Einführung

  • Volker Berghahn
  • Uta Poiger

Die in diesem Band enthaltenen Texte, Bilder und audiovisuellen Materialien zeichnen die Entwicklungen nach, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begannen und zur physischen Manifestation der deutschen Teilung führten: dem Bau der Berliner Mauer. Die 28 Kapitel reichen von der Entnazifizierung und den Kriegsverbrecherprozessen über die Politik der Alliierten, das Wirtschaftswunder und die Liebe der Deutschen zu Jazz und Blue Jeans bis hin zur Gründung der beiden konkurrierenden deutschen Staaten BRD und DDR und deren Verstrickung in den beginnenden Kalten Krieg. Unterschiedliche Entwicklungen nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern auch in gesellschaftlichen und kulturellen Strömungen spiegeln sich in den hier vorgestellten Quellen wider. Durch die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven aus offiziellen und inoffiziellen Dokumenten, Bild- und Filmmaterial soll dieser Zeitraum in seiner ganzen Komplexität und seiner Bedeutung für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte erfasst werden.

1. Die Gesamtstruktur dieses Bandes

Während sich frühere Bände mit der beunruhigenden Frage beschäftigten, wie die Deutschen eine der brutalsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts entstehen lassen konnten, konzentriert sich dieser Band darauf, wie sie aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs hervorgingen, um ihre Wirtschaft, Gesellschaft, ihr politisches System und ihre Kultur wieder aufzubauen. Schlüsselaspekte dieses Prozesses werden im vorliegenden Bericht vorgestellt und in den begleitenden Primärquellen, historischen Fotografien, Videoclips und anderem Bildmaterial näher untersucht. Bevor wir jedoch fortfahren, sind ein paar Worte über die Struktur dieses Bandes angebracht.

Die in Die Besatzungszeit und die Entstehung zweier Staaten, 1945-1961 enthaltenen Dokumente sind in achtundzwanzig Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel befasst sich mit den Planungen der Alliierten in den letzten Kriegsmonaten und der Politik der Alliierten nach der Niederlage Deutschlands. Es folgen verschiedene Abschnitte über den Wiederaufbau des politischen und wirtschaftlichen Lebens in Ost- und Westdeutschland. In diesen Abschnitten werden die wichtigsten innenpolitischen und internationalen Fragen behandelt, mit denen sich die beiden deutschen Staaten und die Besatzungsmächte in den 1950er Jahren bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 auseinandersetzten.

Die erste Hälfte des Bandes befasst sich hauptsächlich mit der Wirtschafts- und Politikgeschichte, der Außen- und Sicherheitspolitik und den Bevölkerungsbewegungen, die zweite Hälfte mit der Sozial- und Kulturgeschichte Ost- und Westdeutschlands in einem breiteren Rahmen. Geschlecht und Sexualität, Konsum, Populärkultur und so genannte moderne Lebensstile sind nur einige der behandelten Themen. Den Abschluss des Bandes bildet eine Auswahl westdeutscher Meinungsumfragen. Diese Umfragen bilden einen passenden Schlusspunkt, da sie zeigen, wie die Deutschen damals auf verschiedene Fragen zu einer Vielzahl der in den vorangegangenen Kapiteln angesprochenen Themen geantwortet haben.

Angesichts von Millionen von Dokumenten aus der Nachkriegszeit mussten wir sehr selektiv vorgehen. Die Frage nach dem Erbe des Nationalsozialismus – etwa die Konkurrenz zwischen kapitalistischer liberaler Demokratie und Staatssozialismus – prägte alle Aspekte des Lebens in Deutschland zwischen 1945 und 1961. Anders als in den Folgebänden gibt es daher kein eigenes Kapitel zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Vielmehr finden sich in den meisten Kapiteln des Bandes ausführliche oder beiläufige Hinweise auf den Nationalsozialismus und die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs.

Während die von uns ausgewählten Dokumente den Prozess des Wiederaufbaus in Ost und West sehr ausführlich beleuchten, stellt das in diesem Band enthaltene Bild- und Statistikmaterial eine ebenso reiche Informationsquelle dar. Wir möchten unsere Leser*innen ermutigen, sie in vollem Umfang zu nutzen und, wo immer möglich, Verbindungen herzustellen. Vor diesem Hintergrund werden wir zunächst einige allgemeine Überlegungen zur Nachkriegszeit anstellen, um einen größeren narrativen Rahmen und einige grundlegende Orientierungspunkte zu geben.

2. Die Situation im Jahr 1945

Im Mai 1945 war Deutschland endgültig besiegt und kapitulierte bedingungslos vor den Alliierten. Der Zweite Weltkrieg war in Europa endlich zu Ende, auch wenn er in Asien noch bis August andauerte. Rund fünfzig Millionen Menschen waren gestorben, ein ganzer Landstrich von der Atlantikküste bis zur Sowjetunion war verwüstet, die überlebende Bevölkerung körperlich und seelisch ausgelaugt. In Deutschland, dem Land, das für diese Verwüstung verantwortlich war, kamen etwa sieben Millionen Menschen ums Leben, davon fast die Hälfte Zivilisten jeden Alters. Unter den deutschen Toten befanden sich mindestens 170.000 deutsche Juden, die im Rahmen des Holocaust systematisch ermordet worden waren, der völkermörderischen Kampagne der Nazis zur Ermordung aller europäischen Juden, im Zuge derer Deutsche und ihre Kollaborateure 6 Millionen europäische Juden ermordet hatten.

Mit Ausnahme derjenigen, die in abgelegenen ländlichen Gebieten im Westen oder Süden des Landes lebten, waren im Sommer 1945 alle Menschen in Deutschland vom Chaos umgeben. Millionen von Menschen, die in diesem Sommer in Deutschland lebten, gehörten zu den Schwerverletzten des Krieges. Die systematischen Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Städte und die Versuche des NS-Regimes, Deutschland gegen die alliierte Invasion zu verteidigen und Chaos zu stiften, hatten 3,4 Millionen Wohnungen und Häuser – von insgesamt 17,1 Millionen – zerstört und ein Drittel des verbliebenen Wohnungsbestandes schwer beschädigt. Millionen von Deutschen und Vertriebenen aus anderen Ländern zogen im Land umher und trugen zur allgemeinen Verwirrung und zum menschlichen Elend bei. Im Sommer 1945 kämpften Mütter und Kinder, die auf das Land evakuiert worden waren, mit der Rückkehr in die Städte, die sie einst ihr Zuhause genannt hatten. Millionen von demobilisierten deutschen Soldaten versuchten, zu ihren Familien zurückzukehren, sofern sie nicht gefangen genommen und in Internierungslager verbracht worden waren. Auf verstopften Straßen und in überfüllten Zugwaggons mischten sie sich mit deutschstämmigen Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten, die vor der vorrückenden sowjetischen Armee geflohen waren oder bei Ankunft der Roten Armee aufgefordert worden waren, das Gebiet zu verlassen. In den späten 1940er Jahren war ihre Zahl auf 11 Millionen angestiegen. In den Monaten und Jahren nach Kriegsende zogen außerdem sechs Millionen nichtdeutsche DPs (Displaced Persons) umher oder waren in Lagern untergebracht. Viele von ihnen waren ehemalige KZ-Häftlinge oder Zwangs- und Sklavenarbeiter*innen, die das NS-Regime zur Arbeit in der Rüstungsindustrie oder in der Landwirtschaft zwangsrekrutiert hatte; andere waren Migrant*innen aus den von der Sowjetunion kontrollierten Regionen Europas.

Soweit die nüchternen Statistiken. Es ist jedoch viel schwieriger, in wenigen Worten oder gar in einem ganzen Kapitel das Ausmaß der Katastrophe zu beschreiben, die der Zweite Weltkrieg über ganz Europa und auch über Deutschland selbst brachte, selbst noch nachdem 1945 die Kriegshandlungen und der Massenmord endlich beendet waren. Der Band enthält eine Reihe von Statistiken, Fotos und Videoclips, die eine Ahnung davon vermitteln, wie es war, diese Katastrophe zu überleben – ausgezehrt, verhungert, in schlechtem oder komplett zerstörtem Gesundheitszustand, verwirrt, ohne Hoffnung, wie Millionen von Männern, Frauen und Kindern damals waren. Darüber hinaus enthält der Band auch Dokumente über die wirtschaftlichen und moralischen Fragen, die diese Verwüstung aufwarf.

Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands bedeutete erstens, dass das besiegte NS-Regime entmachtet war, und zweitens, dass die Souveränität vollständig in den Händen der siegreichen Alliierten, der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs lag. Ihnen oblag es, Recht und Ordnung wiederherzustellen, die Bevölkerung zu ernähren, die DPs zu versorgen und gegebenenfalls zu repatriieren und schließlich das besiegte Land zu stabilisieren und wiederaufzubauen. Die ersten Dokumente befassen sich daher mit den Entscheidungen, welche die Alliierten trafen, als sich die Niederlage des Dritten Reiches abzeichnete. Die Nachkriegsplanung hatte freilich schon 1942, kurz nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, auf niedrigeren Ebenen begonnen, als klar wurde, dass die Niederlage der drei Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan nur noch eine Frage der Zeit sein würde. Die Nachkriegsordnung wurde dann in groben Zügen auf höchster Ebene erörtert, als US-Präsident Roosevelt, der britische Premierminister Winston Churchill und der sowjetische Diktator Josef Stalin 1943 und 1944 auf Konferenzen zusammenkamen.

Bei diesen Treffen fiel es den Alliierten relativ leicht, „negative“ Friedensziele zu formulieren, d.h. die Deutschen sollten entnazifiziert und entmilitarisiert und ihre Industrie entflochten werden. Es erwies sich als viel schwieriger, einen Konsens darüber zu erzielen, was mit dem Land „positiv“ geschehen sollte. Sollte Deutschland als wirtschaftliche und politische Einheit behandelt werden, oder sollte es in kleinere Einheiten aufgeteilt werden? Sollten die Grenzen dauerhaft verändert werden? Wie sollte die politische und wirtschaftliche Verfassung aussehen, unter der die Deutschen leben sollten, und wie konnte die Demokratisierung, das vierte Hauptziel neben Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Entflechtung, umgesetzt werden?

Angesichts dieser Schwierigkeiten konnten sich die so genannten Großen Drei – die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion – lediglich auf die Besatzungszonen einigen. Sie beschlossen, alle Fragen zur künftigen inneren oder äußeren Gestaltung des Landes auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen. Die Situation wurde noch komplizierter, als die Großen Drei sich darauf einigten, ein Gebiet im Südwesten Deutschlands als französische Besatzungszone abzutrennen, wodurch Frankreich Teil eines Vier-Mächte-Systems wurde, das auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 ratifiziert wurde. Berlin, das genau in der Mitte der Sowjetzone lag, wurde ebenfalls in vier Sektoren aufgeteilt und unter gemeinsame alliierte Verwaltung gestellt.

Während einige Politiker und Bürokraten im Westen 1945 noch gehofft hatten, dass das Kriegsbündnis mit der Sowjetunion über die Niederlage der Achsenmächte hinaus Bestand haben würde, wurde bald klar, dass die Ziele der beiden neuen Supermächte der Nachkriegszeit, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, unvereinbar waren. Ideologische und strukturelle Grundsatzkonflikte waren die Ursache für die Ost-West-Spaltung. Der amerikanische Kapitalismus und die Grundprinzipien des amerikanischen politischen Systems ließen sich einfach nicht mit den Axiomen einer hoch zentralisierten kommunistischen Planwirtschaft und einer stalinistischen „Diktatur des Proletariats“ in Einklang bringen.

Einige Wissenschaftler*innen haben behauptet, dass der Antagonismus zwischen dem Westen und dem bolschewistischen Russland bereits seit 1917 bestand, dem Jahr, in dem Wladimir Lenin die Macht ergriff und seine „Neue Ordnung“ errichtete. Doch nach mehreren Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit im Krieg kam es erst 1945/46 wieder zu starken Spannungen. Die Konfrontation der Supermächte spitzte sich zu, und beide Seiten beschlossen, die Gebietsgewinne zu konsolidieren, die sie im Herzen Europas gemacht hatten, nachdem Hitler sich geweigert hatte, Friedensverhandlungen zu ersuchen, bevor die Alliierten die deutschen Grenzen erreicht hatten. Europa wurde in zwei Blöcke aufgeteilt, wobei die Trennlinie – die später als „Eiserner Vorhang“ bezeichnet wurde – quer durch Deutschland verlief, genau an der Grenze zwischen der sowjetischen Zone einerseits und der britischen Zone im Norden und der amerikanischen Zone im Süden andererseits (siehe Karte).

Nach 1947 führte die zunehmende Wahrnehmung einer gegenseitigen militärischen Bedrohung dazu, dass der Ost-West-Konflikt so weit eskalierte, dass es leicht zu einem Krieg hätte kommen können. Der Westen glaubte, dass Stalins Russland ein expansionistisches Regime war, das Europa westlich des Eisernen Vorhangs erobern wollte. Um dieser Bedrohung zu begegnen, begannen Washington, London und Paris, eine Politik der Eindämmung zu verfolgen, die 1949 in der Gründung der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) gipfelte. Die Mitglieder dieses Bündnisses sahen darin eine politische Gegenkraft und ein Abschreckungsmittel gegen das, was sie als die aggressiven Pläne der sowjetischen Diktatur ansahen. Umgekehrt betrachtete Stalin die Vereinigten Staaten als kapitalistisch-imperialistische Macht, die ihr politisches und wirtschaftliches System nach Osten ausdehnen wollte. Das Ergebnis war eine Vertiefung der Teilung zwischen Ost und West entlang des Eisernen Vorhangs und die Schaffung von zwei gegensätzlichen deutschen Staaten. 1949 wurden die drei Westzonen in einen neuen Staat, die Bundesrepublik Deutschland, umgewandelt, während die sowjetische Zone zur Deutschen Demokratischen Republik wurde.

In der Folgezeit bauten die Deutschen und die ehemaligen Alliierten den Eisernen Vorhang zu einer immer stärker befestigten und überwachten Grenze aus, insbesondere auf der Ostseite. Auf der westlichen Seite waren NATO-Truppen stationiert, auf der östlichen Seite die Rote Armee, während deutsche Polizei- und Grenzschutzeinheiten jeweils ihre Seite kontrollierten. Als die Spannungen des Kalten Krieges zunahmen, wurde die Grenze zunehmend unpassierbar, außer in Berlin oder an einigen Orten, an denen die örtlichen Bauern versteckte Pfade durch die Wälder kannten, um mit ihren Familienangehörigen auf der anderen Seite in Kontakt zu bleiben. Schließlich erhielt die DDR im August 1961 vom Kreml die Erlaubnis, den sowjetischen Teil Berlins abzuriegeln. Mit dem Bau der Berliner Mauer und der Errichtung von Stacheldrahtzäunen entlang der Ost-West-Zonengrenze wurde die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten praktisch undurchdringbar. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen versuchten einige Ostdeutsche noch immer, den Westen zu erreichen, indem sie über die Mauer kletterten oder durch Stacheldrahtzäune krochen – Versuche, die oft tödlich endeten.

