Kurzbeschreibung

Wie der Historiker Otto Pflanze festgestellt hat, gehört die Idee, dass Bismarck die Verfassung des Norddeutschen Bundes in nur zwei Tagen Anfang Dezember 1866 entwarf, zu den ersten Mythen, die dem Bismarckkult Nahrung gaben. Wie das vorliegende Dokument zeigt, war die Vorgeschichte der Verfassung etwas länger, wenngleich deren intensivste Ausarbeitungsphase im Oktober und November 1866 lag. Die Verkettung von außenpolitischer Krise, Krieg und innenpolitischem Manövrieren im Frühjahr und Sommer 1866 hatte Bismarcks Nerven zerrüttet, und um seine Gesundheit wiederherzustellen, hatte er sich in das Dorf Putbus an der Ostseeküste zurückgezogen. Dort erhielt, redigierte und verknüpfte er erste Entwürfe, die ihm durch eine Gruppe von Beratern und Vertrauten zugesandt oder gebracht wurden. Während er seine Gedanken entwickelte, diktierte Bismarck seine Überlegungen seinem Sekretär Robert von Keudell in die Feder. Wie in den folgenden Auszügen aus jenen Diktaten nachzulesen ist, war Bismarcks dringlichstes Anliegen die Machtverteilung—zu Preußens Vorteil, aber auf eine Weise, die die Kräfte des deutschen Nationalismus und Partikularismus in Einklang brachte und für die süddeutschen Staaten den Weg offen ließ, dem neuen Deutschland beizutreten. Die hier in rudimentärer Form zu sehende Verfassung wurde dann zwischen dem 1. und 8. Dezember ausgearbeitet, nachdem Bismarck nach Berlin zurückgekehrt war. Allerdings waren Bismarcks gesamte Überredungskünste vonnöten, bis das Dokument endlich, mit vielen Zusatzartikeln, im Frühjahr 1867 vom Reichstag des Norddeutschen Bundes verabschiedet wurde. Diese Verfassung wurde in der Folge mit geringfügigen Änderungen nach der Einigung 1871 vom Deutschen Reich übernommen.

Bismarcks „Putbus Diktate“ zur zukünftigen Verfassung Deutschlands (Oktober–November 1866)

  • Otto von Bismarck

Quelle

I. Überlegungen zur Gestaltung des Norddeutschen Bundes

[Memorandum Bismarcks (Putbus) 30. Oktober 1866]

Kennt Savigny die vorhandenen Entwürfe zur Norddeutschen Bundesverfassung? [] Er wird sich an denselben klarmachen können, was er daran auszusetzen findet. Sie sind zu zentralistisch bundesstaatlich für den dereinstigen Beitritt der Süddeutschen. Man wird sich in der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des Bundesstaates geben mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken. Als Zentralbehörde wird daher nicht ein Ministerium, sondern ein Bundestag fungieren, bei dem wir, wie ich glaube, gute Geschäfte machen, wenn wir uns zunächst an das Kuriensystem des alten Bundes anlehnen.

Den zentralen Institutionen müssen wir schnell die Gegenstände ihrer Gesetzgebung zuschieben. An dem vor dem Kriege verkündeten Programm, daß Bundesgesetze durch Übereinstimmung der Majorität des Bundestages mit der der Volksvertretung entstehen, halten wir fest.

Je mehr man an die früheren Formen anknüpft, um so leichter wird sich die Sache machen, während das Bestreben, eine vollendete Minerva aus dem Kopfe des Präsidiums entspringen zu lassen, die Sache in den Sand der Professorenstreitigkeiten führen würde. []

Bundesministerien kann man bilden à fur et à mesure, daß ihre Ressorts praktisch ins Leben treten; mit dem Krieg wird man anfangen müssen, am besten, indem man die Geschäfte bis zur Vollendung der Bundesverfassung interimistisch dem preußischen Kriegsministerium überweist und dieses Interimistikum sich verewigen läßt. Die übrigen Zentralstellen für Handel, Zölle, Eisenbahnen usw. werden meines Erachtens am besten durch Fachkommissionen von 3 oder 5 Mitgliedern, ernannt von den Regierungen, die der Bundestag wählt, ausgefüllt werden. Diese Kommissionen redigieren das Material für die gesetzgeberische Bearbeitung und die Abstimmungen des Bundestages und des Reichstages. Letzteren aus zwei Kammern bestehen zu lassen, macht den Mechanismus zu schwerfällig, so lange daneben noch ein Bundestag als votierende Versammlung besteht, von der Masse der Landtage nicht zu reden.

