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Junge Pioniere. Den jungen Ostdeutschen gehört die Zukunft
Alles war bestens vorbereitet für Anna: Abitur, danach einer der begehrten Studienplätze in Potsdam, zwei Auslandssemester in der Sowjetunion. Und nach fünf Jahren Studium ein garantierter Job als Russischlehrerin mit überdurchschnittlichem Gehalt, guter Rente. Für diese Zukunft entschied sich Anna, als sie sich 1987, gerade 15 Jahre alt geworden, für die Russisch-Spezialschule bewarb. Ihr Staat, die DDR, hatte den Lebensweg für sie geplant. Nicht geplant war die Wende. Russischlehrerinnen waren plötzlich nicht mehr so begehrt.
Es ist ein beliebtes Spiel, alle paar Jahre eine neue Generation auszurufen. Was gab es nicht schon alles: Die 68er wurden abgelöst von den No-Future-Kids, es folgte die Generation X, später die Generation @. Seit neuestem werden die 25- bis 35-Jährigen Deutschen als „Generation Golf“ bezeichnet. Das klingt hübsch. Nur: Wo bleibt der Osten?
Die jungen Leute in Ostdeutschland haben eine einmalige Erfahrung gemacht. Sie haben ein System – die DDR – noch bewusst erlebt; sie waren noch bei den Jungen Pionieren, sie haben den Wehrkundeunterricht mitgemacht und die Messe der Meister von Morgen. Dann erlebten sie den Umbruch. Sie gingen auf Demonstrationen und sahen zum ersten (und letzten) Mal Live-Übertragungen aus der Volkskammer. Schließlich fanden sie sich in der Welt von McDonald's, MTV und Milchschnitte wieder. Und all das in ein und demselben Land.
Diese Menschen sind – ähnlich wie die „Generation Golf“ – heute etwa 25 bis 35 Jahre alt. Doch ihr Leben lässt sich mit nichts weniger vergleichen als der „trägen Bewegungslosigkeit eines gutgepolsterten Sonntagnachmittags“ (FAZ-Redakteur Florian Illies in seinem Buch Generation Golf). Sie haben mehr erlebt als die Qual der Wahl „zwischen einer grünen und einer blauen Barbour-Jacke“. Eine Generation, die vielleicht mit jahrelangem Warten auf einen Trabi aufgewachsen ist, aber ohne Golf und bundesdeutschen Wohlstand. Es gibt im Osten junge Leute, die weit entfernt leben von der Arroganz und immer währenden Ironie der sich selbst feiernden (West-) „Generation Golf“. Und an denen die Salonsicht junger Schnösel aus dem FAZ-Feuilleton vorbeigeht. In den Umbrüchen der neunziger Jahre haben sie ein feines Gespür für gesellschaftliche Spannungen und Veränderungen erworben.
Die Soziologen sprechen von einer Generation im Zusammenhang mit einer prägenden Phase – das Jahr 1968 war ohne Zweifel eine solche. Die Jahre 1989/90 – der Fall der Mauer, die Demokratisierung der DDR und dann die Wiedervereinigung – haben einem ganzen Volk die Möglichkeit eröffnet (und es gezwungen), sich neu einzurichten. Mit einem Schlag war die DDR verschwunden und mit ihr das SED-Zentralkomitee, die polytechnischen Oberschulen und Dienstleistungskombinate, das Schlangestehen nach ein paar grünen Kuba-Orangen. Von einem Tag auf den anderen gab es 20 Waschmittel statt 2, gab es Privatfernsehen und komplizierte Fahrkartenautomaten im Stadtbus, tauchten Kiwis und Avocados auf. Nicht zu vergessen natürlich freie Wahlen und – das Arbeitsamt. Mit einer enormen Flexibilität haben die Ostdeutschen das Beste aus der Situation gemacht; viele sind an den Umstürzen gescheitert. Die jungen Ostler aber, die 1989 ihre letzten Schuljahre drehten, bekamen die Chance, ihr Leben doch noch selbst in die Hand zu nehmen – kurz bevor die DDR mit ihrer zentralen Studien- und Arbeitsplatzzuweisung ihre Biografien unwiderruflich programmiert hätte.
Viele der heute 50 bis 60-Jährigen haben gesellschaftlichen Status verloren. Sie verbinden mit dem Verlust der DDR häufig eine persönliche Niederlage. Und das, obwohl es zumindest materiell kaum jemandem schlechter geht. Unter den Menschen um die 40 haben sich viele eine neue Existenz aufgebaut. Sie haben ein Geschäft eröffnet, sind aus dem Plattenbau auf die grüne Wiese gezogen. Die meisten waren letztlich irgendwie erfolgreich. Aber sie hadern mit ihrem Schicksal. Die DDR steckt in ihnen, und damit häufig auch deren Denken und Geisteshaltungen. Die etwa 25-Jährigen hingegen hatten die besten Startbedingungen: Ihr Leben in der DDR war lang genug, um den Staat kennen zu lernen, aber auch kurz genug, um sich im neuen System schnell zurechtzufinden.