So dauerte die Zusammenarbeit der Alliierten höchstens bis 1947; aber selbst in diesen ersten Jahren beschränkte sie sich weitgehend auf die Umsetzung der in Jalta und Potsdam vereinbarten „negativen“ Friedensziele. Für die Alliierten war es schwierig, einen Konsens darüber zu erzielen, wie Deutschland vom Nationalsozialismus befreit werden sollte. Von November 1945 bis Oktober 1946 arbeiteten sie zusammen beim Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMT) in Nürnberg, wo führende Verantwortliche der NSDAP, des deutschen Militärs, der Wirtschaft und anderer Berufsgruppen des Landes vor Gericht gestellt und verurteilt wurden. Dies blieb jedoch der einzige Fall alliierter Zusammenarbeit bei der Verurteilung von Kriegsverbrechern. In der Zwischenzeit hatten Millionen von einfachen Deutschen einen langen Fragebogen auszufüllen, in dem sie alle ihre politischen Aktivitäten vor und während des Dritten Reichs auflisten mussten. Anschließend mussten sie vor lokalen, von den Alliierten überwachten Gerichten erscheinen, um je nach Umfang und Art ihrer Kollaboration mit dem Regime in eine von fünf Kategorien (Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete) eingestuft zu werden. Viele Deutsche betrachteten das Entnazifizierungsprogramm mit großem Zynismus. In der sowjetischen Zone gelang es den Verantwortlichen, den Eindruck zu erwecken, die Entnazifizierung würde gründlicher vollzogen als in den Westzonen. Das sowjetische Programm entließ z.B. zahlreiche Lehrer*innen, die Nazis gewesen waren. Die Entnazifizierung richtete sich jedoch in erster Linie gegen die Großgrundbesitzer und den kaufmännischen und industriellen Mittelstand, die nach der stalinistischen Doktrin Hitler an die Macht gebracht und dann als Strippenzieher hinter den Kulissen fungiert hätten. Einige wurden inhaftiert, von vielen anderen wurde der Besitz beschlagnahmt. Ihr Land wurde teilweise an Kleinbauern umverteilt, Industrie- und Handelsunternehmen wurden verstaatlicht.

2. Wirtschaft und Politik in den beiden deutschen Staaten

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begannen die Sowjetunion auf der einen und die drei Westmächte auf der anderen Seite, ihre jeweiligen Besatzungszonen nach ihren eigenen politischen und wirtschaftlichen Organisationsprinzipien zu stabilisieren, was die Herausbildung zweier unterschiedlicher Ordnungen förderte. In Westdeutschland wurde die liberale Demokratie im Grundgesetz verankert, das der Bundestag in Bonn, der neuen Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, 1949 ratifizierte. Das von der Sowjetunion installierte kommunistische Regime in Ostdeutschland mit Ost-Berlin als Hauptstadt verkündete eine Verfassung, die auf dem Papier gut aussah und dem westdeutschen Grundgesetz sehr ähnlich war, die jedoch in der Realität durch die repressive Politik einer stalinistischen Regierung unter Führung des SED-Vorsitzenden Walter Ulbricht ständig verletzt wurde.

Im Bereich der Wirtschaft zeigten die Stabilisierungsmaßnahmen, die im Westen unter Anleitung der Alliierten und mit materieller Hilfe der USA im Rahmen des Marshall-Plans ergriffen wurden, nach der Währungsreform von 1948 erste Erfolge. Mit der Etablierung einer auf Wettbewerb basierenden Marktwirtschaft wurde das schlummernde Potenzial der Industrie freigesetzt. Unter der Führung von Ludwig Erhard, dem Wirtschaftsminister in der neu ernannten Koalitionsregierung aus CDU/CSU, FDP und DP unter dem Bundeskanzler und Christdemokraten Konrad Adenauer, entfaltete sich das „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre. Es belebte die Produktion, schuf Arbeitsplätze und sorgte für Konsumgüter, von denen die Westdeutschen seit Jahren geträumt hatten.

Es handelte sich jedoch nicht um eine Wirtschaft, die sich ausschließlich auf die Dynamik der Marktkräfte stützte. Erhards Liberalismus wurde durch ein soziales Netz gemildert, das den Millionen von Kriegswitwen, Waisen, Veteranen, Flüchtlingen und anderen, die ihr Vermögen verloren hatten, Unterstützung bot. Mit der Gesetzgebung nach Artikel 131 des Grundgesetzes wurden auch die Pensions- und Arbeitsrechte von Beamten und ehemaligen Soldaten wiederhergestellt, die 1945 von den Alliierten ausgesetzt worden waren. Die Ratifizierung des Lastenausgleichsgesetzes im Jahr 1951 stellte einen Versuch dar, den Wohlstand von denjenigen, die ihr Eigentum und andere Vermögenswerte behalten hatten, auf diejenigen umzuverteilen, die im Krieg alles verloren hatten. Die westdeutsche Regierung unternahm einige Anstrengungen zur Entschädigung von Familien, die von den Nazis enteignet und zur Emigration gezwungen worden waren. Artikel 20 des Grundgesetzes verpflichtete die Gesellschaft dauerhaft, die Republik als „demokratischen und sozialen Bundesstaat“ zu erhalten. Die Hoffnung war, dass Vollbeschäftigung und „Wohlstand für alle“ (L. Erhard) die enormen sozialen Probleme, die der Krieg hinterlassen hatte, lösen und damit den Ausbau des Sozialstaates stabilisieren würden, der universelle Unterstützung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter bot.

Eine wachsende Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung wollte nicht zu den Klassenkonflikten der 1920er Jahre zurückkehren, was die Schaffung von sozioökonomischer Harmonie und den allmählichen Anstieg des Wohlstands begünstigte. Die Gewerkschaftsmitglieder unterstützten einen reformistischen Trend, der sich auf die Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen im Rahmen einer kapitalistischen Marktwirtschaft konzentrierte. Diese Situation war einer der Gründe für die geringe Zahl von Streiks in den 1950er Jahren; ein weiterer Grund war eine besondere westdeutsche Institution, das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer*innen. In der Kohle- und Stahlindustrie ging die Mitbestimmung so weit, dass ein „Arbeiterdirektor“ im Vorstand des Unternehmens saß und an allen wichtigen Unternehmensentscheidungen beteiligt war. Außerdem waren Kapital und Arbeit im Aufsichtsrat des Unternehmens unter einem neutralen Vorsitzenden paritätisch vertreten. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 dehnte diese Regelung allerdings nicht auf alle größeren Unternehmen in den übrigen Industriezweigen aus – worauf die Gewerkschaften 1950/51 gehofft hatten. Dennoch spiegelte das schließlich verabschiedete Gesetz einige gewerkschaftliche Errungenschaften wider und sah die Wahl von Betriebsräten durch die Belegschaft vor, mit denen die Unternehmensleitung in Fragen wie Personalabbau und Standortplanung zusammenarbeiten musste.

1955 war die Sorge um das künftige Arbeitskräfteangebot so groß, dass die Bundesrepublik Deutschland ihr erstes Abkommen mit Italien über die Anwerbung italienischer „Gastarbeiter“ schloss. In den folgenden zehn Jahren wurden ähnliche Abkommen mit Spanien und Griechenland (1960) und der Türkei (1961) geschlossen. Westdeutsche Politiker betonten die wirtschaftliche Dimension dieser Verträge, betrachteten sie aber auch als Gelegenheit, ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit einer Reihe von internationalen Partnern zu beweisen.

Die ostdeutsche Regierung sah sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert, als sie versuchte, die Trümmer von 1945 zu beseitigen und eine dynamische Wirtschaft aufzubauen, die in der Lage war, das Versprechen eines besseren Lebens zu erfüllen. Im Einklang mit der stalinistischen Doktrin basierte der ostdeutsche Ansatz auf zentralisierter Planwirtschaft und der Enteignung der Privatwirtschaft. Außerdem begann die Regierung, die Landwirtschaft zu kollektivieren und den Groß- und Einzelhandel zu verstaatlichen. Bis 1953 hatte dieses System so viele Widersprüche, Ungleichheiten, gebrochene Versprechen und Verwerfungen hervorgebracht, dass der Volkszorn zum Aufstand vom 17. Juni führte. Die Streiks und Demonstrationen begannen in der Hauptstadt Ost-Berlin und breiteten sich schnell auf das ganze Land aus.

Die Wiedergründung der politischen Parteien und die Wiedereinführung demokratischer Wahlen auf kommunaler und staatlicher Ebene schufen eine bürgerliche Infrastruktur vor der Gründung der beiden deutschen Staaten. Für den Westen zeigt die Betrachtung der in diesem Band vorgestellten Wahlergebnisse und Meinungsumfragen, dass das politische System noch lange nicht gefestigt war. Die erste Adenauer-Regierung musste sich auf eine Vielzahl kleinerer Parteien stützen, um die erforderliche parlamentarische Mehrheit zu erreichen. Es gab immer noch viele unzufriedene Wähler*innen, die Parteien der radikalen Rechten oder der Linken wählten. Die Rhetorik mancher dieser Parteien war so radikal, dass die Behörden ihre Verfassungsmäßigkeit in Frage stellten. Im Jahr 1952 wurde die neonazistische SRP [Sozialistische Reichspartei] verboten. Im Jahr 1956 verbot das Bundesverfassungsgericht auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD).

