Kurzbeschreibung

Die Schädigung der Wälder durch den sauren Regen – von wachstumsorientierten Politikern lange ignoriert – wurde zu einem zentralen Thema im Bundestagswahlkampf, als führende Medienorgane sich dem Chor der Warnungen vor einem bevorstehenden ökologischen Desaster anschlossen und das Ende des romantischen Naturerlebens und Freizeitwanderns prophezeiten.

Warnungen in den Medien vor „Waldsterben und saurem Regen“ (1983)

Quelle

Wir stehen vor einem ökologischen Hiroschima

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Neuerdings kommen Umweltschützer, die seit Mitte der sechziger Jahre vor einem Zusammenbruch der Wälder gewarnt haben und stets als Phantasten verlacht worden waren, aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Plötzlich, wundert sich der württembergische Naturschutz-Funktionär German J. Krieglsteiner, „verwenden die Politiker aller Couleur unsere Formulierungen, oftmals wortwörtlich“. Krieglsteiner beschleicht eine böse Ahnung: „Hoffentlich“, schrieb er an den CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, „ist das nicht nur Wahlkampf-Propaganda, die am 7. März vergessen ist.“ Doch aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängen läßt sich das stille Sterben nicht mehr. Die Frage ist nur noch, ob es für den deutschen Wald „fünf Minuten vor zwölf“ ist, wie der Münchner SPD-Abgeordnete Hans Kolo meint, oder „schon fünf nach zwölf“, was Joachim Pampe für möglich hält, Hauptgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände.

Pampe glaubt, daß es in der Bundesrepublik „zu Waldschäden kommt, die irreparabel sind“. „Intensität und Ausdehnung der Schäden“, meldet der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), „nehmen galoppierend zu.“ Die Fläche der erkrankten Wälder habe sich „in weniger als einem Jahr bundesweit verdoppelt“, gefährdet sei das Überleben Hunderter von Tier- und Pflanzenarten, die auf den Lebensraum Wald angewiesen sind: „Für dieses Sterben ist der Ausdruck ‚ökologischer Holocaust‘ wohl nicht zu stark.“

Der Wald stirbt längst nicht mehr nur in den sogenannten Staulagen der Mittelgebirge, wo Luft-Schmutz sich mit Regen, Schnee und Nebel besonders massiv niederschlägt. Auch auf dem flachen Land, etwa im Sachsenwald bei Hamburg, verringert sich die Lebensfähigkeit der Fichte neuerdings „in beunruhigender Weise“, wie Professor Eberhard Brünig, Leiter des Bergedorfer Instituts für Weltforstwirtschaft, feststellt. Hamburgs Junge Union plagt die Vision, „in zehn Jahren im Sachsenwald auf Baumleichen zu treffen“.

Als das Bonner Agrarministerium im letzten Sommer erstmals eine bundesweite Öko-Inventur anordnete, meldeten die Forstdienststellen, 562 000 Hektar, die doppelte Fläche des Saarlandes und 7,7 Prozent des bewaldeten Drittels der Republik, seien bereits geschädigt. Doch mittlerweile ist diese Zahl von der Realität weit überholt; nach Schätzung des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) sind bereits rund 30 Prozent der Waldfläche betroffen.

Gut möglich. Denn zum einen waren die Daten im Sommer, so Diethard Altrogge von der Höheren Forstbehörde in Münster, „unter Zeitdruck nur zusammengestoppelt“ und überdies von Bediensteten erhoben worden, die für eine Erkennung „schleichender Frühschäden“ (Hessens Regierung) nicht hinreichend geschult waren; nach einer Aufzeichnung des Ertl-Ministeriums wurde der Schaden bereits damals intern als „wahrscheinlich wesentlich höher“ eingeschätzt. Zum anderen markieren die offiziellen Bonner Zahlen schon wegen des Tempos der Schadensausweitung nur „die Spitze des Eisbergs“ (Altrogge).

