Quelle
10. Oktober 1938
Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Es ist neblig. Bald setzt sich dann die Kompanie in Marsch. Mit Gesang geht es durchs Dorf, über Lauterbach nach Mittelwalde. Dort stehen schon allerlei Leute, vor allem Schlachtenbummler. Die Einheimischen nehmen uns freudig in Empfang und werfen uns schon hier Blumen zu. Hinter Mittelwalde sammelt sich das Bat. Hinten am Horizont steigen auf den Kämmen Rauchwolken auf. Wahrscheinlich die letzten Zerstörungen der abziehenden Tschechen.
Und dann beginnt der große Marsch der Grenze entgegen. Um zwölf Uhr sollen wir sie überschreiten. Immer mehr Menschen stehen am Wegesrand, und von Kilometer zu Kilometer wächst die Begeisterung. Die Musik trifft ein, und die Fahne wird nach vorn gebracht. Immer näher geht es der Grenze zu, die Gegend wird immer bergiger. Wir müssen doch bald dort sein. Da kommt das letzte deutsche Dorf, hinter dem noch einmal gehalten wird und auch gegessen. Dann geht es weiter bergauf, bis endlich das deutsche Zollhaus auftaucht. 12 Uhr 45 haben wir die Grenze erreicht und der historische Augenblick ist für uns gekommen.
Das letzte Stück war verdammt schnell, denn infolge der langen Marschkolonne gab es zwischen den einzelnen Einheiten mit einem Male große Abstände, die immer größer wurden und nun wieder eingeholt werden sollten. Mit übergehangenem Gewehr ging es einige Kilometer im Gewaltmarsch, und wenn es nottat auch im Trab. Auch hier an der Grenze hat sich viel Volk eingefunden, die uns stürmisch begrüßen. Mit angezogenem Gewehr marschieren wir am General vorbei.
Kurz hinter der Grenze fängt das Kriegsgebiet an, soweit es dafür vorausbestimmt war, Bunker an Bunker, Drahtverhaue in rauhen Mengen. Links und rechts der Straßen liegen gesprengte Sperren, die abwechselnd in etwa 40 Meter auf jeder Seite der Straße angebracht waren. Die Wege selbst sind in unheimlichem Zustand. Teerstraßen gibt es wohl kaum. Das geht natürlich auf die Fußsohlen. Es wird nicht mehr lange dauern und wir fühlen jeden spitzen Stein, die zu tausenden auf der Oberfläche liegen.
Überall an den Straßen und Ecken stehen jetzt die Menschen, die uns freudig zuwinken. Doch es geht immer weiter. In Grulich, der ersten Stadt hinter der Grenze, begeisterter Empfang. Mit angezogenem Gewehr geht es wieder am General vorbei. Dicht gedrängt stehen die Menschen auf dem Marktplatz, kaum daß die Musik vor den Heilrufen der Bevölkerung zu hören ist. Das ist keine leere Begeisterung, das ist wahre Freude. Freude, wie sie wohl noch keiner von uns erlebt hat, und es wird uns dabei so ganz anders. Etwas Unbeschreibliches geht durch uns. Vielleicht ist es die Genugtuung, diesen unseren Brüdern und Schwestern helfen zu können. Und all das wiederholt sich in jedem Dorf, in jeder Stadt. Endlose Dörfer und immer größer werdender Jubel. Das letzte will man uns geben. Und wer nichts hat, der schenkt uns Blumen, Blumen und nochmals Blumen. Hunderte von Zigaretten fliegen in die Reihen, Kekse, Brötchen und belegte Brote, dazu Bier, Wein und Saft. Wir wissen nicht, wo wir das alles lassen sollen, und schließlich müssen wir ja heute noch ein ganzes Stück laufen. Alles ist deutsch und in unbeschreiblichem Freudentaumel. Und dann haben wir Grulich hinter uns. Es ist wunderbares Wetter. Die Sonne scheint, auch sie will ihr Schärflein hierzu beitragen. […]
Hin und her zieht sich die Straße, auf der ohne Unterbrechung die gewaltige Heersäule marschiert. Artillerie und Infanterie, Pferde und Menschen, ein endloser Zug. Und dazu scheint über allem die Sonne, die die weißen Häuser der Städte und Dörfer bis in weiteste Ferne aufleuchten läßt. Aber viele sind schon zu kaputt, um dieses wundervolle Bild in sich aufnehmen zu können. Sie sehen es nur, aber sie nehmen es nicht mit. Jetzt im Wald geht es in steilen Windungen immer höher. Und immer wieder wird es laut: „Wir müssen doch bald oben sein“. Im Osten steigt der Vollmond auf am sternklaren Himmel. Und so wie die Sonne am Himmel verschwand, so sind um uns die deutschen Menschen verschwunden. Abseits des Weges stehen einzelne Gruppen, dicht zusammengedrängt im Schatten der Bäume. Sie rufen uns nichts zu und sie winken auch nicht. Sie können ja kaum deutsch sprechen. Es sind Tschechen. Wir sind immer noch im tschechischen Gebiet. Kein Mensch läßt sich sehen.
Stunde auf Stunde geht es weiter. Vor Landskron wird noch einmal gehalten. Die guten Greifer kommen nach vorn ins erste Glied, denn in Landskron findet eine Ansprache des Generals statt. Wir sind alle restlos begeistert, es kann ja so kaum noch einer stehen. Und dann haben wir die Stadt erreicht. Es ist zehn Uhr. Aus allen Häusern hängen Hakenkreuzfahnen, wir sind wieder in einer deutschen Stadt. Auf dem Marktplatz nehmen wir Aufstellung. Es wird dem General gemeldet, und anschließend findet eine kurze Begrüßung durch den Bürgermeister und den Ortsgruppenleiter statt. Dann begrüßt unser General das befreite Sudetendeutschland. Wir hören nur mit halbem Ohr hin, denn wir haben zu tun, daß wir stehen können. Doch dann setzt der Jubel der Bevölkerung ein, die den Marktplatz dicht gedrängt umsteht. Es will kein Ende nehmen, und es muß erst Ruhe befohlen werden, damit wir unseren Griff ausführen können. Ein Vorbeimarsch bringt uns dann wieder auf die Landstraße. Und eine neue Begeisterung setzt ein. Voll von Menschen stehen die Straßen. Sie haben gewiß schon lange gewartet. Ja, sehr lange. Doch jetzt ist es soweit, jetzt können sie uns zuwinken, und die Kinder fassen uns an den Händen und laufen mit uns.
Quelle: Aufzeichnungen aus dem Tagebuch des Wehrmachtssoldaten Herbert Wetzig (1914-1942) aus Friedland/Nieder-Lausitz, Deutsches Historisches Museum, https://www.dhm.de/lemo/zeitzeugen/herbert-wetzig-der-einmarsch-ins-sudetenland-1938.html