Ich würde viel eher dazu raten, die Mitglieder einer alleinigen Versammlung aus verschiedenen Wahlprozessen hervorgehen zu lassen, etwa die Hälfte von den hundert Höchstbesteuerten der auf 200 000 Einwohner zu erweiternden Wahlbezirke wählen zu lassen und die andere Hälfte in direkten Urwahlen. Doch stelle ich diese Fragen ihrer Bedeutung nach nicht in die erste Linie. Die Hauptsache ist mir: keine Diäten, keine Wahlmänner, kein Census, es sei denn, daß letzterer so weit greift, wie oben angedeutet.

II. „Unmaßgebliche Ansichten über Bundesverfassung“

[Memorandum Bismarcks (Putbus) 19. November 1866]

Die Zusammensetzung des Bundestages in der neuen deutschen Verfassung hängt wesentlich davon ab, ob dem Könige von Preußen eine Stellung als Oberhaupt des Reichs oder die eines primus inter pares den anderen Mitgliedern des Bundes gegenüber zufällt. Im erstern Falle könnte man daran denken, aus dem Könige von Preußen einen selbständigen Faktor der Bundesgesetzgebung analog dem Monarchen eines konstitutionellen Staates zu machen und einem ohne oder mit geringer Beteiligung Preußens zu bildenden Bundestage die Stellung einer ersten Kammer eines Staatenhauses beizulegen. Diese Herstellung eines monarchischen Bundesstaates oder Deutschen Kaiserreichs wird formell mehr Schwierigkeiten haben als die Durchführung des zweiten Systems, welches sich den hergebrachten Bundesbegriffen anschließt und deshalb leichter bei den Beteiligten Eingang findet, auch wenn es Preußen dieselbe dominierende Stellung sichert. Letzteres würde annähernd erreicht, wenn man Verteilung der Stimmen nicht an den engeren Rat, sondern an das Plenum der Bundesversammlung anknüpft. In letzterem würde Preußen, wenn ihm die Stimmen der jetzt annektierten Staaten zugelegt werden, 17 Stimmen haben, die übrigen Staaten des Norddeutschen Bundes, wenn Darmstadt für Oberhessen eine von seinen ursprünglichen drei Plenarstimmen behält, würden zusammen 26 Stimmen zu führen haben, gesamte Stimmzahl 43, absolute Majorität 22. Preußen würde also diese Majorität haben, sobald fünf der kleineren Stimmen ihm beitreten. Die Gefahr, daß die preußische Regierung in erheblichen Fragen sowohl im Reichstag als im Bundestage in die Minorität geriete, ist bei der Überzahl preußischer Abgeordneter im Reichstage nicht wahrscheinlich; doch könnte man noch den Riegel vorschieben, daß in allen militärischen Fragen die Zustimmung des Bundesfeldherrn und daß zu Verfassungsänderungen zwei Drittel der Stimmen erforderlich sind. Diese zwei Drittel sind nach obigem ohne Preußen nicht herzustellen. Dieses Verhältnis müßte bei etwaigem Zutritt der Süddeutschen durch Erhöhung der preußischen Stimmzahl auf 20 gewahrt werden.

