einer Kollektivbiographie (Berlin, 2002); Uta G. Poiger, „Rock ’n’ Roll, Female Sexuality, and the Cold War Battle over German Identities“,Journal of Modern History 68 (1996), 577–616.
[50] Donna Harsch, Revenge of the Domestic: Women, the Family, and Communism in the German Democratic Republic (Princeton, 2007); Paul Betts, Within Walls: Private Life in the German Democratic Republic (Oxford, 2010).
Empfohlene Zitation: Konrad H. Jarausch, Helga A. Welsh: Zwei deutsche Staaten (1961-1989). Einleitung, veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:introduction-9> [04.11.2024].