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Ich hatte mich immer auf meinen erholsamen und tiefen Schlaf verlassen können. Während meiner Regierungszeit gab es allerdings drei Anlässe, die mich schlaflos bleiben ließen. Kosovo und Afghanistan – das bedeutete die Entscheidung, junge Soldaten in eine für sie ungewisse Zukunft zu schicken. Immer wieder ging mir die Frage durch den Kopf, wie es zu rechtfertigen sei, wenn sie ihr Leben verlieren würden. Solche Ausnahmesituationen, das Bewusstsein, auch für Leben oder Tod von Menschen verantwortlich zu sein, gehören zu den großen Belastungen dieses Amtes. Und schlaflos war ich auch nach dem Wahldebakel in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005, in jenen Tagen, als Franz Müntefering und ich die Entscheidung trafen, Neuwahlen anzukündigen. Dies berührte mich auf ganz andere Weise. Was mich umtrieb, war vor allem die Ungewissheit darüber, ob es zur Neuwahl kommen würde oder ob verfassungsrechtliche Bedenken dies verhindern könnten. Die Entscheidungsgewalt darüber lag beim Bundespräsidenten und beim Bundesverfassungsgericht.
Ich war in dieser Zwischenphase, die mir wie eine unendliche Hängepartie erschien, ziemlich unleidlich. Noch im Nachhinein bitte ich alle um Verzeihung, die mich damals ertragen mussten. In diesen unruhigen Nächten im achten Stock durchlebte ich noch einmal die sieben Jahre als Bundeskanzler. Immer wieder setzte ich mich auch mit den Einwänden auseinander und mit dem Zweifel vor allem von Joschka Fischer, ob Neuwahlen wirklich notwendig und unabwendbar seien. Und Joschkas Meinung war mir sehr wichtig. Was hatten wir in diesen sieben Jahren nicht alles gemeinsam durchstehen müssen, vom Kosovo bis zum Irak. Er war die gesamte Zeit über ein verlässlicher Partner, dem ich nur ungern widersprach, wenn er sich mit einer Entscheidung nicht anfreunden konnte. Die Neuwahlentscheidung war eine solche.
Joschka Fischer, den ich früh mit meinen Vorstellungen konfrontiert hatte, erhob im Wesentlichen zwei Einwände. Zum einen beschäftigte ihn der lange Zeitraum zwischen der Ankündigung, in den Prozess zur Neuwahl zu gehen, und einer abschließenden Entscheidung, möglicherweise erst Monate später, durch das Bundesverfassungsgericht. Zum anderen vertrat er die Auffassung, dass eine verbesserte wirtschaftliche Situation im Jahre 2006, die alle erwarteten, eine günstigere Ausgangslage für den Wahlkampf schaffen würde. Beides waren ernst zu nehmende Argumente, die mich jedoch letztlich nicht überzeugten. Aber auch ich hatte mir immer wieder die Frage gestellt, ob es eine Alternative gäbe.
Wir hatten das katastrophale Wahlergebnis von Nordrhein-Westfalen im Nacken und im Norden das Debakel um Heide Simonis zu ertragen, die bei der Wahl zur Ministerpräsidentin im Kieler Landtag am 17. März 2005 ganz offenkundig an einem Heckenschützen aus den eigenen Reihen gescheitert war. Nach dem vierten verlorenen Wahlgang war ihr Rücktritt unvermeidlich. Ein Ergebnis dieser Ereignisse war der krachende Absturz von Rot-Grün in den Umfragen. Der Auslöser für den sich anbahnenden rasanten Verfall der Zustimmung zur Arbeit der Koalition aber war die Nachricht, dass die Arbeitslosenzahlen die Fünf-Millionen-Grenze überschritten hatten. Im Januar 2005 wurden genau 5,037 Millionen Arbeitslose registriert. Dass es sich dabei im Wesentlichen um einen statistischen Effekt handelte, der durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe entstanden war, machte die Symbolik der großen Zahl nicht geringer. Erstmals tauchten nun die bisherigen erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger in der Arbeitslosenstatistik auf. Natürlich hatten damit der Wahlkampf in Schleswig-Holstein in seiner Schlussphase und drei Monate später der Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen ihr Thema. Unsere an sich guten Aussichten im Norden welkten dahin. Die Wahldebakel entmutigten die Partei, das war deutlich spürbar. Und daraus ergab sich für mich die Frage, wie lange ich noch in den eigenen Reihen mit Unterstützung für meine Reformpolitik und für die Agenda 2010 rechnen konnte. Ich wollte eine Abstimmung über diese Politik – und so neues Vertrauen
aufbauen. Die einzige Chance, das zu erreichen, war ein vorgezogener Wahlgang.