Die breite Mehrheit der Westdeutschen versöhnte sich jedoch zunehmend mit ihrer neuen Regierungsform und war bereit, sowohl die Republik als auch ihre vier großen Parteien aktiv zu unterstützen. Dieser Prozess vollzog sich vor dem Hintergrund der Wirtschaftspolitik Erhards, die den Menschen den ersehnten Wohlstand brachte. Währenddessen wurde die Mehrparteienlandschaft in Ostdeutschland immer bedeutungsloser, da das Regime immer wieder zwischen Zugeständnissen, insbesondere nach dem Aufstand vom 17. Juni, und der Verschärfung der Lage in einem praktisch von der SED geführten Einparteienstaat schwankte.

Der eskalierende Kalte Krieg führte zusehends auch zu politischer Geschlossenheit innerhalb beider deutschen Staaten. In Westdeutschland löste die Furcht vor einem sowjetischen Expansionsdrang – die nach dem Ausbruch des Koreakrieges 1950 besonders groß war – eine lange Debatte über den Wert des NATO-Schutzschildes aus, dessen Stärke zum Teil auf der abschreckenden Wirkung von Atomwaffen beruhte. Sie veranlasste die Politiker auch zu der Frage, ob die Bereitstellung westdeutscher konventioneller Streitkräfte die Bundesrepublik sicherer gegen einen Angriff aus dem Osten machen würde. Die unter dem Namen „Carte Blanche“ ausgeführten Militärübungen der NATO von 1955 sollten die Strategie der Schildverteidigung testen, indem sie zeigten, wie Westdeutschland aussehen würde, wenn es jemals zum Schlachtfeld für taktische Atomwaffen würde. Trotz des Widerstands der Bevölkerung gegen die westdeutsche Wiederbewaffnung trat die Bundesrepublik noch im selben Jahr der NATO bei. Die DDR hatte in den frühen 1950er Jahren die paramilitärische Volkspolizei aufgebaut; nun gründete sie die Volksarmee und wurde Mitglied des Warschauer Pakts, eines Wirtschafts- und Militärbündnisses unter sowjetischer Kontrolle.

Mit der zunehmenden Integration der beiden deutschen Staaten in ihre jeweiligen Militärblöcke wurde immer deutlicher, dass dies die Teilung des Landes in zwei Hälften zementieren würde. Während der gesamten 1950er Jahre debattierten die Westdeutschen weiterhin – oft hitzig – darüber, ob und unter welchen Bedingungen die nationale Einheit als ein Staat erreicht werden könnte. Die Debatte erreichte 1952 einen Höhepunkt, als Stalin vorschlug, die beiden Hälften Deutschlands unter der Bedingung zu vereinigen, dass die Adenauer-Regierung sowohl auf die westdeutsche Wiederaufrüstung als auch auf die Integration in das westliche Bündnis verzichtete. Es ist wahrscheinlich, dass Stalin nicht damit rechnete, dass der Westen diesen Bedingungen zustimmen würde. Berlin mit seinen vier alliierten Sektoren blieb ein weiterer Punkt ständiger Reibung. Die Spannungen hatten mit der Währungsreform in den Westzonen begonnen, die wiederum zur Berlin-Blockade von 1948 führte. Die Krisen setzten sich in den 1950er Jahren fort und gipfelten schließlich im Bau der Mauer im Jahr 1961.

Da die NATO für militärische Sicherheit sorgte, auch wenn ihr nuklearer Schutzschild stets Befürchtungen aufkommen ließ, dass die Abschreckung versagen oder ein Krieg im Zentrum Europas aus Versehen ausbrechen könnte, ermöglichten die Beschlüsse von 1949 den Westeuropäern eine enge politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit bei ihren Bemühungen um den Wiederaufbau ihrer noch immer zerstörten Städte und Industrien. Was die Politik anbelangt, so gab es den früheren Traum von der Gründung der Vereinigten Staaten von Europa, der bereits in den 1920er Jahren, wenn nicht lange vorher, diskutiert worden war. Zwar waren nach 1945 einige Nichtregierungsorganisationen entstanden, die sich für eine politische Zusammenarbeit einsetzten, doch wurde bald klar, dass sich die Nachbarn Westdeutschlands eine Union, welche die westlichen Besatzungszonen oder ab 1949 die Bundesrepublik einschloss, einfach nicht vorstellen konnten. Die Erinnerungen an die nationalsozialistische Besatzung und Kriegführung waren in der Bevölkerung der Benelux-Staaten, Frankreichs und Großbritanniens noch zu frisch, als dass die Politik dieses Ziel hätte verfolgen können.

Wie steht es aber mit einer engeren wirtschaftlichen Integration? Zunächst einmal konnte sie als Weg zu mehr Wohlstand angepriesen werden. Sie war auch eher technisch und weckte nicht die Emotionen, welche die Debatten über die politische Integration erschwert hatten. Außerdem war bekannt, dass die Vereinigten Staaten die Schaffung eines größeren Marktes befürworteten, auch wenn Washington kein offizielles Mitglied sein wollte und erwartete, seine wirtschaftliche Hegemonie indirekt ausüben zu können. Einer der Europäer, der sich der amerikanischen Vision der europäischen Welt sehr wohl bewusst war, war der französische Geschäftsmann Jean Monnet. Er war nach der Niederlage Frankreichs 1940 nach Großbritannien geflohen und hatte einen Teil des Krieges in Washington verbracht, wo er half, amerikanische Militärhilfe für die Briten in ihrem einsamen Kampf gegen NS-Deutschland zu organisieren. Er erfuhr auch von den Plänen Washingtons, Westeuropa nach der Niederlage Hitlers wieder aufzubauen und seine Volkswirtschaften in das internationale Handelssystem „Open Door“ zu integrieren, das zu dieser Zeit in Washington diskutiert wurde. Als Monnet ins befreite Frankreich zurückkehrte, wurde er mit der Leitung des „Commissariat du Plan, de Modernisation et d‘Equipement“ betraut, mit dem die französische Industrie auf die wettbewerbsfähige neue amerikanische Wirtschaftsordnung vorbereitet werden sollte. Nachdem er dieses Programm mehr oder weniger erfolgreich abgeschlossen hatte, wandte Monnet seine Energie darauf, die Integration der Kohle- und Stahlindustrie Frankreichs und Westdeutschlands als ersten Schritt zu einer umfassenderen Union zu erleichtern. Er überzeugte den französischen Außenminister Robert Schuman, den so genannten Schuman-Plan zu verabschieden und zu verkünden. Nachdem die Schwerindustrien Italiens und der Benelux-Länder hinzugekommen waren, führten die Verhandlungen zum Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der 1951 ratifiziert wurde und einen gemeinsamen Markt für die beiden Industrien schuf, die für den Wiederaufbau Westeuropas von grundlegender Bedeutung waren.