Die jüngste Shell-Jugendstudie attestiert der jungen Generation in Ostdeutschland eine größere Zukunftszuversicht als der im Westen. Die „neue Jugend im Osten“ ist mobiler und leistungsbereiter, sie lernt und studiert schneller. Vor allem fallen die Frauen auf: sie sind zielstrebiger und erfolgsorientierter. Und sie haben den ausgeprägten Willen, Job und Familie unter einen Hut zu bringen. Laut Shell-Studie würden 63 Prozent der jungen Ostfrauen für eine Arbeitsstelle innerhalb Deutschlands umziehen (Westfrauen: 45 Prozent). Im Osten sind die jungen Leute eher zum Sprung in die Selbstständigkeit bereit (53 Prozent, Westen: 46 Prozent).
Gleichzeitig stehen die jungen Ostdeutschen ihrem Land und der neuen Gesellschaft skeptisch gegenüber. Ihr Vertrauen in Staat und Parteien, in Verbände und Kammern ist deutlich geringer als das der gleichaltrigen Westler. Das politische Interesse ist in den letzten Jahren rapide gesunken. Kein Wunder: Als die DDR zusammenbrach, spürten sie die Ohnmacht der Politik. Wieso also dafür noch Zeit und Aufmerksamkeit verschwenden? So gesehen sind die 89er moderner, als manchem lieb ist: moderner, weil sie sich der New Economy anpassen und sich nicht mehr auf Vater Staat verlassen.
Trotzdem ist nicht der Ultraliberalismus ausgebrochen in Ostdeutschland, denn gleichzeitig findet sich eine hohe Wertschätzung alles Sozialen. Die Ostdeutschen – gerade auch die jungen – vertrauen stärker auf Freunde und Familie. Im Notfall werden auch an den Staat höhere Ansprüche gestellt. Offenbar verbinden sich hier (wirtschafts)liberale und soziale Einstellungen; dann wären die jungen Ostler genau die Menschen, die sich Ökonomen und Politiker immer wünschen: leistungsbereit, selbstständig, mobil und mit sozialem Gewissen.
Die 89er sind also die moderneren jungen Deutschen – sie sind wieder, nur anders, junge Pioniere: Aus DDR-Zeiten bringen sie das soziale Miteinander mit, der Umbruch brachte die Fähigkeit, sich zurechtzufinden, und aus der (weniger als im Westen gepolsterten) Kapitalismuserfahrung gewinnen sie den Willen zum Erfolg. Allerdings gibt es immer weniger junge Ostler. Die Abwanderung gen Westen ist in jüngster Zeit wieder gestiegen, und es gehen meist die Bestgebildeten und Aktivsten.
Dabei haben die Neuen Länder in weiten Teilen die modernste Infrastruktur Europas – im Osten ist ja vieles noch keine zehn Jahre alt. Nirgendwo in Europa gibt es ein so gutes Telekommunikationsnetz, die meisten Krankenhäuser verfügen über neueste Technik, das Ilmenauer Institut für Medientechnik ist das beste seiner Art. Und die Demokratie funktioniert eigentlich auch. Sicherlich nicht perfekt, aber wie am Schnürchen lief es nach 1949 im Westen auch nicht.
Neues lässt sich im Osten schneller durchsetzen. Wenn Gerhard Schröder von der geheilten German disease spricht, meint er das westdeutsche Bermudadreieck aus Parteien, Gewerkschaften und Verbänden. Der ostdeutsche Pragmatismus ist längst weiter. Viele Ostdeutsche fragen sich, ob die (West-)Gesellschaft zu einer ähnlichen Anpassungsleistung überhaupt fähig wäre. Sie können selbstbewusst sein: „Was wir hinter uns haben, steht euch bevor“.
Nach der Wende beendete Anna ihr Abitur an der Spezialschule. Statt Russischlehrerin wurde sie Dolmetscherin. Heute arbeitet sie an der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo. In ein paar Jahren möchte sie wieder zurück nach Deutschland, am liebsten nach Leipzig. Vermisst sie die DDR und deren Sicherheit? „Nein, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, hätte ich mit der DDR nie haben können“.
Der Autor, 28 Jahre alt, ist Politologe und Mitarbeiter der SPD-Landtagsfraktion in Dresden.
Quelle: Thomas Kralinski, „Junge Pioniere. Den jungen Ostdeutschen gehört die Zukunft“, Die Zeit, 5. Oktober 2000.