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„Ganz Deutschland ist Weltmeister“
Beide Mannschaften waren stehend k.o. Sie hatten sich bekämpft, sie waren in die Verlängerung gegangen, und dann startete André Schürrle einen seiner wenigen guten Vorstöße auf der linken Seite. Er ließ zwei Gegner stehen, flankte butterweich auf den gleichsam eingewechselten Mario Götze, der den Ball mit der Brust annahm und mit links perfekt vollendete. Es war der Treffer des Abends, es war das 1:0 der Deutschen im WM-Finale gegen Argentinien, es war das Tor zum vierten Weltmeistertitel.
Nach 1954, 1974 und 1990 ging die wichtigste Trophäe im Weltfußball wieder nach Deutschland, was viele Protagonisten hinterher noch gar nicht so richtig zu bewerten vermochten. „Das ist unglaublich“, sagte der gewohnt souveräne Torhüter Manuel Neuer. „Wir mussten einige Rückschläge einstecken, die vielen Verletzten.“ Dann zählte er die Bender-Zwillinge auf, die vor der WM ausgefallen waren und sprach den Satz des Abends: „Die sind auch Weltmeister, ganz Deutschland ist Weltmeister.“
Dass dies sogar noch historischen Wert hatte, machte den Titel in am Sonntag Rio de Janeiro doppelt wertvoll. Deutschland ist die erste Mannschaft aus Europa, die in Südamerika den Titel holt. „Was wir heute wieder geleistet haben über 120 Minuten, das ist unglaublich“, sagte Kapitän Philipp Lahm. „Ob wir die besten Einzelspieler haben, das ist vollkommen egal. Wir sind die beste Mannschaft.“
Deutschland im Finale ohne Khedira
Bis zu jener treffenden Feststellung allerdings war es ein weiter Weg. Wie bei so vielen Weltmeisterschaften zuvor schon war auch das Finale des globalen Kräftemessens in Brasilien alles andere als ein Fußballfestival gewesen. Keiner der beiden Konkurrenten wollte einen Fehler machen, so entwickelte sich ein zähes Endspiel im runderneuerten Fußballtempel Maracana von Rio de Janeiro. – was vielleicht auch an den Personalien lag. Bei den Deutschen war kurz vor dem Anpfiff Sami Khedira mit einer Wadenverletzung ausgefallen, bei den Argentiniern schaffte es Angel Di Maria nach seiner Wadenblessur nicht in die Startelf.
Für Khedira spielte Christoph Kramer, bei den Argentiniern verblieb Enzo Perez für Di Maria im Team. Es sollte einige Zeit dauern, ehe es richtig aufregend wurde. Auf Seiten der Argentinier jubelte Gonzalo Higuain zwar nach einer halben Stunde, doch der Angreifer des SSC Neapel stand bei seinem Treffer deutlich im Abseits. Zuvor hatte er nach einem Fehler von Toni Kroos schon völlig freistehend verzogen. Auf der anderen Seite hätte Benedikt Höwedes fast für die Führung gesorgt, aber sein wuchtiger Kopfball landete nur am Pfosten. Pech für den Schalker, Pech für Deutschland. Pech für Löw, der zuvor schon den bemitleidenswerten Kramer (Verdacht auf Gehirnerschütterung) gegen André Schürrle nach nur 32 Minuten hatte austauschen müssen.
Aufregung um Neuer und Higuain
Nach dem Wechsel setzte sich das Ringen fort. Zwar hatte der bis dato eher blass gebliebene Lionel Messi eine Gelegenheit und verzog knapp. Doch das war es für lange Zeit. Taktikfreunde mögen ihren Spaß gehabt haben, Liebhaber von Offensivaktionen mussten warten. Fast wären sie auf ihre Kosten gekommen, als Toni Kroos von der Strafraumgrenze zum Schuss kam. Doch was dem Noch-Münchner im Halbfinale gegen Brasilien beim dritten Tor glänzend gelungen war, missriet diesmal: Sein Versuch landete neben dem Tor. So blieb der Ausflug von Manuel Neuer an die Strafraumgrenze samt heftigem Zusammenstoß mit Higuain der einzige Aufreger in Hälfte zwei. 0:0 nach regulärer Spielzeit.