Als diese Volkswirtschaften in den 1950er Jahren zu florieren begannen, schien es der nächste logische Schritt zu sein, einen gemeinsamen Markt für alle anderen Industriezweige zu schaffen. Weitere Verhandlungen zwischen den sechs Ländern folgten, und am 1. Januar 1958 traten die in Rom ausgehandelten Verträge in Kraft, die als großer Erfolg der westeuropäischen Zusammenarbeit gefeiert wurden. Großbritannien beteiligte sich jedoch nicht an den ersten Verhandlungen über die EGKS, sondern zog es vor, sich auf die Stärkung seines Empire und Commonwealth als Handelsblock zu konzentrieren. London hoffte sogar, seine kolonialen Besitztümer zu erhalten. Als sie 1956 versuchten, Ägypten wieder zu besetzen, intervenierten die Amerikaner, für die das Zeitalter des formellen Kolonialismus vorbei und durch ein „Open Door“ Handelssystem ersetzt worden war. US-Präsident Dwight D. Eisenhower forderte den britischen Premierminister Anthony Eden auf, das Land unverzüglich zu verlassen, andernfalls würde er die Devaluierung der britischen Währung, des Pfunds Sterling, veranlassen. Eden willigte ein, und da Westeuropa boomte, gründete Großbritannien neben der EWG die Europäische Freihandelszone (EFTA). Das Handelssystem der EFTA erwies sich als weit weniger beeindruckend als das der EWG, und Anfang der 1960er Jahre beantragte Großbritannien den Beitritt zu den Europäischen Sechs, ein Schritt, der viele Schwierigkeiten mit sich brachte, die in Band 9 behandelt werden.

Ost- und Westdeutsche verfolgten in den Medien die Konflikte, politischen Umwälzungen und neuen Allianzen, die sich in den europäischen Kolonien, insbesondere in Süd- und Südostasien und Afrika, sowie in anderen Regionen der Welt wie Kuba, Lateinamerika und Ostasien abspielten. Diese Berichte unterschieden sich in der Regel erheblich in Ost und West und waren von den politischen Positionen der Gegner im Kalten Krieg geprägt. Einige dieser Konflikte, wie etwa der Koreakrieg, hatten direkte Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. Von besonderem Interesse waren antikoloniale Bewegungen und Kriege, wie die Teilung Indiens und Pakistans 1947, sowie die Bestrebungen ehemaliger Kolonien und anderer Staaten, darunter Jugoslawien, zur Bildung der Bewegung der Blockfreien, die mit der Konferenz von Bandung 1955 Gestalt annahm.

Die ostdeutschen Behörden und Medienberichte betonten die Solidarität mit der nicht-weißen Welt und versuchten wiederholt, Westdeutschland als Akteur in einem neokolonialen und imperialistischen Unterfangen darzustellen, das von den Vereinigten Staaten kontrolliert wurde. Viele westdeutsche Politiker schienen erleichtert zu sein, dass Deutschland mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg seine überseeischen Kolonien hatte abtreten müssen, und sahen Deutschland als weitgehend unberührt von den Hinterlassenschaften des europäischen Kolonialismus. Gleichzeitig waren deutsche Kommentatoren in Ost und West fasziniert von den Konflikten um die Kontrolle des Suezkanals im Jahr 1956 oder der kubanischen Revolution unter Fidel Castro in den späten 1950er Jahren. Westdeutsche betrachteten zunehmend Länder außerhalb Europas, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion als Entwicklungsländer, die Unterstützung von außen benötigten. Wie diese Unterstützung aussehen sollte, wurde ebenfalls diskutiert, meist innerhalb des ideologischen Rahmens der beiden deutschen Staaten. Westdeutschland beteiligte sich an den Bemühungen des Westens und der Vereinten Nationen in Bezug auf die so genannten Entwicklungsländer, trat der neu gegründeten Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bei und richtete 1961 ein eigenes Ministerium für Entwicklungshilfe ein.

3. Wiederaufbau und Spaltung der deutschen Gesellschaft

Die von den Alliierten und den beiden deutschen Regierungen nach 1945 verfolgte Politik prägte auch gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen, darunter Familienstrukturen, soziale und sexuelle Moralvorstellungen und ästhetische Normen. Eliten und gewöhnliche Deutsche diskutierten über diese Themen während der Jahre des Chaos, des Wiederaufbaus und der Teilung, wobei die Voraussetzungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs immer unterschiedlicher wurden.

Gelegentliche Besucher*innen des besetzten Deutschlands, die im Sommer 1945 einen Blick auf die physische, psychische und moralische Ödnis Mitteleuropas warfen, mochten glauben, das Land befinde sich mitten in einer sozialen Revolution, es sei die „Stunde Null“. Diese Metapher war jedoch trügerisch, denn die sozialen Strukturen erwiesen sich als dauerhaft, ebenso wie kulturelle Einstellungen und Praktiken. Die Auswirkungen der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs waren zweifellos tiefgreifend, doch schufen sie keine Tabula rasa. Betrachtet man beispielsweise rein quantitativ das, was Soziologen als „Elitenzirkulation“ bezeichnen, so wird deutlich, dass die Fluktuation in Wirklichkeit viel geringer war, als die menschlichen Verluste und die Kriegszerstörungen die Zeitgenossen zunächst glauben ließen. Aus einem eher qualitativen Blickwinkel betrachtet, ergibt sich jedoch ein komplexeres Bild.

Es überrascht nicht, dass die Zeitgenossen die Jahre nach 1945 in Deutschland als eine Zeit intensiver Krisen wahrnahmen, doch ihre spezifische Perspektive variierte je nach politischer Einstellung und Kriegserfahrungen erheblich. In den westlichen Besatzungszonen – insbesondere in der amerikanischen – bestanden die jüdischen DPs, von denen die meisten aus Mittel- und Osteuropa stammten, auf getrennten DP-Lagern, nachdem sie anfangs mit NS-Tätern und Antisemiten zusammen untergebracht worden waren. Für sie hatte das Projekt des Wiederaufbaus jüdischen Lebens sowohl eine persönliche als auch eine politische Dimension. Jüdische Organisationen setzten sich für eine Verbesserung der Lagerbedingungen und für Visa ein, die eine Auswanderung aus Deutschland ermöglichten. Jüdische Männer und Frauen, die meisten von ihnen durch den Völkermord der Nazis aus ihren Familien gerissen, andere kamen aus Gebieten unter sowjetischer Kontrolle, gingen neue Beziehungen ein und heirateten so schnell, dass es für alliierte Beobachter oft beunruhigend war. Bald folgte ein wahrer jüdischer Babyboom. In den folgenden Jahren ließ sich nur eine sehr kleine jüdische Gemeinschaft in Deutschland nieder oder siedelte um, zumeist im Westen. In beiden deutschen Staaten sahen sich die Juden weiterhin mit Antisemitismus und der Forderung nach vollständiger Assimilation konfrontiert.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit und bis in die 1950er Jahre hinein waren die Geburtenraten bei ethnisch deutschen Frauen vergleichsweise deutlich niedriger. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. Viele Frauen im gebärfähigen Alter waren Kriegswitwen und konnten – oder wollten – nicht schnell einen neuen Partner finden. Unter dem wirtschaftlichen und sozialen Druck stiegen die Scheidungsraten in die Höhe. Bis Ende der 1940er Jahre konnten Frauen in allen Besatzungszonen die Notabtreibungsregelungen in Anspruch nehmen, die aufgrund der zahlreichen Vergewaltigungen, insbesondere durch sowjetische Soldaten, am Ende des Krieges eingeführt worden waren.

Im Oktober 1945 wurde das alliierte Verbot der Fraternisierung zwischen Besatzern und der deutschen Bevölkerung aufgehoben. Beziehungen zwischen deutschen Frauen und alliierten Soldaten, insbesondere amerikanischen GIs, trugen zu einem Gefühl der Krise unter vielen Deutschen bei, zu dem Gefühl, dass deutsche Männer als Versorger und Beschützer versagt hatten und dass deutsche Frauen sich Fremden zuwandten, um materielle Sicherheit zu erlangen. Einige der Babys, die geboren wurden, gerieten ins Visier der Öffentlichkeit, insbesondere wenn sie unehelich oder Kinder von deutschen Frauen und afroamerikanischen Soldaten waren. Die öffentlich geäußerte Besorgnis über die Hindernisse, mit denen sogenannte „Mischlinge“ konfrontiert waren, machte deutlich, wie schwer es den Deutschen fiel, Deutsche als etwas anderes als „weiß“ zu betrachten, und das zu einer Zeit, in der viele Deutsche hofften, nach dem NS-Rassismus eine „rassenblinde“ Gesellschaft zu schaffen. Aber natürlich waren die Alliierten selbst alles andere als „rassenblind“: In vielen US-Bundesstaaten gab es „Rassengesetze“, die das Zusammenleben Schwarzer und Weißer untersagten und es „gemischtrassigen“ Paaren, die von den Behörden der Militärregierung die Erlaubnis zur Heirat erhielten, um gemeinsam in die USA zu ziehen, schwer machten.

