Kurzbeschreibung

Die Vereinten Nationen spielten eine Schlüsselrolle im Prozess der Entkolonialisierung (trotz der Klage von Dag Hammarskjöld, dass die „Kolonialfrage“ die UNO als Forum für friedliche Debatten zwischen den Nationen zerstören könnte). Die UNO wurde von den neuen unabhängigen Staaten als internationale Bühne betrachtet, auf der die Situation der Kolonisierten diskutiert werden konnte; sie glaubten, dass die Aufmerksamkeit auf die Situation der Kolonisierten den Prozess der Dekolonialisierung beschleunigen würde. Das Jahr 1960 war ein Meilenstein für die Dekolonialisierung und die Vereinten Nationen: Im Dezember 1960 wurde die „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker“ verabschiedet, in der die Fremdherrschaft als Menschenrechtsverletzung gebrandmarkt, das Recht auf Selbstbestimmung bekräftigt und ein Ende der Kolonialherrschaft gefordert wurde. Ein Jahr später wurde der Sonderausschuss für Entkolonialisierung eingesetzt, der die Umsetzung der Entkolonialisierung prüfen sollte.

Zeichen an der Wand (12. Oktober 1955)

Quelle

Am 24. April gaben die 340 Delegierten von 29 asiatischen und afrikanischen Ländern mit einer Gesamtbevölkerung von rund 1,4 Milliarden Menschen – das sind etwa 55 Prozent der Erdbevölkerung – in der indonesischen Stadt Bandung die Erklärung ab,

– „daß der Kolonialismus in all seinen Formen ein Übel ist, das so schnell wie möglich ausgerottet werden muß“. Rund fünf Monate später
– sah sich die zweitgrößte Kolonialmacht der Erde – Frankreich, das zugleich eine der vier Großmächte der Welt ist – gezwungen, vor dem antikolonialistischen Elan der Bandung-Mächte das Uno-Parkett zu räumen;
– mußte Holland sich damit abfinden, daß demnächst in der Uno-Vollversammlung eine Debatte über die Streitfrage abgehalten wird, ob Holländisch-Neu-Guinea der Republik Indonesien gehört oder nicht;
– nahm Italien stillschweigend hin, daß die Uno in Kürze die italienische Mandatspolitik in Somaliland (Ostafrika) untersuchen wird;
– droht die Sowjet-Union, in Ägypten als Waffenlieferant politisch und militärisch Fuß zu fassen;
– brach die Solidarität der Nato-Mächte gegenüber den antikolonialistischen Bandung-Mächten auseinander.

Die Nato-Macht Griechenland stimmte in der Uno-Debatte über die Frage, ob Algerien auf die Tagesordnung der gegenwärtigen Vollversammlung gesetzt werden solle, an der Seite der Bandung- und Ostblockmächte mit „Ja“. Das Nato-Mitglied Island enthielt sich der Stimme. Da bei der Abstimmung 28 Ja- und 27 Nein-Stimmen abgegeben wurden, war die Haltung der beiden Nato-Staaten ausschlaggebend für das Votum, das Frankreichs Außenminister Antoine Pinay veranlaßte, den großen Sitzungssaal im Uno-Gebäude am New-Yorker East River zu verlassen.

Der Anlaß für Griechenlands Haltung war der Zypern-Streit. Griechenlands Versuch, in der Uno-Vollversammlung eine Debatte über seinen Anspruch auf die britische Insel Zypern herbeizuführen, war schon vom Lenkungsausschuß der Uno im Keim erstickt worden. Ein westlicher Uno-Diplomat meinte bitter: „Das Recht von Europäern auf Freiheit und Selbstbestimmung – sei es das der Griechen auf der Insel Zypern oder das der Litauer, Letten und Esten – ist in der Uno nicht durchzusetzen, wohl aber die Ansprüche der Kikujus und der Wilden auf Guinea.“

Auch die interamerikanische Solidarität wurde von der Algerien-Debatte betroffen. Sechs amerikanische Staaten stimmten mit „Ja“, 14 mit „Nein“ (darunter die USA), zwei enthielten sich der Stimme.

Uno-Generalsekretär Hammarskjöld klagte, die Kolonialfrage drohe, die Uno als Forum friedlicher Aussprache unter den Völkern zu vernichten.

Der in Madras erscheinende „Indian Express“ richtete an die Westmächte die Frage: „Könnt Ihr die Zeichen an der Wand nicht lesen?“

Quelle: „Zeichen an der Wand“, Der Spiegel, 12. Oktober 1955, S. 26-27. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-31971340.html