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Während der Tannen-Tod nur in Bayern und Baden-Württemberg grassieren kann, weil diese Baumart in anderen Bundesländern kaum vorkommt, kränkeln die Fichte sowie neuerdings selbst die als robust eingeschätzte Buche und die Eiche in Nord- wie in Süddeutschland, und auch Ahorn, Vogelbeere und Linde, Heidelbeer-, Himbeer- und Brombeersträucher gehen vielerorts ein.

Die Katastrophe läßt sich nicht länger verharmlosen. Nach „anhaltenden Versuchen des Leugnens, Abwiegelns, Herunterspielens“, so heißt es in einer soeben erschienenen kritischen Bestandsaufnahme, reagierten die Politiker wie stets in solchen Fällen:

Phase I: Das Problem wird als nicht existent behandelt.

Phase II: Das Problem wird abgewiegelt nach dem Motto: So schlimm ist es auch wieder nicht.

Phase III: Man rechtfertigt sich selbst mit dem Hinweis, andere verhielten sich ebenso.

Phase IV: Es werden zusätzliche Sündenböcke im eigenen Land präsentiert; am Waldsterben sind dann die Kernkraftgegner mit- oder hauptschuldig.

Phase V: Das Thema wird – in der Sprache des Verbalimperialismus – „besetzt“; außerdem wird erklärt, es habe schon immer hohe Priorität gehabt. Es werden Maßnahmen ergriffen, die hinter dem zurückbleiben, was notwendig und möglich ist.

Mittlerweile haben die Umweltverantwortlichen von Phase II je nach Bundesland auf III, IV oder V umgeschaltet.

Bayerns Landwirtschaftsminister Hans Eisenmann, der noch 1981 kritischen Forstkundlern unterstellt hatte, sie verbreiteten Panik, um Staatsgelder für Forschungsaufträge zu bekommen, erklärte vorletzte Woche bei einem Hearing, daß im Freistaat nun Fichten „in einem bisher nicht vorstellbaren Ausmaß“ geschädigt seien. Eisenmann: „Damit haben die Krankheitserscheinungen auf den größten Teil des Landes übergegriffen.“

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Wenn die Entwicklung nicht gestoppt werde, warnt auch der BUND, stehe ganz Deutschland „Entwaldung und damit Versteppung und Verkarstung“ bevor – eine Möglichkeit, die sich freilich dem Vorstellungsvermögen von Bundesbürgern entzieht, die im letzten Sommer noch in vermeintlich heilen Wäldern spazierengegangen sind.

In der Provinz argwöhnen Journalisten denn auch bisweilen noch, „die Horrorvision von der schrecklichen Säuresteppe“ sei „schiere Spinnerei“ (so die im Niedersächsischen erscheinende „Jesteburg-Hanstedter Zeitung“). Daß die Anfangsstadien des Waldsterbens mit Laienaugen nicht wahrnehmbar sind, daß die Katastrophe erst zum Politikum wird, wenn, nach jahrelanger Inkubationszeit, die Schäden irreparabel sind – dies macht die Tücke und die Tragik eines neuen Typs von Umweltgefahren aus.

„In den sechziger Jahren“, sagt der Sozialdemokrat Duve, „hatten wir es mit der Umweltverschmutzung zu tun, beispielsweise mit dem Müll im Wald, den man sehen und anpacken konnte.“ Nun aber seien Politiker mehr und mehr Fällen von heimlicher Umweltvergiftung konfrontiert – und damit überfordert.

Unsichtbar sind die Gifte, die dem Wald in ganz Mitteleuropa zusetzen und die dazu geführt haben, daß sich der Säuregrad des Regens binnen zwanzig Jahren vielerorts verhundertfacht hat: bei der Verbrennung fossiler Energien in Kraftwerken und Kraftfahrzeugen entweichende Schadstoffe, die, zumal wenn sie durch superhohe Schornsteine in die Zonen ewigen Windes befördert werden, sich selbst in industriefernen Regionen niederschlagen.

