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Die Aufgeregten
Die nostalgische Linke passt bestens in die Gegenwart
Noch kann keiner wissen, ob aus der Kombination der beiden Politdiven Oskar Lafontaine und Gregor Gysi eine Art Ostalgieshow mit geladenem Saarländer wird, oder ob es eine List der Vernunft war, den Kamerajunkies keinen anderen Ausweg als den der Vereinigung zu lassen. Bis vor wenigen Tagen jedenfalls schien eine gesamtdeutsche Partei links von Rot-Grün unmöglich. Die neuen Lifestyle-Rebellen, die sich auf dem globalisierten Weltanschauungsmarkt bedienen und ab und an bei Attac mitmachen, scheuen allzu feste Organisationsformen. Die revolutionäre Avantgarde des Landes hat bereits vor 15 Jahren ihre Abschiedsvorstellung gegeben. Am 12. Mai 1990, gegen 11 Uhr, versammelte sie sich vor der Alten Oper in Frankfurt am Main, um zum Römerberg zu laufen. „Nie wieder Deutschland" hieß die Losung. Das konnte in diesen Tagen nur heißen: Keine Währungsunion! Keine Vereinigung! „Gegen die imperialistische Einverleibung – für ein sozialistisches Deutschland" stand auf Transparenten.
Dem Schriftsteller Gerd Koenen erschien die Demonstration wie ein Fastnachtsumzug der Wiedergänger, ein letztes Zusammentreffen jener, die die revolutionäre Flamme hüteten. Zwar marschierte auch ein Block in den Blauhemden der Freien Deutschen Jugend, aber den Ton gab die West-Linke an, wenn auch in geborgten Kostümen. Ein Schalmeienzug spielte, auf einem Wagen mit großer Weltkugel stand Lenin als Prolet verkleidet und fegte das Ausbeutergeschmeiß vom Globus. Danach kam mit Heavy-Metal-Gesängen der Schwarze Block.
Wasserwerfer fuhren auf, Steine flogen. Krawalle, Verletzte und Festnahmen bestätigten das Weltbild der Welterlöser. Über Emanzipation und Befreiungsstrategien hatte die West-Linke in endlosen Seminaren und Dutzenden Zeitschriften diskutiert. In dem Augenblick, in dem die DDR-Bürger die Despotie abschüttelten und sich aus der Unmündigkeit befreiten, fiel der revolutionären Avantgarde wenig Besseres ein als von Großstrategien des Kapitals zu faseln.
Auch die PDS lehnte damals die Vereinigung nach dem Fahrplan Helmut Kohls ab. Zwar war ihre Kommunistische Plattform in Frankfurt mit von der Partie, aber es hätte den politischen Tod der Partei bedeutet, wäre sie geschlossen in die Marschkolonnen der Grüppchen eingeschwenkt. „Deutschland – einig Vaterland" hatte schließlich auch Hans Modrow gefordert, und die Helleren unter denen, die eben noch SED-Genossen gewesen waren, wussten, dass sie den Ostdeutschen nicht schon wieder mit dem abstrakten Kampfspiel „Proletariat gegen Bourgeoisie" kommen konnten. Ein Ohr für Verlustängste und Alltagsnöte war wichtiger als ein geschichtsphilosophisches Großszenario.
Gegen die Währungsunion und den raschen Beitritt der neuen Länder sträubte sich lange auch Oskar Lafontaine. Er hatte früh begonnen, die Stimmung gegen die DDR-Bürger zu schüren, die nach dem Fall der Mauer in Scharen in den Westen strömten, und gefordert, die Zahlungen an sie zu streichen. Damalige Weggefährten bezeugen, dass er die Einheit verhindern wollte. Die Grünen schmollten mit dem Weltlauf. Wie auch viele gemäßigte Linke entwickelten sie eine plötzliche Nostalgie für die Bonner Republik. Aber weder Getöse noch Rückzug halfen. In den Neunzigern plagten sich alle, die es sich links von der SPD gemütlich gemacht hatten, mit dem unerwarteten Ende des Kalten Krieges. Es war die Stunde der Renegaten und Revisionisten. In der SPD wie bei den Grünen gewannen Pragmatiker und Realos. Links davon schienen sich nur Sektierer oder jugendliche Rebellen zu tummeln. Oder die Regionalpartei PDS, von der man glaubte, sie würde bald verschwinden.
Ein junger Ostdeutscher, der sich Anfang der neunziger Jahre aufmachte, um die West-Linke neben SPD und Grünen kennen zu lernen, begegnete nicht nur kritischen Geistern, sondern auch vielen allzu vertrauten Zumutungen wieder. Er traf Orthodoxe, denen die reine Lehre wichtiger war als ein Blick aus dem Fenster. Er begegnete Misstrauischen, die hinter jeder Ecke einen Nazi witterten und auch ihn unverzüglich nationalistischer Gesinnungen verdächtigten. Ältere Herren und Damen erzählten entzückt von Heldentaten aus ihrer rebellischen Jugend: Damals, als sie anfingen, keck über den Rasen zu laufen. Wenn man ihnen die subversive Haltung nicht glauben mochte, reagierten sie unwirsch.
