Kurzbeschreibung

Der Literaturkritiker und Journalist Ijoma Mangold erinnert an die positiven Seiten der Vereinigung und hebt hervor, wie sehr sich Deutschland verändert habe. Der Osten habe viel zu bieten, neue Allianzen zwischen Ost und West seien geschmiedet worden und Deutschland sei kulturell vielfältiger geworden.

Das neue Deutschland (9. Juli 2009)

  • Ijoma Mangold

Quelle

Seid stolz auf eure Vorurteile

Der Reichtum des vereinten Deutschlands sind die Unterschiede zwischen West und Ost: Aus ihnen ist längst etwas Neues entstanden.

Als der Sozialismus unterging und die DDR kapitalistisch wurde, war es ausgerechnet die Gleichheit, die zum Maßstab der Wiedervereinigung erklärt wurde. Das Postulat lautete: Gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West! Seither legt die Politik Jahr um Jahr in selbstquälerischer Manier Zahlen und Statistiken vor, die die Schande belegen, dass es weiterhin ein West-Ost-Gefälle gibt. Und damit man ja nicht auf dem falschen, dem materialistischen Fuß erwischt wird, folgt sogleich die Klage, dass sich die beiden Landesteile auch zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs noch immer seelisch und mentalitätsmäßig nicht angenähert hätten. Die Mauer in den Köpfen, heißt es dann stets im vorwurfsvollen Predigerton, sei eben immer noch nicht überwunden.

Und es stimmt ja: Auch im Jahr 2009 kann man in die Fremde reisen, ohne die deutsche Staatsgrenze überschreiten zu müssen. Aber es wäre an der Zeit, diesen Umstand nicht mehr als Problem oder Defizit wahrzunehmen, sondern als unvergleichlichen Gewinn. Das Ungleiche und Fremde, das mit der Wiedervereinigung aufeinanderstieß, macht den wahren Reichtum dieser geschichtlich einzigartigen Gesellschaftsfusion aus. Wo sonst hat man schon einmal die Chance, die Relativität der eigenen kulturellen Prägungen in ein und derselben Muttersprache vor Augen geführt zu bekommen?

Dass man im offiziellen Polit-Diskurs so auf Gleichheit aus war und sich der Ungleichheit schämte, hatte natürlich einen guten psychologischen Grund: Die Heterogenität zwischen Ost und West war auf den ersten Blick eine asymmetrische. Die eine Seite musste nachsitzen, musste zurück auf »los« und sich der Werteordnung der anderen Seite unterwerfen, die sich ihrerseits bequem als Sieger der Geschichte fühlen durfte, ohne unter den Druck zu geraten, ihre eigene Lebensweise hinterfragen zu müssen.

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Auch heute noch gibt es diese Asymmetrien, aber könnte es nicht sein, dass sie sich tatsächlich zugunsten des Ostens verschoben haben? Oder zumindest zugunsten einer völlig neuen Konstellation, die sich nicht mehr so nahtlos auf BRD und DDR reduzieren lässt?

Der Angeber-Wessi und der Jammer-Ossi waren keineswegs empiriefreie Fiktionen. Aber es waren doch höchst kurzfristige Rollenzuschreibungen, denn der Triumph des Angeber-Wessis währte nicht lange. Allzu selbstgefällig und bequem, galt er bald als kranker Mann Europas: Veränderungsunfähig, besitzstandswahrend und unflexibel, musste er schließlich durch geharnischte Reformandrohungen nicht zuletzt einer ostdeutschen Kanzlerin auf Trab gebracht werden. Während umgekehrt der angebliche Jammer-Ossi sich dem Veränderungsdruck ohnehin nicht entziehen konnte und so – zumindest idealtypisch – zum Transformationskünstler wurde, der zwei ganz unterschiedliche Erfahrungs- und Wertehorizonte in seiner Biografie unter einen Hut brachte – ein echtes Flexibilitätsvorbild. Der Ostdeutsche als Avantgarde – so hat es der Soziologe Wolfgang Engler nicht ganz zu Unrecht genannt.

Natürlich haben Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern noch immer die höhere Arbeitslosenrate, und viele ostdeutsche Regionen sind demografisch überaltert und verödet. (Wobei diese Gegenden auch traditionell strukturschwache Regionen waren.) Trotzdem sieht die mentale Landkarte Deutschlands mittlerweile anders aus. Was für die kulturelle Selbstachtung zum Beispiel wirklich zählt, ist der Städte-Stolz, und da sind die ostdeutschen Städte längst an den westdeutschen vorbeigezogen. Von Weimar bis Greifswald, von Erfurt bis Schwerin, von Dresden bis Potsdam: Die schönsten deutschen Städte stehen im Osten.

