Kurzbeschreibung

Vier Jahre nach der Vereinigung zeigen die Ergebnisse einer Studie zu Ungleichheit und Sozialpolitik in der ehemaligen DDR immer noch beträchtliche Unterschiede zu den alten Bundesländern. Entwicklungen der wirtschaftlichen Lage, der Einkommens- und Vermögensverteilung und des Arbeitsmarktes werden zusammenfassend dargestellt.

Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern (Januar 1997)

  • Richard Hauser

Quelle

Die Vereinigung ist abgeschlossen – die Unterstützung für den Osten wird fortgeführt

Die Angleichung der Lebensverhältnisse in den westlichen und östlichen Bundesländern bleibt eine Herausforderung an Politik und Gesellschaft im ganzen Deutschland

Die deutsche Wiedervereinigung war ein außerordentlicher historischer Vorgang. Zu fragen ist aber, ob die Angleichung der objektiven Lebensverhältnisse und der subjektiven Bewertung dieser Lebensverhältnisse ebenfalls schon eingetreten ist oder ob wir in der größer gewordenen deutschen Gesellschaft noch weit davon entfernt sind.

Kurz nach Erreichen der Einheit schlug der Wissenschaftsrat vor, eine „Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern“ (KSPW) einzusetzen und ihr die Aufgabe zu übertragen, den bereits zu DDR-Zeiten in Gang gesetzten Transformationsprozeß wissenschaftlich zu begleiten. Die Kommission, die sich interdisziplinär aus Soziologen, Politologen, Psychologen, Juristen und Volkswirten zusammensetzte, förderte in der ersten Phase ihrer Tätigkeit mit Mitteln der Bundesministerien für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie sowie für Arbeit und Sozialordnung insbesondere Forschungsprojekte von ostdeutschen Sozialwissenschaftlern, um unzugängliche Datenbestände und vielfältiges, nicht publiziertes Wissen aufzuarbeiten und zu erhalten; damit wurde gleichzeitig ein Impuls zur Bereicherung der ostdeutschen sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft angestrebt. In der zweiten Phase richtete sich die Tätigkeit der KSPW auf die Erstellung von sechs zusammenfassenden Berichten, die verschiedene Dimensionen des Transformationsprozesses bis 1995 nachzeichnen sollten. Aus dem Bericht der Arbeitsgruppe II über Ungleichheit und Sozialpolitik werden im folgenden einige wichtige Ergebnisse referiert.

Der Bericht untersucht grundlegende Entwicklungen in den sozialstrukturellen und sozialpolitischen Dimensionen des Transformationsprozesses in Ostdeutschland und macht sozialpolitische Problemlagen und Problemgruppen sichtbar. Bei dem durch die Vereinigung vollzogenen Wechsel der politischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung in Ostdeutschland kam der Sozialpolitik besondere Bedeutung zu. Diese entscheidende Rolle der Sozialpolitik im Zuge der Systemtransformation bestand aber nicht nur in einer sozialpolitischen „Abfederung“ der transformationsbedingten Wirtschafts- und Beschäftigungsprobleme. Im innerdeutschen Integrationsprozeß hat die Sozialpolitik zudem – vor allem innerhalb der Arbeitsmarktpolitik und der Alterssicherung – durch sehr hohe West-Ost-Transfers die Absicherung der Akzeptanz der Systemtransformation durch die Annäherung der Einkommen und Sozialleistungen an die hohen Standards in Westdeutschland übernommen. In diesem Zusammenhang sind auch die hohen West-Ost-Transfers zu sehen, die – netto gerechnet – etwa 120 bis 140 Milliarden DM pro Jahr betragen; das sind zwischen 4 und 5 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts.

Zum bisherigen Verlauf und zum Stand (1994) des Transformationsprozesses in den neuen Bundesländern kann man die folgenden Hauptergebnisse festhalten:

Bisheriger Verlauf

1. Die soziodemographische Entwicklung war gekennzeichnet durch einen Rückgang der Bevölkerung infolge von Übersiedlung nach Westdeutschland, durch einen dauerhaften Ost-West-Pendlerstrom, durch einen extremen Geburtenrückgang und durch eine Verminderung der durchschnittlichen Haushaltsgröße. Die durchschnittliche Lebenserwartung war in der DDR und ist auch jetzt noch in den neuen Bundesländern um mehrere Jahre geringer als in den alten Bundesländern.

2. Die wirtschaftliche Entwicklung in Bezug auf die Einkommen und die Verfügbarkeit der Güter verlief im Vergleich zum Ausgangszustand zwar sehr positiv, blieb aber hinter den anfänglichen euphorischen Erwartungen zurück. Die ostdeutsche Produktivität hat – ausgehend von einem Drittel – erst gut die Hälfte des westdeutschen Wertes erreicht. Der Produktivitätszuwachs müßte im Osten etwa ein Vierteljahrhundert lang um drei Prozentpunkte pro Jahr höher sein als im Westen, damit ein Gleichstand erreicht würde. Erst dann wären gleich hohe Löhne ökonomisch tragbar. Dies ist ein äußerst ehrgeiziges Ziel, das keineswegs mit Sicherheit erreicht werden wird.