In den 1940er Jahren herrschte ein intensiver Wettbewerb um knappe Ressourcen wie Lebensmittel und Wohnungen, der sich häufig in einer feindseligen Haltung der Deutschen gegenüber den Millionen von Kriegsvertriebenen sowie in bestimmten politischen Maßnahmen wie der Beschlagnahmung von Wohnraum durch die Alliierten oder lokalen Rationierungssystemen äußerte, die versuchten, die Opfer des Nationalsozialismus zu berücksichtigen.

Die Geschlechterverhältnisse schienen für viele Zeitgenossen auf den Kopf gestellt. Frauen trugen einen großen Teil der Last der Aufräumarbeiten in den Städten und der Versorgung der Familien; in den folgenden Jahren wurden sie, vor allem in Westdeutschland, von verschiedenen Seiten als „Trümmerfrauen“ für ihren Mut und ihre Unabhängigkeit gefeiert, wobei kaum gefragt wurde, was diese Frauen vor 1945 getan hatten oder wie sehr sie sich nach einer „normalen“ Familie sehnten. Politiker*innen und Psycholog*innen machten sich allerdings Gedanken über die körperliche und geistige Gesundheit der ehemaligen Soldaten und ihre Reintegration in die Gesellschaft. Für einige im Westen schien dieses Problem gelöst, als 1955 die letzten verbliebenen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurückkehrten. Sie wurden gewöhnlich als Männer dargestellt, deren Männlichkeit und Familiensinn die Jahre des Leidens unbeschadet überstanden hatten, wobei wiederum kaum gefragt wurde, was diese Männer während des Krieges in Osteuropa getan haben könnten. In der DDR wurde die politische Zuverlässigkeit der zurückkehrenden Kriegsgefangenen zunächst in Frage gestellt, doch schon bald wurden sie als „Staatsväter“ gepriesen, Männer, die sich erfolgreich zur sozialistischen Sache bekehrt hatten.

Die Verfassungen beider deutscher Staaten gewährten Frauen und Männern gleiche Rechte, doch die beiden politischen Systeme förderten tendenziell unterschiedliche Geschlechtermodelle. Aus marxistischer Überzeugung von der Bedeutung der Arbeit für die Emanzipation der Frau, aus akutem Arbeitskräftemangel und durch niedrige Witwenrenten ermutigte die DDR die Frauen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und begann in den 1950er Jahren, Kindertagesstätten für Kleinkinder einzurichten. Im Gegensatz dazu förderte die westdeutsche Regierung die so genannte Hausfrauenehe, in der ein männlicher Ernährer für den Unterhalt von Frau und Kindern sorgte. Die Konservativen verbanden solche Ideen mit ihrer Vorstellung von einem christlichen Abendland, das sie als Gegengewicht zum Nationalsozialismus, zum Staatssozialismus und zum „Materialismus“ und Konsumismus amerikanischer Prägung sahen. Familien mit nicht erwerbstätigen Hausfrauen blieben für Millionen von Menschen in Westdeutschland allerdings weit von der Realität entfernt, nicht nur, weil viele Frauen ihre Männer verloren hatten, sondern auch, weil immer mehr Frauen mit schulpflichtigen Kindern erwerbstätig waren, um während des aufkommenden „Wirtschaftswunders“ in den 1950er Jahren zum Familieneinkommen beizutragen.

Das Verfassungsgebot der Gleichstellung der Geschlechter machte die Reform einiger Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) erforderlich, die nur langsam vorankam und zu umfangreichen öffentlichen Debatten und Rechtsstreitigkeiten führte. Das Gleichberechtigungsgesetz von 1958 brachte wichtige positive Änderungen für die Frauen mit sich: So wurde beispielsweise das automatische Recht des Ehemannes auf die Verwaltung des von der Ehefrau in die Ehe eingebrachten Vermögens abgeschafft. Negativ ist jedoch, dass dieses neue Gesetz auch die entscheidende Rolle des Ehemannes bei Streitigkeiten über die gemeinsamen Kinder stärkte, eine Bestimmung, die 1959 vom Verfassungsgerichtshof gekippt wurde. Die Frage der Aufteilung der Erziehungs- und Haushaltsarbeit und der beruflichen Gleichstellung der Frau mit dem Mann beschäftigte die Deutschen in Ost und West jedoch weiterhin. Die Sorge um die Geburtenrate und die sexuellen Moralvorstellungen drückte sich in beiden deutschen Staaten bis in die 1960er und 1970er Jahre in strengen Abtreibungsbeschränkungen aus.

Zeitgenössische westdeutsche Soziologen wie Helmut Schelsky attestierten eine Nivellierung der Klassenunterschiede, die angeblich sowohl auf die Kriegszerstörungen als auch auf den Nachkriegswohlstand zurückzuführen war. Solche Einschätzungen mögen überzogen erscheinen, zumal es nach wie vor erhebliche Unterschiede in Bezug auf Wohlstand und Bildungschancen gab. Dennoch veränderten sich die Klassendefinitionen im Nachkriegsdeutschland tatsächlich. So wurde es beispielsweise für männliche Arbeitnehmer immer üblicher, einen „Familienlohn“ zu verdienen (d. h. einen Lohn, der es ihnen ermöglichte, Frau und Kinder zu ernähren). Mit ihrem Godesberger Programm von 1959 gab die Sozialdemokratische Partei Deutschlands – die Partei, die am engsten mit den Gewerkschaftern verbunden war, die in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts für den Familienlohn gekämpft hatten – jeden Gedanken an eine Vergesellschaftung der Industrie auf und akzeptierte den Kapitalismus als grundlegenden Wirtschaftsrahmen. In dem Maße, wie die Arbeitnehmer*innen eine größere Teilhabe an der Konsumgesellschaft erreichten, verloren die Arbeitnehmerorganisationen für sie an Bedeutung. Darüber hinaus begannen sich die Beschäftigungsmuster weg von der Arbeiterschaft und der Landwirtschaft hin zum Dienstleistungssektor und zum öffentlichen Dienst zu verschieben. Während viele Mitglieder des Bürgertums der „Massengesellschaft“ und der „Massenkultur“ weiterhin äußerst pessimistisch gegenüberstanden, folgten die Wirtschaftsführer dem Beispiel ihrer amerikanischen Kollegen und akzeptierten den Wettbewerb sowie die Massenproduktion und den Massenkonsum zunehmend.

Der Kalte Krieg prägte auch die Bemühungen um Vergangenheitsbewältigung und Entschädigung der Opfer von Nationalsozialismus, Völkermord und Krieg. Als sozialistischer Staat verstand sich die DDR von Natur aus als antifaschistisch. Als solcher konnte er – zumindest nach Ansicht der ostdeutschen Führung – nicht als Nachfolgestaat von Hitlers Deutschem Reich angesehen werden. Die ostdeutsche Führung wollte diesen Titel nur zu gerne an Westdeutschland abtreten. Außerdem war das ostdeutsche Regime keineswegs bereit, Reparationszahlungen an Israel auch nur in Erwägung zu ziehen. In Ostdeutschland hatten die sowjetischen Besatzer und die damalige ostdeutsche Führung eine recht einfache Interpretation der NS-Diktatur und ihres Angriffskrieges: Sie gaben der Nazi-Bewegung und den „Monopolkapitalisten“ sowie den Großgrundbesitzern die Schuld daran, dass das NS-Regime an die Macht gekommen war. Und sie verfolgten eine Kollektivierungs- und Verstaatlichungspolitik, die den Nationalsozialismus ausrotten und soziale Gerechtigkeit herstellen sollte. Infolgedessen wurde auch die einfache ostdeutsche Bevölkerung pauschal von jeder Schuld entlastet, solange man sich als Opfer des Faschismus darstellte und bereit war, sich mit den Bemühungen der SED-Regierung um den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu identifizieren.