Die DDR, die für den Modernisierungsfuror der BRD stets zu klamm war, wirkt so im Rückblick wie eine heilsame Mumifizierung: Hier blieb erhalten, was die westliche Moderne fortschrittswütig nicht dulden wollte. Und dann ging die DDR zum Glück gerade noch rechtzeitig unter, damit die alte Bausubstanz von den Transfers des Aufbaus Ost wieder zu neuem Leben erweckt werden konnte. Seither reist der geschichtsbewusste, gesamtdeutsche Patriot lieber nach Stralsund als nach Pforzheim, lieber nach Görlitz als nach Stuttgart. Weshalb die Redeweise von den »neuen Ländern« fast grotesk wirkt: Verglichen mit Nordrhein-Westfalen ist Sachsen ein Musterbeispiel an Altehrwürdigkeit.

Überhaupt bilden sich völlig neue Koalitionen, die quer stehen zur alten Ost-West-Opposition. Diese neuen Allianzen haben, wenn nicht alles trügt, etwas mit dem bereits erwähnten Museumscharakter der DDR zu tun, und zwar in einem sehr grundlegenden Sinn. Deutschland hat mit der Wiedervereinigung an historischer Tiefe gewonnen. Die Überbleibsel der DDR wirken oft, als wäre man auf einer Zeitreise in ein Deutschland vor 1933. Es ist dabei ein Anachronismus am Werk, für den die vergangenheitsselige Gegenwart sehr empfänglich ist.

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Kurzum: Das neue Deutschland schließt in mancherlei Hinsicht freudig an kulturelle Traditionen an, die in der DDR viel lebendiger geblieben sind als im Westen.

Die Generation Berlin verbringt ihre Wochenenden längst auf den Spuren der alten DDR-Boheme in den Datschen Brandenburgs – als Botho Strauß sich, bereits in den frühen neunziger Jahren, ein Haus in der Uckermark baute, war er auch darin konservative Avantgarde.

Es ist dies natürlich eine zwiespältige Bewegung: Gerade mit Blick auf Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern könnte man zugespitzt von einer Refeudalisierung sprechen, die Züge kolonialer Landnahme trägt: Zwischen Müritz und Oder ertönen wieder Freilichtkonzerte in herausgeputzten Herrenschlossparks, zu denen durch Einladungskarten mit Fontane-Zitat gebeten wurde…Ingo Schulze hat in seinem Roman Neue Leben diese Tendenz sehr bissig auf den Punkt gebracht, indem er im Altenburg des Jahres 1990 einen höchst windigen Operetten-Aristokraten als Aufbauhelfer Ost auftreten lässt, der die ganze Zeit wie Johannes der Täufer die rettende Ankunft des Erbprinzen den erwartungsvollen Altenburgern verheißt.

Doch der sensibelste gesellschaftliche Seismograf ist stets die Schulwahl. Auch hier gibt es interessante gesellschaftlich-chemische Reaktionen, wo fremde Elemente überraschend neue Verbindungen eingehen: In Berlin kann man beobachten, wie die Karriere-Bourgeoisie West ihre Kinder, wenn bei den Jesuiten kein Platz mehr frei ist, nach Pankow auf die ehemalige Kaderschule Ost schickt: Hauptsache, Disziplin und Leistungsethos (dafür nimmt man dann in Kauf, dass die Kleinen sehr eigenwillige Geschichtsstunden zu hören kriegen…).

Und ein weiteres eminentes Zeichen für die neuen Allianzen war die bemerkenswerte Debatte über die Umgestaltung von Richard Paulicks Staatsoper unter den Linden in Berlin 2008, weil hier erstmals im Zeichen des sozialistischen Klassizismus PDS und CDU unter einem Banner kämpften – was beiden Seiten keineswegs nur geheuer war.

Sind alle diese Beispiele lediglich kultureller Überbau? Vielleicht. Aber dessen Wirkungsmacht sollte man nicht unterschätzen. Das Deutschland des Jahres 2009 unterscheidet sich nämlich in vielen Aspekten längst mehr von Nord nach Süd als von Ost nach West. Welch glückliches Land, das so kraftvoll durcheinandergeschüttelt worden ist!

Quelle: Ijoma Mangold, „Seid stolz auf eure Vorurteile“, Die Zeit, Nr. 29, 9. Juli 2009, S. 49.