Dieses Kapitel war für mich eines der schwersten meiner ganzen politischen Laufbahn. Immer wieder durchlebte ich die Tage und Wochen, bis der Weg offen war, über die Vertrauensfrage im Bundestag Neuwahlen herbeizuführen. Eines war völlig eindeutig und für mich immer klar: Ich musste an der eingeschlagenen Politik festhalten. Die Agenda 2010 war eine Kursbestimmung, die aufzugeben für mich undenkbar und für die SPD eine Katastrophe gewesen wäre. Hätte der Druck relevanter Teile von Partei oder Fraktion mich dazu gezwungen, wäre mein Rücktritt unvermeidlich gewesen. Das war die Lage. So sah ich sie, und das war der Grund, warum ich Franz Müntefering mit der Idee der Neuwahlen konfrontierte.
In den intensiven Gesprächen, die wir darüber seit der verlorenen Schleswig-Holstein-Wahl führten, habe ich ihm gesagt: „Wenn du ganz sicher bist, dass du zu jedem Zeitpunkt bis zum Ende dieser Legislaturperiode 2006 eine Mehrheit für die Agendapolitik in der eigenen Fraktion hast, dann brauchen wir keine Neuwahlen. Wenn du das aber nicht garantieren kannst, dann müssen wir Neuwahlen anstreben. Das ist die einzige Chance, einen erzwungenen Rücktritt mit allen negativen Folgen für die Entwicklung der SPD zu vermeiden.“
Alle Bilder dieser Tage und Wochen spulten sich vor meinen Augen erneut ab, während ich durch den kleinen Raum wanderte, hinüber ins Esszimmer ging und die Terrassentür öffnete, hinaustrat und auf das nächtliche Berlin blickte, wieder einmal, und mit dem Blick auf Reichstag und Freiheitsglocke die Symbole einer Zeitenfolge vor Augen, die diesem durch die Nazizeit so entwerteten Land eine neue Chance eröffnet hatte, endlich da anzukommen, wo wir doch hingehörten: in den Bund der aufgeklärten und demokratischen Nationen.
Und erneut durchlebte und durchlebe ich die desillusionierende Einsicht, dass dieses
21. Jahrhundert so gar nicht mit den Hoffnungen einherzugehen scheint, die an den Fall des Eisernen Vorhangs geknüpft wurden. Es wird wohl ein Jahrhundert werden, das an die Vernunft und die Fähigkeit zu friedlichem Ausgleich vor allem der demokratischen Welt hohe Anforderungen stellen wird. Mehr denn je wird sozialer Ausgleich eine globale Dimension bekommen. Die bisherige Hegemonie der industriellen westlichen Welt ist ja längst Vergangenheit. Andere haben aufgeschlossen und treten als Konkurrenten auf den Weltmärkten an. Unsere gesamte Politik der Reformen und der Erneuerung war ein Reflex auf diese globale Herausforderung. Solche Gedanken kamen mir auf der Terrasse des Kanzleramtes, acht Stockwerke hoch und mit Blick auf die Kulisse dieser Stadt und ihre Geschichte, in der sich das Land und seine Menschen in ihrer schrecklichsten Phase so weltabgewandt, zerstörerisch und selbstzerstörerisch zugleich gezeigt hatten.
Die Erinnerung an den Wahlsonntag von Nordrhein-Westfalen kam mir in diesen Nächten wieder und wieder in den Sinn. Franz Müntefering und ich hatten verabredet, dass wir anhand des Wahlausgangs entscheiden wollten, wohin die Reise gehen sollte. Wir trafen uns an diesem 22. Mai 2005 mittags in meinem Büro im Kanzleramt und machten uns auf einiges gefasst. Dennoch schockierten uns die Zahlen, die uns schließlich erreichten. Das Ergebnis war für die SPD katastrophal, und es wurde ein ziemlich überzeugender Sieg der CDU im ehemals roten Nordrhein-Westfalen: Sie gewann deutlich mit 44,8 Prozent, die SPD erreichte nur noch 37,1 Prozent, Bündnis 90/Grüne schnitten mit 6,2 Prozent noch ganz passabel ab; die FDP landete ebenfalls bei 6,2 Prozent.
Franz hatte zwei Alternativen vorbereitet. Die eine mögliche Antwort auf die NRW-Wahl hieß: Kabinettsumbildung; die andere: Neuwahlen. Den nächtlichen Berliner Himmel betrachtend, rekapitulierte ich unser Gespräch: „Franz, was ist, schaffen wir das? Dann brauchen wir keine Neuwahlen. Ich denke dabei vor allem an die Partei. Es geht erst in zweiter Linie um mich. Ich halte das schon aus.“ Und er antwortet: „Ich bin nicht sicher.“ Es ist die historische Wahrheit, wir haben das gemeinsam entschieden: auf Neuwahlen zu setzen.
Die Alternative, von der ich auszugehen hatte, nämlich politisch gegebenenfalls an der eigenen Partei zu scheitern und zurücktreten zu müssen, die erschien mir und auch Franz unbrauchbar. Diese Variante hätte die Situation für die SPD nicht verbessert. Neuwahlen also, unsere politische Schlussfolgerung aus dem Wahldebakel, die Franz Müntefering wie abgesprochen am Abend des 22. Mai vor der Presse bekannt gab. […]
Quelle: Gerhard Schröder, Entscheidungen. Mein Leben in der Politik. Hamburg: Hoffman und Campe, 2006, S. 374–79.