Im Gegensatz zu Ostdeutschland engagierte sich die westdeutsche Regierung in ihrem Staat für die Wiedergutmachung. In den 1950er Jahren erklärte sich Westdeutschland bereit, Reparationszahlungen an Israel zu leisten, und 1956 verabschiedete das Parlament unter starkem Druck von Bundeskanzler Adenauer ein Gesetz zur Entschädigung von Opfern rassistischer oder politischer Verfolgung während des NS-Regimes, die sich in Deutschland aufhielten. Adenauer und seine Verbündeten hielten solche Maßnahmen aus moralischen Gründen und als Voraussetzung für die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Völkergemeinschaft für unerlässlich. Die Umsetzung dieser Maßnahmen wurde jedoch regelmäßig durch bürokratische Trägheit behindert. Zudem erfassten diese Maßnahmen eine ganze Reihe von Menschen nicht, die im Nationalsozialismus verfolgt oder misshandelt wurden, darunter ausländische Zwangsarbeiter, Sinti und Roma, so genannte „Asoziale“ oder Homosexuelle.

Westdeutschland verfolgte außerdem eine umstrittene, jahrzehntelange Politik des „Lastenausgleichs“ zwischen denjenigen Deutschen, die durch den Krieg oder als Vertriebene ihr Vermögen verloren hatten, und denen, die ihr Vermögen behalten hatten. Die Einzahlungen in den Fonds waren langfristig angelegt und wurden zwar zunächst als erhebliche Belastung empfunden, sollten aber das Kapital nicht antasten. Wie Kritiker anmerkten, konnten auch ehemalige Nazis von den Zahlungen profitieren.

Die protestantische und die katholische Kirche gaben nach 1945 Erklärungen ab, in denen sie ihre moralische Autorität gegenüber ihren Mitgliedern zurückforderten, sich aber nicht eindeutig zur NS-Vergangenheit äußerten. Indem sie sich über die Rolle der Kirchen nach Hitlers Machtergreifung hinwegsetzten, betonten sie die Notwendigkeit des Wiederaufbaus und des Blicks in die Zukunft, während sie gleichzeitig für die Wiederherstellung der idealtypischen Kernfamilie und der Hausfrauenehe plädierten, die tatsächlich jedoch nie die Norm für alle Deutschen gewesen war.

Die Bemühungen der Alliierten, den Deutschen die Gräuel der nationalsozialistischen Verbrechen (insbesondere in den Konzentrations- und Todeslagern) vor Augen zu führen, das Entnazifizierungsprogramm, die Nürnberger Prozesse und die anschließenden amerikanischen Prozesse wurden von vielen Deutschen als „Siegerjustiz“ empfunden. Da die Nachrichten über die Gräuel der Nazis zwar verfügbar, aber immer noch unvollständig waren, brauchten viele Westdeutsche lange Zeit, um die schrecklichen Wahrheiten zu akzeptieren. Während viele behaupteten, nichts von der Absicht der Nazis gewusst zu haben, alle europäischen Juden zu ermorden, fiel es ihnen relativ leicht, ihre Verstrickung mit dem Regime als Mitläufer, Kollaborateure oder Menschen, die nur „mitmachten“, um ihren Arbeitsplatz zu behalten oder ihre Familien zu schützen, herunterzuspielen. Stattdessen konzentrierten sich viele Westdeutsche darauf, über das Leid nachzudenken, das die Deutschen während des Krieges und in der Nachkriegszeit erlitten hatten.

Während in den 1940er und 1950er Jahren auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Prozesse wegen nationalsozialistischer Verbrechen stattfanden, auch vor deutschen Gerichten, sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis in vollem Umfang anerkannt wurde, dass viele gewöhnliche Deutsche, nicht nur Mitglieder der SS, an den Verbrechen des NS-Regimes mitschuldig waren, einschließlich des Völkermords an Juden und Roma und der besonders brutalen Behandlung der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen, insbesondere in den von den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs besetzten Teilen Osteuropas. Gleichzeitig berichtete die ost- und westdeutsche Presse über Persönlichkeiten, die in das Naziregime verwickelt waren, z. B. Veit Harlan, den Regisseur des antisemitischen Films Jud Süß und seinen Versuch, sich in den 1950er Jahren mit einem gegen homosexuelle Männer gerichteten Film zu rehabilitieren. Zeitweise berichtete die ost- und westdeutsche Presse auch mit großem Interesse über einzelne hochrangige Täter der NS-Verbrechen, so zum Beispiel über die Festnahme eines der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den europäischen Juden, Adolf Eichmann, durch israelische Geheimdienstagenten in Argentinien 1960.

Die Teilung im Kalten Krieg prägte auch die öffentliche Würdigung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Die DDR stellte den kommunistischen Widerstand und die Verfolgung politischer Häftlinge in den Vordergrund, wie das ab 1956 im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen geplante und im Frühjahr 1961 eingeweihte Obelisken-Denkmal mit roten Dreiecken (den KZ-Abzeichen der politischen Häftlinge im Dritten Reich) deutlich machte. In Westdeutschland dauerte es trotz hartnäckiger Bemühungen, z. B. der prominenten Journalistin Marion Gräfin Dönhoff, deren Angehörige teilweise hingerichtet worden waren, Jahre, bis sich die öffentliche Meinung von der zuerst von Goebbels verbreiteten Vorstellung löste, dass die Männer, die am 20. Juli 1944 versucht hatten, Hitler zu töten, „Verräter“ waren und aus dem Gedächtnis gelöscht werden sollten. Es dauerte sogar noch länger, bis die Westdeutschen die Arbeit des linken Widerstands akzeptierten, obwohl dessen Aktivisten die ersten waren, die im Nationalsozialismus gefoltert, verurteilt und hingerichtet wurden.

4. Kultur im geteilten Deutschland

In der Debatte über die moralischen Grundlagen der beiden neuen deutschen Staaten setzten sich die Zeitgenossen auch mit den Bereichen Religion und Kultur auseinander. Obwohl viele Kirchenführer zu Komplizen der nationalsozialistischen Politik geworden waren, gelang es der katholischen und der evangelischen Kirche in Westdeutschland, sich auch nach dem Dritten Reich als Hüter der Moral zu positionieren. Sie versuchten, den Sexualkonservatismus als Grundpfeiler des christlichen Abendlandes zu stärken und wetterten gegen Kulturgüter, die diesem Ziel zuwiderzulaufen schienen (z. B. bestimmte Filme, Musikrichtungen und Tanzformen). Vertreter der Kirchen saßen in der westdeutschen Filmbewertungsstelle und behielten ihren Einfluss auf das formale Bildungswesen in vielen westdeutschen Bundesländern. Die ostdeutsche Führung betrachtete die Kirchen dagegen mit Misstrauen. Im Wettbewerb mit den Kirchen um die Gunst der Jugendlichen förderte die DDR die Jugendweihe (ein staatliches Ritual, bei dem junge Menschen dem Sozialismus die Treue schworen) als säkulare Alternative zur religiösen Konfirmation oder Kommunion.

Die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Schulen und Universitäten wurden während des Kalten Krieges immer deutlicher, wie dies auch bei vielen anderen Einrichtungen der Fall war. Eines der Hauptziele des Staatssozialismus war die Öffnung des ostdeutschen Bildungssystems für die Kinder von Arbeitern und Bauern. Das westdeutsche Bildungssystem hingegen trug dazu bei, die bestehenden Unterschiede zwischen bürgerlichen und Arbeiterfamilien zu reproduzieren (zumindest bis Anfang der 1960er Jahre) und arbeitete auf diese Weise im Widerspruch zu anderen westdeutschen Institutionen, die in der Nachkriegszeit zu einer Neudefinition der Klassenunterschiede beitrugen.