Gefühlslinke umarmten ihn ungebeten und hießen ihn in einer Gemeinschaft willkommen, in der alle gleichsinnig unausgesprochene Überzeugungen zu teilen schienen. Dass er die Frage, ob man den Kauf südafrikanischer Weintrauben mit seinem Gewissen vereinbaren könne, für unwichtig hielt, verstanden sie nicht. So verschieden sie waren, so großen Wert legten sie auf ihre Unterschiede. Aber beinahe einhellig legten sie Wert darauf, mit den Spießern und Funktionären von der PDS nichts gemein zu haben. Die ostdeutschen Sozialisten dienten als Gegenbild, um sich der eigenen Vortrefflichkeit zu versichern.
Wenn nun Oskar Lafontaine und Gregor Gysi gemeinsam gegen Rot-Grün antreten, dann ist das – es mag uns gefallen oder nicht – eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Linken und in der Geschichte der Einheit. Da verbinden sich nicht allein zwei alte Gegner Helmut Kohls zu einer merkwürdigen Ost-West-Allianz. Die Sozialisten außerhalb der SPD erleben eine Renaissance. Jene Kräfte, denen man es am wenigsten zugetraut hätte, lauter Totgesagte, führen mit altem Personal ein neues Stück auf.
Auf die bloße Ankündigung hat die Öffentlichkeit bisher mit Exorzismusversuchen reagiert, mit einer Art Abwehrzauber, in dem Schrecken und Faszination gemischt sind. Während die einen das neue Linksbündnis zu einer anachronistischen Veranstaltung und mithin einer Totgeburt erklären, meinen die anderen, die Zeit sei reif für eine wahre, eine echte Linke, aber eben die bekämen wir ja leider nicht.
Dabei spricht einiges dafür, dass mit dem Bündnis die Anpassung des Parteiensystems der Republik an neue Verhältnisse beginnen könnte.
Bereits im September 2003 hat Oskar Lafontaine in einem Gedankenspiel erwogen, ob es nicht vernünftig wäre, wenn die SPD in den neuen Ländern und die PDS sich zu einer ostdeutschen SPD vereinigten. Diese sei dann für die Sozialdemokratie, was die CSU für die Christdemokraten: regional begrenzt und ein wenig schärfer, ideologischer. Der Vorschlag, von Sozialdemokraten rasch als Schnapsidee verworfen, zeigte vor allem, wie wenig Lafontaine vom Osten verstand. Immerhin blieb er hartnäckig, sprach im Sommer der Hartz-IV-Hysterie auf einer Kundgebung in Leipzig – ohne jedoch den erwünschten Effekt zu erzielen. Die Montagsdemonstrationen im Osten waren zum großen Teil spontan von lokalen Koalitionen organisiert worden, um Volkszorn gegen die Politik insgesamt zu artikulieren. „Wir sind das Volk", die glückliche Losung aus dem Kampf gegen eine Diktatur, wird unter demokratischen Verhältnissen rasch zur antiparlamentarischen Parole. Wütende Gesellen ins politische System zu integrieren ist eine tradierte Aufgabe linker Parteien, SPD und Grünen, die Autoren der Hartz-Gesetze können deren Gegner naturgemäß nur schwer erreichen.
Mit Hartz IV begann eine Zeit der Aufregung, ohne die das Bündnis weder zustande kommen noch Wahlerfolge erreichen könnte. Nach dem mühsamen Abschied von Revolutionsabsichten oder Strategien zur Systemüberwindung bedarf es der Erregung und des besonderen Gefühls, dieser Augenblick sei der Zeitpunkt der Entscheidung. Ohne den Eindruck, das große Ganze drohe Schaden zu nehmen, noch sei Umkehr möglich, kann heute links von Rot-Grün keine sozialistische Organisation gedeihen.
Die Erfolge der PDS, die im Dezember 1991 nur fünf Prozent der Ostdeutschen wählen wollten, beruhen wenigstens zur Hälfte auf solchen Stimmungen. Mit der „Rote-Socken-Kampagne" hat die CDU 1994 dafür gesorgt, dass im Osten der Eindruck entstehen konnte, man stehe im Kulturkampf, müsse zwischen Schwarz und Weiß wählen. Die PDS brauchte als Symbol ostdeutschen Trotzes nur noch selbst gestrickte rote Söckchen zu verteilen – und war als politische Kraft dauerhaft etabliert.
Lafontaine hatte es zu gleicher Zeit wesentlich schwerer. Er musste die unerlässliche Aufregung selbst erzeugen, auf dem Mannheimer Parteitag 1995 einen Ausnahmezustand herbeireden. Er verhieß, dass es noch Visionen gebe, für die es sich zu kämpfen lohne, blieb aber vage, welche das denn seien. Dieser Politik der kämpferischen Geste verdankte er seinen größten Triumph – und das war die Abwahl Rudolf Scharpings.
