Kurzbeschreibung

Bis zum Fall der Berliner Mauer ließen Graffiti-Künstler das hässliche Symbol der Spaltung menschlicher werden, indem sie Kunst auf dessen westliche Seite sprühten, oftmals solche, mit der sie sich über das ostdeutsche Regime lustig machten oder die Hoffnung auf seinen Umsturz zum Ausdruck brachten.

Mauerkunst (1990)

Quelle

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Mauer verpaßt – Kunst verpaßt

Wie eine versteinerte Schlange, anfangs nur strichweise gemustert, zuletzt vielfach grell­scheckig gesprenkelt, durchschneidet die Mauer die Berliner Stadtlandschaft. Bevor sie Ende der 70er Jahre ihr heutiges Aussehen erhielt, durchlief sie die Stadien des Stacheldrahtzauns und der Backsteinmauer, die ab 1963 nach und nach durch Betonplatten ersetzt wurden. Als ein Un-Bau der Architekturgeschichte folgt selbst die Mauer mit ihrer Dreiteilung in Sockel, Wandfläche und Betonrolle als Kapitell der tradierten, in der Antike wurzelnden Säulenordnung. Am Anfang war die Mauer wüst und leer, und vereinzelte Graffitiparolen sprangen ins Auge. Ende der 60er Jahre hatte die Studentenbewegung visuelle Agitationsmedien wie Flugblatt, Plakat, Transparent und auch Wandparolen für sich neu entdeckt und verbreitete sie. Doch erst mit der Spontibewegung und den Hausbesetzern setzte zusammen mit Touristen- und Kinderkritzeleien Ende der 70er Jahre die Tätowierung der Mauer ein. Die auf Dauer angelegte „Modernisierung“ bedeutete die Errichtung einer nackten homogenen Wand, die spontane Reaktionen provozierte und zu einem qualitativen Sprung bildnerischer Ausdrucksformen führte. Die Mauer verwandelte sich im Laufe der Zeit in ein Abbild und Stimmungsbarometer des Zeitgeistes, weniger des herrschenden als des opponierenden.

Die 80er Jahre

Simuliert durch die Aktionen einzelner Künstler, nehmen besonders in den 80er Jahren die bildlichen Darstellungen zu. Aus der Beschaffenheit des Bildträgers und den Arbeitsbedin­gungen entwickelt sich eine eigene Mauerästhetik. Die Freiheitsstatuen von Boucher und Noir machen deutlich, wie vielfach die regelmäßige Vertikalgliederung der Mauer durch die Fugen der Betonplatten als Format übernommen oder kompositorisch genutzt wird.

Andere Mauermaler, wie Keith Haring mit seiner 100m langen Figurenkette, werden gerade durch die endlos scheinende Breite der Malfläche zu mäanderartigen Bilderbändern motiviert, oder es entstehen Panoramabilder, so in den Gemeinschaftsarbeiten von Boucher und Noir.

Eckige Figuren, Zeichen und Farben einer Darstellung am Bethaniendamm/Ecke Adalbert­straße erinnern an die Malereien mexikanischer Frühkulturen, wo Wandmalerei und Architektur­bemalung als wichtige Informationsquellen Tradition haben. Die Bildbegrenzung durch die Fugen der Mauer wird hier durch die zusätzliche Gestaltung des Sockels unterstützt.

Sockel und „Rolle“, als besonders exponierte Teile der Mauer, bekommen oft dekorative oder rahmende Funktion. Die nur mit Mühe erreichbare und zur Fluchterschwerung gedachte „Rolle“ ist meist Beschriftungen Vorbehalten, wie Titel oder Signatur der Urheber.

Daneben finden sich aber ungezählte Darstel­lungsformen, die völlig unabhängig von Formaten und anderen Gegebenheiten der Mauer sind. Dazu gehören besonders Schablo­nenbilder, Piktogramme, Symbole, Einzelfiguren, Texte und Graffiti.

Künstlerischen Techniken sind auf der Mauer kaum Grenzen gesetzt: mit Kreide oder Filzstift gezeichnet, mit Pinsel oder Rolle gemalt, mit der Sprühdose gespritzt, Relief- oder Mosaikarbeiten. An Stellen, wo die Mauer eng an Wohnhäusern vorbeizieht, kann die leblose graue Wand durch Begrünung und applizierte Objekte wie Fenster und Blumenkästen zum Gartenzaun werden und zur Stadtrandidylle mutieren.

In der „Deutschstunde“, einen Roman von Siegfried Lenz zitierend, werden sogar Objekte in Bezug zur Mauer gestellt, hier ein Schülerpult vor einer auf die Mauer gemalten Tafel. Nachhilfestunden für Politiker, Bürger und Touristen, über Mauern, Grenzen und Blöcke hinauszudenken.

Bei aller Vielfalt der künstlerischen Äußerungen und Ausdrucksformen gibt es motivische Konstanten, die mit Bedeutung und Funktion der Mauer Zusammenhängen. Symbole des Sich- Öffnens, der Hoffnung auf Überwindung der Grenzen, der Wunsch, die Mauer durchsichtig zu machen, stehen an erster Stelle. In Reißverschluß, Loch, Tür, Leiter oder Treppe vergegen­ständlichen sie sich. Der Blick durch die Mauer begegnet freundlichen Gesichtern, idyllischer Landschaft, einer besseren Welt.

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Quelle: Heinz J. Kuzdas mit Michael Nungesser, Berliner Mauer Kunst. 4 veränderte Aufl. Berlin: Elefanten Press, 1990, S. 10–14.

Mauerkunst (1990), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-5032> [26.04.2024].