In beiden deutschen Staaten beschäftigten sich Intellektuelle mit den vielfältigen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus und der Frage nach der deutschen Verantwortung. Seit den 1950er Jahren hatten viele westdeutsche Historiker*innen, Schriftsteller*innen und Produzent*innen von Populärkultur das Motiv der Deutschen als Opfer von Krieg, Vertreibung, Deportation und Kriegsgefangenschaft hervorgehoben. Vor allem im Westen schien der Ruf nach einem vereinten Europa ein heilsames Gegenmittel gegen die Auswüchse des deutschen Nationalismus zu sein. Zwar nahm die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unter dem Druck des Kalten Krieges ab, aber die Deutschen diskutierten dennoch über Art und Ausmaß der deutschen Verantwortung für die NS-Verbrechen.

Die ostdeutschen Intellektuellen und Künstler*innen, die sich im Allgemeinen für den Aufbau einer demokratischen Kultur einsetzten, erlebten mehrere Wellen erheblicher Repressionen, die häufig auf die Entwicklungen in der Sowjetunion zurückzuführen waren. Ein Beispiel dafür waren die Debatten über den „Formalismus“ und den „Sozialistischen Realismus“ in Literatur, Musik und Kunst in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren, die zahlreiche führende Persönlichkeiten dazu veranlassten, den Osten in Richtung Westdeutschland zu verlassen, als die Grenze in Berlin noch durchlässig war. Wie ihre sowjetischen Kollegen auch förderten die ostdeutschen Kulturbehörden einen „sozialistischen Realismus“, der die Herausbildung eines „neuen Menschen“ in Stilen darstellen und vorantreiben sollte, die in der Regel dem Realismus und dem Neoklassizismus entstammen. Beide deutschen Staaten reklamierten das Erbe einer klassischen Vergangenheit aus Goethe, Schiller und Beethoven für sich, doch Ende der 1950er Jahre begann Westdeutschland, die wilhelminische Moderne und die Weimarer Avantgarde zum deutschen Kulturkanon hinzuzufügen, wobei die politische Vielfalt und die linken Wurzeln dieses Erbes oft übergangen wurden. Der abstrakte Expressionismus, ein Malereistil, der sich in den 1940er Jahren in New York entwickelte, wurde in Westdeutschland zunächst abgelehnt, entwickelte sich aber bald zum bevorzugten Stil der dortigen Künstler*innen. Dieser scheinbar unpolitische abstrakte Stil stand in deutlichem Gegensatz zum Sozialistischen Realismus mit seinen figurativen Kompositionen und expliziten politischen Inhalten. Dennoch glaubten die Befürworter*innen des Abstrakten Expressionismus, dass dieser Stil seine eigene Botschaft von Freiheit und Autonomie vermittelte – eine Botschaft, die, wenn auch subtiler, nicht weniger politisch war.

In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ermutigte das ostdeutsche Regime Schriftsteller*innen, den so genannten Bitterfelder Weg zu beschreiten. Diese von der Partei geförderte Initiative zielte darauf ab, die Mitglieder der Intelligenz mit dem Leben der Arbeiter und Bauern vertraut zu machen. Ihre Erfahrungen sollten zum zentralen Thema der kulturellen Produktion werden, welche die Parteiführung als deutlichen Kontrast zur angeblichen „Dekadenz“ und „Kosmopolitismus“ westlich des Eisernen Vorhangs betrachtete. Westdeutsche Schriftsteller*innen experimentierten mit einer Reihe von Genres, vom Gedicht bis zum Hörspiel, und kritisierten immer wieder die ihrer Meinung nach mangelnde Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und die unkritische Unterstützung des Wirtschaftswunders, der Wiederbewaffnung und des Antikommunismus seitens ihrer Regierung und Landsleute.

Mehr noch als das noch junge Medium Fernsehen und mehr noch als das Radio schuf der Film Erzählungen für ein breites Publikum. Die deutschen, amerikanischen und internationalen Produktionen und die Debatten über sie beeinflussten, wie die Deutschen über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen oder zwischen den Generationen dachten, oder über Fragen, die von Sexualität über Konsum bis hin zur Sehnsucht nach Heimat reichten. Spielfilme und einige Dokumentarfilme prägten auch die Art und Weise, wie die Deutschen mit den Verbrechen der NS-Zeit konfrontiert wurden und wie viele von ihnen die Deutschen hauptsächlich als Opfer und nicht als Täter des Nationalsozialismus und des Krieges sahen.

Die Vermeidung frivoler Ornamente und die Anwendung klarer Linien kennzeichneten sowohl die Architektur als auch das Design in Westdeutschland, wo Designer*innen und Kommentator*innen gleichermaßen dem „nüchternen“ Design eine erstaunliche Autorität zusprachen, um eine moralische Erneuerung zu bewirken und das Image Deutschlands im Ausland zu rehabilitieren. In einem solchen Kontext machte es Sinn, dass Umfragen durchgeführt wurden, um Veränderungen im Designgeschmack (und, wie man hoffte, auch in der politischen Einstellung) der Westdeutschen festzustellen. Ein Teil der ostdeutschen Architektur, insbesondere das Bemühen, den Wohlstand und die Innovation des Staatssozialismus in der Ostberliner Stalinallee zu präsentieren, beruhte auf Ornamenten, aber andernorts wurden die zusätzlichen Kosten hierfür in dem Bemühen vermieden, effiziente moderne Wohnungen zu bauen. Aus Gründen der Sparsamkeit und der Mode wurden in den 1950er Jahren in den Massenmagazinen in Ost und West ziemlich ähnliche Wohnungseinrichtungen oder Kleidungsstücke beworben. Und während die ostdeutsche Planwirtschaft größere Schwierigkeiten als die westdeutsche hatte, Konsumgüter bereitzustellen, feierten Presse und Politiker in beiden Staaten einen Wohlstand, der die Zeit vor 1939, vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs durch die Nazis, übertraf.

Auch amerikanische Kulturimporte wurden zum Schlachtfeld des Kalten Krieges. Anfänglich zeigten sich westdeutsche Politiker*innen und Kommentator*innen empfänglich für ostdeutsche Andeutungen, dass Westdeutschland von amerikanischen Filmen, Musik und Mode überrollt würde. Doch schon bald argumentierten die Westdeutschen, dass jugendliche Ausdruckskraft und Rock 'n' Roll-Begeisterung Zeichen westdeutscher Freiheit und Wohlstand seien. Dabei verwiesen sie auch auf die Unterdrückung des „offenen“ Tanzens in Ostdeutschland. Einigen ostdeutschen Jazzfans gelang es, diesen populären Musikstil amerikanischen Ursprungs zu fördern, indem sie ihn als ein Produkt des amerikanischen „Neger-Proletariats“ darstellten, doch blieben die ostdeutschen Behörden skeptisch. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verhafteten sie sogar einige freimütige Jazz- und Rockfans. In Westdeutschland hingegen erklärte die Politik den Jazz zur Musik der neuen Demokratie. So wurde der Jazz Teil eines liberalen Konsenses des Kalten Krieges, der die ästhetische Moderne mit westlichen politischen Formen verband und die jugendliche Rebellion eher als psychologisches Problem denn als politische Bedrohung ansah.

Politische und kulturelle Unterdrückung in Ostdeutschland, wirtschaftliche Not und die Aussicht auf bessere wirtschaftliche Möglichkeiten im Westen veranlassten zwischen 1949 und 1961 über 2,5 Millionen Deutsche, von Ost- nach Westdeutschland zu gehen. Die westdeutsche Regierung förderte die innerdeutsche Migration. Die Bundesrepublik präsentierte sich als Hort der Demokratie und des Wohlstands und gewährte anerkannten politischen Flüchtlingen besondere Vergünstigungen. 1961 war die ostdeutsche Führung so besorgt über den Arbeitskräftemangel und die Schwächung ihres Images als Arbeiterstaat, dass sie die Sowjetunion um die Erlaubnis zum Bau der Berliner Mauer bat und diese auch erhielt. Der Bau begann am 13. August 1961. Während ihres achtundzwanzigjährigen Bestehens schränkte die Mauer die persönlichen Kontakte zwischen Ost- und Westdeutschland stark ein, ein Thema, das im nächsten Band dieses Projekts, Zwei deutsche Staaten, 1961-1989, ausführlich behandelt wird.

Volker Berghahn und Uta Poiger