Als Verursacher des Waldsterbens verdächtig sind derzeit 186 Stoffe, darunter Fluor, Stickoxide, Schwermetalle, Chlorwasserstoff, vor allem aber Schwefeldioxid (SO2). Von dem mengenmäßig gewichtigsten Schadstoff steigen alljährlich 3,5 Millionen Tonnen aus westdeutschen Schloten empor, genug, um 130 000 Güterwagen zu füllen, pro Einwohner fast ein Zentner. Die höchsten SO2-Konzentrationen finden sich, entsprechend der Hauptwindrichtung, nordöstlich von Industriezentren

Nur unter dem Mikroskop ist wahrnehmbar, was der Giftregen, bisweilen sauer wie Essig, in der ersten Phase des Waldsterbens an Wurzeln und Blattwerk anrichtet. Im versauerten Waldboden gelöste Metalle wie Aluminium vertreiben nützliche Bakterien und schädigen das Feinwurzelwerk, das die Bäume stützt und nährt. Zugleich greift (trockener oder nasser) Säureniederschlag die Blätter oder Nadeln an und stört die Photosynthese, mit der Pflanzen Licht, Wasser und Kohlendioxid in Zucker und Sauerstoff umwandeln.

Daß es mit am sauren Boden liegt, wenn Buchensamen nicht keimen, Bäume allmählich von innen verfaulen, schneller altern oder Schädlingen, Stürmen, Frost und Dürre nur wenig Widerstand entgegenzusetzen vermögen – auch das erschließt sich Spaziergängern meistens nicht. Naturferne Städter, die kaum eine Tanne von einer Fichte unterscheiden können, übersehen in der Regel auch, daß die unscheinbaren, hochsensiblen Flechten von den Bäumen verschwinden, daß die Borke sich vom Stamme löst, daß Nadeln vergilben und Kronen sich allmählich lichten.

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Wahrnehmbar allerdings, auch für Laien, ist das Endstadium des Waldsterbens – wenn durch die von Baumart zu Baumart, von Baumindividuum zu -individuum, von Standort zu Standort, von Jahr zu Jahr unterschiedliche Kombination von Luftverschmutzung und Bodenqualität, Witterungsbedingungen und Schädlingsbefall der Baumbestand vollends zerstört ist

Im tschechischen Erzgebirge, im Dunstkreis von Braunkohle-Kraftwerken und Hydrieranlagen, ist dieser Zustand eingetreten: Auf Zehntausenden von Hektar stehen dort, nur eine Autostunde von der bayrischen Staatsgrenze entfernt, dürre, graue Holzskelette, die kaum mehr als ehemalige Fichten zu identifizieren sind.

Auf den Höhen des Erzgebirges, einst eine der üppigsten Waldlandschaften im Herzen Europas, ist die Vegetation nach anderthalb Jahrzehnten währendem Siechtum binnen kürzester Zeit gleichsam umgekippt, offenbar unwiderruflich: In den verseuchten Bergen, in denen kaum ein Vogel singt, kein Tourist spaziert und das Quellwasser ungenießbar ist, sterben Neuaufforstungen nach kurzer Zeit ab, und auf Acker- und Gartenland gedeihen nur noch selten Kartoffeln, Roggen oder Gemüse.

Der BUND, der letztes Jahr eine Besichtigungstour durch die ökologischen Trümmerfelder im Erzgebirge unternahm, warnt: „Ein ähnliches Schicksal droht in den nächsten Jahren den Hochlagen des Bayerischen Waldes, des Oberpfälzer Waldes, des Fichtelgebirges, des Schwarzwaldes, des Harzes, aber auch unersetzbaren Wäldern des Flachlandes.“ Bereits „im Jahr 2000“, so auch Gerd Billen vom BBU, werde Westdeutschland „in weiten Teilen versteppt sein.“

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Quelle: „Wir stehen vor einem ökologischen Hiroschima“, Der Spiegel, Nr. 7, 14. Februar 1983, S. 76–84. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/politik/wir-stehen-vor-einem-oekologischen-hiroschima-a-48e5683b-0002-0001-0000-000014021118?context=issue. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

Warnungen in den Medien vor „Waldsterben und saurem Regen“ (1983), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-1122> [24.04.2024].