Wer würde den ersten folgenschweren Fehler machen? Keiner. Deutschland hatte zwar weiter mehr Ballbesitz, aber wegweisende Chancen blieben weiter aus. In der zweiten Halbzeit der Verlängerung nahmen dagegen die Nickligkeiten weiter zu. Agüero teilte aus, Bastian Schweinsteiger musste mit einer blutenden Wunde unter dem Auge behandelt werden. Er kam zurück, auch das war ein Signal vor der dann folgenden, finalen Co-Produktion von Schürrle und Götze.
Persönliche Genugtuung für Joachim Löw
Für Bundestrainer Joachim Löw ist der vierte Titelgewinn der Deutschen auch eine persönliche Genugtuung. Gegen viele Widerstände hatte er sich durchsetzen müssen, nach dem von ihm maßgeblich mitverschuldeten 1:2 im EM-Halbfinale vor zwei Jahren forderten nicht wenige in Deutschland voreilig seine Entlassung. Löw, soviel steht seit Sonntagabend fest, hat sie alle Lügen gestraft. Er ist nicht der Sturkopf, für den ihn nicht nur der „Spiegel“ gehalten hatte, er änderte Taktik, wechselte das Personal und reüssierte schließlich.
Dass er nun, nach der Krönung, Schluss macht, ist undenkbar. Zwei Jahre läuft der Vertrag ohnehin noch mit dem Deutschen Fußball-Bund. „Ich muss noch mal mit dem Präsidenten sprechen, vielleicht schmeißt er mich ja auch raus“, hatte Löw vor dem Finale gescherzt. Doch mit einem derartigen Vorgehen durch Wolfgang Niersbach muss er wohl nun nicht mehr rechnen.
„Auch die nächsten Jahre in der Weltspitze“
Zumal Löw nach dem Triumph von Rio keinen Anlass für einen radikalen Umbruch auf dem Weg zur Europameisterschaft 2016 in Frankreich und der nächsten WM-Endrunde 2018 in Russland sieht. „Wir haben sicherlich Spieler, die jetzt im Moment auf ihrem Zenit spielen, klar“, sagte Löw schon vor dem größten Spiel seiner Laufbahn, „aber wir haben viele jüngere Spieler in unserer Mannschaft“. Das Fundament sei top: „Ich glaube, dass wir schon das Potenzial haben, auch die nächsten Jahre in der Weltspitze sein zu können. Mit dieser Mannschaft oder vielleicht auch mit dem einen oder anderen Spieler, der dazu kommt.“
Nur Miroslav Klose zieht sich wohl zurück
Allein der 36 Jahre alte WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose hatte vor dem zweiten WM-Finale seiner Karriere und dem Auftritt in der Kultstätte Maracana einen Rückzug aus der Nationalelf nach mehr als 13 Jahren angedeutet. „Ich genieße jeden Moment, den ich auf dem Platz stehen kann“, erklärte der Teamsenior vor seinem 137. Länderspiel, das ihm die Krönung bei seinem siebten großen Turnier brachte. Über seine Zukunft entscheide er „spontan“, kündigte der nach dem Schlusspfiff weinende Klose an: „Ich kann leider noch, das muss ich betonen!“ Ein Einschätzung, die auch auf seinen Trainer zutrifft.
Quelle: L. Wallrodt, L. Gartenschläger, J. Wolff, F. Haupt, „Ganz Deutschland ist Weltmeister,“ Die Welt, 14. Juli 2014. Online verfügbar unter: https://www.welt.de/sport/fussball/wm-2014/article130112682/Ganz-Deutschland-ist-Weltmeister.html