Auch Gysis größter Erfolg setzte eine Art Ausnahmezustand voraus. 2001 erreichte die PDS im Ostteil Berlins beinahe die absolute Mehrheit. Die Stadt war durch die Machenschaften des Vorgängersenats endgültig ruiniert worden, Schröders Bekenntnis zur „uneingeschränkten Solidarität" mit den USA hatte alte Ängste im Osten geweckt, antikommunistische Kampagnen tauchten die PDS noch einmal in flackerndes Licht. Gysis damalige Geste ähnelte seiner heutigen: In der Stunde der Not und der Entscheidung bin ich bereit. Als im Bundestagswahlkampf 2002 die scharfen Angriffe ausblieben und im Osten Resignation den Trotz überwog, nützte der PDS ihr bis dahin stabiles Milieu nur noch wenig. Sie verlor trotz ihrer Verankerung in der ostdeutschen Gesellschaft.
Ohne Aufregung kann die sozialistische Linke aus WASG und PDS nicht reüssieren. Gegenwärtig muss sie sich darum nicht sorgen. Die Konservativen haben sich längst auf eine revolutionäre Rhetorik eingeschworen. Im Herbst 2002 rief der Zeithistoriker Arnulf Baring die Bürger auf die Barrikaden, um die Erstarrung der Bundesrepublik zu einer westlichen DDR in letzter Minute zu verhindern. Die CDU hat radikale Reformen angekündigt. Die Wut über das neue Bündnis ist jetzt schon groß. Die nötige Betriebstemperatur scheint also gegeben, den Rest besorgt die Autosuggestion der „historischen Gelegenheit".
Inhaltlich fällt die neue Linke durch Allerwelts-Schlagworte wie „Arbeit" und „Gerechtigkeit" auf – auch CDU und SPD versprechen derlei. Selbst der Kampf gegen Hartz IV ist kein neulinkes Sonderthema. Immerhin hat im August 2004 auch der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt erwogen, an den Montagsdemonstrationen teilzunehmen. Wahrscheinlich erklärt dies den öffentlichen Abwehrzauber: Das Bündnis agiert mit Themen aus der Mitte, Begriffen und Parolen aus der Mitte und verbindet sie mit dem Impuls des Dagegenseins.
Die programmatische Leere – der die anderen Parteien kaum Fülle entgegensetzen – ermöglicht WASG und PDS einen gelassenen Umgang mit den Ost-West-Unterschieden. Mag der eine spießig, der andere oberflächlich, einer selbstgerecht, einer sündenstolz erscheinen – sie eint die Angst vor dem Abstieg oder die Erfahrung realer Deklassierung. Sie eint die Überzeugung, dass sie nicht zu den Gewinnern der Reformen gehören werden, dass diese auf Kosten der kleinen Leute gehen. Sie eint die Überzeugung, dass keine andere Partei ihre Interessen vertritt. Wer im Gegenzug harmonische und konfliktfreie Sozialverhältnisse beschwört, macht die Sache nicht besser. Guido Westerwelle behauptet, liberale Wirtschaftspolitik sei gut für das ganze Volk, schließlich habe Ludwig Erhardt sein Buch „Wohlstand für alle" genannt. Das ist nicht weniger nostalgisch als die Sozialstaatsromantik Oskar Lafontaines, der „Politik für alle" verspricht. So weit auseinander sind der angeblich neoliberale Zeitgeist und seine Gegner nicht. Beide hoffen, durch das Drehen an den richtigen Schrauben, die Deutschland-Maschine wieder in Gang bringen und dann alle mitnehmen zu können. Eine Illusion.
Noch wirkt das Linksbündnis so nostalgisch. Käme es zustande, würde es das Versprechen übernehmen, jene zu vertreten, die als soziale Figuren anachronistisch geworden scheinen: Dauerarbeitslose, Bewohner randständiger Regionen, arme Rentner. Deren Interessen wären gegen die der Jüngeren, Wohlhabenden, Flexiblen zu behaupten, die einwenden werden, dass es nicht gerecht ist, auf Kosten anderer zu leben, dass der Sozialstaat, wie wir ihn kennen, die Freiheit über Gebühr einschränkt. Darüber muss im Parlament, nicht in SPD-Versammlungen gestritten werden.
Trotz Lafontainschen Größenwahns wird das Bündnis keine Partei für alle links der Mitte werden. SPD und Grüne haben sich ja auch keineswegs dem ominösen Neoliberalismus verkauft. Aber den enttäuschten West-Linken, Gewerkschaftern, Betriebsräten mit exorzistischer Inbrunst nachzurufen, sie seien von aller Vernunft verlassen, ist blauäugig und gefährlich. Wenn das Land sich ändern muss, wenn das Reformgerede mehr ist als Hysterie, müssen die Verlierer im Parlament vertreten sein. Ein taktischer Linksruck der SPD würde die Konflikte nur auf Zeit kaschieren, Teile der neuen Mitte frustrieren. Zu einer offenen, differenzierten Gesellschaft gehören mehrere kleine Parteien. Wer die Aufgeregten als Normalfall betrachtet, zwingt sie, einer Politik der Gesten eine ehrliche Klientelpolitik folgen zu lassen.
Quelle: Jens Bisky, „Die Aufgeregten“, Süddeutsche Zeitung, 25./26. Juni 2005.