Kurzbeschreibung

Machen wirtschaftliche Stärke und militärische Enthaltsamkeit Deutschland zu einer geoökonomischen Macht? Der Autor bestreitet diese Charakterisierung. Deutschland sei weder eine Mittel- noch eine Großmacht und entziehe sich den üblichen Definitionen von Macht.

Deutschland, das Macht-Rätsel (22. Februar 2012)

Quelle

Deutschland bleibt ein Rätsel

Eine neue These macht die Runde unter Deutschland-Experten: Deutschland sei, heisst es, eine geoökonomische Macht. Das Land sei einzigartig in seiner Kombination von selbstbewusster Ausübung ökonomischer Macht bei Verzicht auf klassische Machtpolitik, insbesondere auch in Bezug auf deren militärische Aspekte.

Eine neue These macht die Runde unter Deutschland-Experten: Deutschland sei, heisst es, eine geoökonomische Macht. Das Land sei einzigartig in seiner Kombination von selbstbewusster Ausübung ökonomischer Macht bei Verzicht auf klassische Machtpolitik, insbesondere auch in Bezug auf deren militärische Aspekte. Während Berlin sich in der Euro-Krise nicht scheue, die EU nach deutschem Bilde umzuformen, habe es sich bei der Libyen-Intervention herausgehalten. Geprägt hat den Begriff der geoökonomischen Macht der Politikwissenschafter Edward Luttwak 1990. Mit dem Ende des Kalten Krieges verliere militärische Macht an Bedeutung, so Luttwak, an deren Stelle träten ökonomische Machtmittel – Kapital und Innovation statt Raketen und Panzer.

In der Tat hat sich Deutschland seit der Wiedervereinigung nicht zu einer klassischen Mittel- oder Grossmacht entwickelt. Es hat nicht aufgerüstet, hat sich nicht aus europäischen und transatlantischen Bindungen gelöst, strebt keine Hegemonie an über Nachbarn. Deutschland ist vielmehr den Traditionen der alten Bundesrepublik, geboren in der Konstellation des Kalten Krieges, treu geblieben.

Zwar gab es ein bisschen „Militarisierung“, vor allem um das Jahr 2000, als Kanzler Gerhard Schröder Deutschland in zwei Kriege führte, Kosovo und Afghanistan. Und es gibt gelegentlich ein bisschen Grossmachtgetöse, wenn etwa ein CDU-Politiker frohlockt, dass Europa jetzt Deutsch spreche. Doch insgesamt ist Deutschland heute, gerade nach der Afghanistan-Erfahrung, kaum weniger pazifistisch gesinnt als zu den Hochzeiten der Friedensbewegung; die Bundeswehr wird gerade weiter eingedampft. Und insgesamt ist Deutschland auch heute kaum weniger multilateral orientiert als in der alten Bundesrepublik.

Gegenüber Griechenland in die Rolle eines Zuchtmeisters hineingerutscht zu sein, ist nicht das Ergebnis strategischer Absicht, sondern eine Folge der Umstände: des ökonomischen Erfolges, der Grösse und der Lage Deutschlands. Nach langem Zögern gab es für Berlin keinen anderen Ausweg mehr, als einen Plan zur Lösung der Euro-Krise vorzulegen. Doch dessen konkrete Ausformung des Planes war zu erheblichen Teilen von innenpolitischen Rücksichten getragen. Angela Merkel wollte nicht das deutsche Modell anderen aufzwingen, sondern die Wähler zu Hause beruhigen: Deutsches Geld gibt es nur gegen Sicherheiten, die den Deutschen einleuchten.

Dass ein Ungleichgewicht zwischen dem ökonomischen Gewicht Deutschlands und seinem Willen zur aussen- und sicherheitspolitischen Machtausübung besteht, stört die Deutschen keineswegs, im Gegenteil. International nicht anzuecken, im Strom mitzuschwimmen, sich in der sicheren Mitte zu bewegen, statt sich wie etwa Frankreich regelmässig aussenpolitisch zu exponieren, entspricht deutschem Selbstverständnis. Die Bundesrepublik versteht sich nach wie vor als Gegenentwurf zum deutschen Machtstaat, der in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zwei Weltkriege begonnen hat. Und aussenpolitische Zurückhaltung ist ja auch gut fürs Geschäft – deutsche Aussenpolitik kommt den globalen Aktivitäten deutscher Firmen nur in Ausnahmefällen in die Quere.

Zur geoökonomischen Macht fehlt Deutschland die Strategie; ökonomische Stärke wird nicht systematisch als aussenpolitisches Mittel eingesetzt. Und der weitgehende Verzicht aufs Militärische – auffällig gerade auch im Vergleich mit neuen Mächten in Asien, die erheblich aufrüsten – liegt auch begründet in der strategischen Gesamtkonstellation, in die deutsche Staatlichkeit hineingewachsen ist: zum einen die Sicherheitsgarantie durch die USA, zum anderen die Lage mitten in Europa, umgeben von engen EU-Partnern. Macht über andere auszuüben, ob klassisch machtpolitisch oder modern geoökonomisch, bleibt den Deutschen fremd. Dass ihnen dennoch Macht zufällt, ist allerdings ein Schicksal, das sie auf Dauer nicht ignorieren können.

Quelle: Ulrich Speck, „Deutschland bleibt ein Rätsel“, Neue Zürcher Zeitung, 22. Februar 2012. Online verfügbar unter: https://www.nzz.ch/deutschland_bleibt_ein_raetsel-1.15205750