3. Im Ost-West-Vergleich hat sich das verfügbare Durchschnittseinkommen der privaten Haushalte von 47,7 Prozent (1991) auf 78 Prozent (1994) erhöht. Zwischenzeitlich ist die Annäherung weiter vorangekommen. Das Preisniveau ist zwar ebenfalls stark gestiegen, liegt jedoch immer noch etwas niedriger als im Westen, so daß der Unterschied in den Realeinkommen noch etwas geringer ist. Die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit machen im Osten 1994 noch 91,5 Prozent des Volkseinkommens aus, während sie im Westen bei 70,1 Prozent liegen. Der Anteil der empfangenen Transfers am Haushaltseinkommen ist in den neuen Bundesländern noch weit höher als im Westen. In beiden Punkten besteht ein Anpassungsbedarf, der zu starken sozialen Konflikten führen kann.

4. Die Verteilung der Arbeitseinkommen und der gewichteten Nettoeinkommen pro Kopf war in der ehemaligen DDR wesentlich weniger ungleich als in den alten Bundesländern. Die Ungleichheit hat in den neuen Bundesländern jedoch deutlich zugenommen, wenn sie auch noch nicht das Ausmaß der westdeutschen Einkommensungleichheit erreicht hat. Relative Auf- und Abstiege waren anfänglich viel häufiger als im Westen, jedoch ist inzwischen eine Stabilisierung eingetreten. Personen der obersten Schicht hatten die wenigsten Abstiege zu verzeichnen. Der Anteil der Einkommensarmen (50 Prozent-Grenze) ebenso wie der Anteil der Sozialhilfeempfänger hat in den neuen Bundesländern zwar deutlich zugenommen, aber das westdeutsche Niveau noch nicht erreicht.

5. Die Verteilung des Vermögens unter den privaten Haushalten ist in den neuen Bundesländern weit ungleichmäßiger als in den alten. Dies rührt aber nicht von einer starken Konzentration der Anteile am Unternehmensvermögen her, das im Osten erst im Aufbau begriffen ist, sondern von einer stärkeren Konzentration von Grundstücken und Gebäuden, die sich in Händen von etwa 25 Prozent der Haushalte befinden. Ein wesentlicher Teil des privatisierten Staatsvermögens ist in die Hände von Westdeutschen und Ausländern übergegangen.

6. Die Arbeitsmarktlage ist durch einen Rückgang der Beschäftigung von 9,7 Millionen (1989) auf 6,7 Millionen (1995) gekennzeichnet. Trotz weitreichender Maßnahmen zum vorzeitigen Übergang in den Ruhestand, zur Umschulung und zur Beschäftigung in Sonderprogrammen ist die Arbeitslosenquote auf etwa 15 Prozent gestiegen. Besonders betroffen sind Frauen, Jugendliche und ältere Personen sowie gering qualifizierte Personen. Allerdings ist Personen über 55 in viel größerem Ausmaß als im Westen die Möglichkeit zum vorzeitigen Ruhestand eingeräumt worden.

7. Zu den Gruppen mit besonderen Problemen und stärkerer Betroffenheit vom Transformationsprozeß zählen insbesondere Arbeitslose, Alleinerziehende Frauen, Jugendliche und „unfreiwillige Vorruheständler; besonders große einkommensmäßige Verbesserungen gab es für alte Menschen.

8. Im Gefolge der Umstellung des Bildungswesens sind sowohl die Anteile der Abiturienten und Studenten als auch der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluß angestiegen. Insgesamt hat sich eine stärkere Differenzierung des Bildungswesens ergeben.

9. Die Wohnungsversorgung ist immer noch durch geringere Wohnflächen, schlechtere Ausstattung, einen geringeren Mietanteil am Nettoeinkommen sowie eine weit geringere Eigentümerquote gekennzeichnet.

10. Zwischen den neuen Bundesländern bestehen zwar regionale Disparitäten, jedoch sind diese – wenn man Ostberlin als Sonderfall unbeachtet läßt – geringer als zwischen den alten Bundesländern. Keines der neuen Bundesländer liegt in allen Bereichen zurück.

11. Die durch Befragungen ermittelte subjektive Zufriedenheit der ostdeutschen Bevölkerung mit einzelnen Aspekten ihrer Lebenslage liegt im Durchschnitt niedriger als im Westen. Dies gilt auch für die Gruppen der Arbeitslosen.

12. Positive Aspekte der wahrgenommenen Lebensqualität wie Glück und Zufriedenheit sind auch in den neuen Bundesländern in großem Umfang vorhanden, aber doch deutlich seltener als in den alten. Negative Aspekte, die sich in Besorgnis- und Anomiesymptomen ausdrücken, sind in Ostdeutschland stärker verbreitet.

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Quelle: Richard Hauser, „Die Vereinigung ist abgeschlossen – die Unterstützung für den Osten wird fortgeführt“, Das Parlament, 17./24. Januar 1997, S. 1.