Quelle
Am 24. April gaben die 340 Delegierten von 29 asiatischen und afrikanischen Ländern mit einer Gesamtbevölkerung von rund 1,4 Milliarden Menschen – das sind etwa 55 Prozent der Erdbevölkerung – in der indonesischen Stadt Bandung die Erklärung ab,
– „daß der Kolonialismus in all seinen Formen ein Übel ist, das
so schnell wie möglich ausgerottet werden muß“. Rund fünf Monate
später
– sah sich die zweitgrößte Kolonialmacht der Erde –
Frankreich, das zugleich eine der vier Großmächte der Welt ist –
gezwungen, vor dem antikolonialistischen Elan der Bandung-Mächte das
Uno-Parkett zu räumen;
– mußte Holland sich damit abfinden, daß
demnächst in der Uno-Vollversammlung eine Debatte über die
Streitfrage abgehalten wird, ob Holländisch-Neu-Guinea der Republik
Indonesien gehört oder nicht;
– nahm Italien stillschweigend
hin, daß die Uno in Kürze die italienische Mandatspolitik in
Somaliland (Ostafrika) untersuchen wird;
– droht die
Sowjet-Union, in Ägypten als Waffenlieferant politisch und
militärisch Fuß zu fassen;
– brach die Solidarität der
Nato-Mächte gegenüber den antikolonialistischen Bandung-Mächten
auseinander.
Die Nato-Macht Griechenland stimmte in der Uno-Debatte über die Frage, ob Algerien auf die Tagesordnung der gegenwärtigen Vollversammlung gesetzt werden solle, an der Seite der Bandung- und Ostblockmächte mit „Ja“. Das Nato-Mitglied Island enthielt sich der Stimme. Da bei der Abstimmung 28 Ja- und 27 Nein-Stimmen abgegeben wurden, war die Haltung der beiden Nato-Staaten ausschlaggebend für das Votum, das Frankreichs Außenminister Antoine Pinay veranlaßte, den großen Sitzungssaal im Uno-Gebäude am New-Yorker East River zu verlassen.
Der Anlaß für Griechenlands Haltung war der Zypern-Streit. Griechenlands Versuch, in der Uno-Vollversammlung eine Debatte über seinen Anspruch auf die britische Insel Zypern herbeizuführen, war schon vom Lenkungsausschuß der Uno im Keim erstickt worden. Ein westlicher Uno-Diplomat meinte bitter: „Das Recht von Europäern auf Freiheit und Selbstbestimmung – sei es das der Griechen auf der Insel Zypern oder das der Litauer, Letten und Esten – ist in der Uno nicht durchzusetzen, wohl aber die Ansprüche der Kikujus und der Wilden auf Guinea.“
Auch die interamerikanische Solidarität wurde von der Algerien-Debatte betroffen. Sechs amerikanische Staaten stimmten mit „Ja“, 14 mit „Nein“ (darunter die USA), zwei enthielten sich der Stimme.
Uno-Generalsekretär Hammarskjöld klagte, die Kolonialfrage drohe, die Uno als Forum friedlicher Aussprache unter den Völkern zu vernichten.
Der in Madras erscheinende „Indian Express“ richtete an die Westmächte die Frage: „Könnt Ihr die Zeichen an der Wand nicht lesen?“
Quelle: „Zeichen an der Wand“, Der Spiegel, 12. Oktober 1955, S. 26-27. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-31971340.html