Quelle
Die selbstbewußte Mittelmacht. Außenpolitik im souveränen Staat
Die Macht und das Selbstbewußtsein
Selbstbewußt ist, wer sich als anerkannt weiß: Die Position, die er in der Gruppe oder Gemeinschaft einnimmt, ist gefestigt und wird von keinem ernstlich in Frage gestellt. Und selbstverständlich ist seine Position keine in den hinteren, sondern eine in den vorderen Reihen. Selbstbewußt kann sein, wer im wesentlichen erreicht hat, was er erreichen wollte. Aber es gibt auch keinen Grund zu satter Selbstzufriedenheit: Die Verhältnisse sind in Bewegung, und man muß darauf achten, daß man in der Rangfolge der Akteure nicht zurückfällt. Die Anerkennung durch die anderen muß immer wieder neu erworben werden. Selbstbewußtsein ist die Voraussetzung dafür, daß man sich zutraut, dabei erfolgreich zu sein. Im Verlauf der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat sich Deutschland in Europa und in der Welt zunehmend in eine solche Position hineingearbeitet. Man kann sie als die einer selbstbewußten Mittelmacht bezeichnen.
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Die Handlungsmöglichkeiten und Einflußchancen einer Mittelmacht sind freilich sehr viel stärker soft-power-lastig als die eines Imperiums. Will man soft power und hard power knapp gegeneinander konturieren, so kann man sagen, daß hard power auf einer einseitigen Beziehung beruht, bei der die Einflußrichtung vom Machthaber zum Machtunterworfenen verläuft; soft power dagegen erwächst aus einem mindestens zweiseitigen Anerkennungsverhältnis. Wenn sie insgesamt kostengünstiger ist als hard power, dann wegen dieser Anerkennungsstrukturen. Deswegen ist sie aber auch prekärer und bedarf beständiger Pflege. Dementsprechend intensiv sind Mittelmächte um Anerkennung und Reputation bemüht. Aber sie möchten diese Anerkennung und Reputation doch auch auf Dauer stellen, um sich von dem Bemühen um deren beständige Reproduktion zu entlasten. Die Abhängigkeit von den Anerkennenden soll reduziert, ihr Einfluß vermindert werden. Der im letzten Jahr vorläufig gescheiterte Versuch Deutschlands, Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu werden, war vor allem der Versuch, die neu erworbene Mittelmachtposition auf längere Sicht abzusichern. Man ging in Berlin davon aus, hinreichend Ansehen erlangt zu haben, um bei diesem Projekt erfolgreich zu sein. Und obendrein hatte man darauf vertraut, die Position des drittgrößten Beitragszahlers der Weltgemeinschaft enthalte hinreichend Prestige, um sich durch die Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat in politischen Einfluß ummünzen zu lassen. Das ist mißlungen und konnte womöglich auch nicht gelingen – weniger freilich aufgrund speziell deutscher Reputationsdefizite, sondern infolge des strukturellen Organisationskonservatismus der UNO und der problematischen Koalitionsbildung, auf die Deutschland bei diesem Projekt angewiesen war.
Bei allem politischen Selbstbewußtsein, das seit der Wiedervereinigung gewachsen ist, bleibt die Position Deutschlands als Mittelmacht also prekär. Sie beruht in hohem Maße auf der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes. Legt man die von Michael Mann in seiner Geschichte der Macht beschriebenen vier Machtsorten zugrunde – politische, ökonomische, militärische und ideologische beziehungsweise kulturelle Macht –, so zeigt sich sehr schnell, daß auch das wiedervereinigte Deutschland über kein ausgeglichenes Machtportfolio verfügt: Die politische Macht ist in hohem Maße in die EU-Strukturen eingebunden und steht der Politik als nationale Ressource nur eingeschränkt zur Verfügung. Ähnliches gilt für die militärische Macht, die im wesentlichen in die NATO-Strukturen eingebunden ist, wobei man durch den Aufbau eigener europäischer Militärstrukturen etwas größere Handlungs- und Entscheidungsspielräume zu gewinnen versucht. Die Entscheidung, bei der europäischen Militärmission im Kongo die Position der »lead nation« zu übernehmen, ist wesentlich durch dieses längerfristige Interesse an größeren Entscheidungsspielräumen durch den Aufbau unterschiedlicher Einbindungsstrukturen des deutschen Militärs bestimmt.
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Zur Charakteristik einer selbstbewußten Mittelmacht gehört, daß sie sich an der Produktion kollektiver Güter aktiv beteiligt und sich weder drückt noch mit Geld von Verpflichtungen freizukaufen versucht. Eine selbstbewußte Mittelmacht ist, wer sich unter den skizzierten Umständen nicht nur für die Trittbrettfahrerposition entscheidet. Selbstbewußtsein findet seinen Ausdruck also ebenso in der Übernahme internationaler Verpflichtungen wie in der Wahrnehmung eigener Interessen. Hinter dem Vorwurf einer Militarisierung der Außenpolitik steht zumeist die Vorstellung, man solle an der Politik des Freikaufs weiter festhalten. Das aber heißt: Verzicht auf das Einbringen eigener Vorstellungen und schließlich Einwilligung in die Abhängigkeit von denen, in deren Machtportfolio auch militärische Mittel enthalten sind. Was das bedeutet, hatten die Europäer während der jugoslawischen Zerfallskriege schmerzlich feststellen müssen. Das aber wäre gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Position einer Mittelmacht und auf Selbstbewußtsein ohnehin.
Eine unabdingbare Voraussetzung für die Festigung der Position einer selbstbewußten Mittelmacht ist somit die Diversifizierung der Machtsorten, die der deutschen Politik – durchaus im Rahmen internationaler Strukturen und Verpflichtungen – zur Verfügung stehen. Dabei ist vor allem auf die ideologisch-kulturelle Macht mehr Aufmerksamkeit zu verwenden als bislang. Kern dessen ist die Positionierung Deutschlands als Kulturnation und Wissenschaftslandschaft, wobei mit Blick auf die Wissenschaft die Attraktivität deutscher Universitäten für ausländische Studenten und Wissenschaftler eine besondere Rolle spielt. Daß dabei die Studienreformen, die inzwischen unter dem Kürzel Bolognaprozeß zusammengefaßt werden, hilfreich sind, ist zu bezweifeln, insofern sie die spezifische Attraktivität Deutschlands eher vermindert als erhöht haben. In struktureller Hinsicht wird die deutsche Wissenschaftslandschaft jedoch am meisten durch die föderalistische Kleinstaaterei gefährdet, die gerade im Bereich der Bildungs- und Wissenschaftspolitik stark ausgeprägt ist. Insofern ist die Entscheidung, den Bund im Rahmen der Föderalismusreform nicht aus dem Hochschulwesen herauszudrängen, eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer stärkeren Attraktivität Deutschlands in diesem Feld. Es wird freilich darauf ankommen, daß hier nicht nur auf Probleme und Defizite reagiert, sondern auch strategisch gedacht und gehandelt wird, also daß die deutsche Politik sich der Kultur und Wissenschaft als einer Ressource im Machtportfolio bewußt ist. Das schließt nicht aus, daß beides auch ein wirtschaftlicher Standortfaktor ist.
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Quelle: Herfried Münkler, „Die selbstbewußte Mittelmacht. Außenpolitik im souveränen Staat“, Merkur, 60. Jg., Nr. 689/90 (September/Oktober 2006), S. 847 ff.