Die Vorzüge dieses Systems bestehen in seiner Anlehnung an das Hergebrachte, dem sich die Regierungen als etwas Gewohntem und Selbstverständlichem leichter fügen werden als jeder neuen Kombination, die ebenso, wie es ursprünglich die Verteilung der Plenarstimmen war, den Charakter der Willkürlichkeit tragen müßte, wenn man nicht etwa auch im Bundestage die Stimmen nach der Bevölkerung verteilen wollte, wodurch die übrigen Regierungen neben Preußen vollständig mundtot gemacht würden.

Wenn man auf diese Weise ein Plenum von 43 Stimmen herstellt, so würde es den Regierungen überlassen bleiben, soviel Mitglieder der Versammlung zu ernennen, als sie Stimmen ausüben, ohne das Stimmrecht von der Anwesenheit der entsprechenden Anzahl Gesandter abhängig zu machen. Auf diese Weise würde Preußen 17 Vertreter ernennen können, aber, wenn auch nur einer derselben anwesend wäre, doch 17 Stimmen ausüben. Dadurch wäre die Gelegenheit gegeben, dem Bundestage neben den eigentlichen diplomatischen Vertretern die Kapazitäten zuzuführen, deren er in jedem speziellen Ressort seiner Gesetzgebung bedarf. So denke ich mir beispielsweise neben unserem bisherigen Bundestagsgesandten, der das Präsidium führen und vielleicht Mitglied des Staatsministeriums sein würde, Leute von der Kategorie wie Voigts-Rhetz, Jachmann, Delbrück, Dechend, Günther, Camphausen, einen höheren Post- und Telegraphenbeamten, auch ein hervorragendes Mitglied der aristokratischen, industriellen und Handelskreise und andere als preußische Mitglieder des Bundestags, welcher auf einer 43 Plätze fassenden Ministerbank seine Inhaber dem Reichstage gegenüberstellen würde. Ich glaube, daß so die Schwierigkeiten, dem Reichstag ein Ministerium gegenüberzustellen, bei dessen Ernennung die Konkurrenz der uns verbündeten Regierungen nicht ausgeschlossen werden kann, sich im Anschluß an die bestehenden Einrichtungen und die gewohnte Nomenklatur lösen lassen. Die preußischen Vertreter würden unter sich natürlich in ihren Votis stets übereinstimmen und die Ansichten der Regierung gemeinsam zu vertreten haben: Es würde aber nicht ausgeschlossen sein, daß die Minorität des Bundestages ihre von den amtlichen Vorlagen der Majorität abweichende Ansicht auch vor dem Reichstage öffentlich plaidierte. Es kann dies namentlich für Preußen unter Umständen Bedürfnis sein. Die ministerielle Solidarität kann natürlich für die Vertreter der verschiedenen Regierungen, deren jede den ihrigen nach Belieben abrufen kann, nicht bindend sein.

Das Zweikammersystem halte ich auf die Bundesverhältnisse nicht für anwendbar. Die Maschinerie wird zu schwerfällig, da, abgesehen von der Masse der Landtage, eine Vertretung der Souveräne in den Reichsangelegenheiten unumgänglich ist, das Reich also mit dem Zweikammersystem notwendig drei per majora beschließende Körper und neben ihnen das Präsidium und Oberfeldherrntum mit unabhängigen Attributen haben würde. Eine weitere Ausbildung des Bundestages im Sinne eines Oberhauses kann sich vielleicht in Zukunft historisch entwickeln, damit müßte aber die schärfere Ausprägung des Kaisertums an Stelle der Präsidial- und Feldherrnattributionen Hand in Hand gehen.

Einzelne Attributionen der Exekutivgewalt, die bisher von der Bundesversammlung geübt wurden, müßten allerdings schon jetzt auf unsern König als Oberfeldherrn und Präsidialmacht übergehen. So, abgesehen von den rein militärischen Attributen, wie sie in den ursprünglichen Grundzügen bereits angedeutet, das Recht über Krieg und Frieden, Mobilmachung, Anstellung der gemeinsamen Beamten im Zoll-, Post-, Steuer-, Telegraphenwesen, immerhin mit Konkurrenz der Territorialregierungen in Gestalt eines Vorschlagsrechts, aber doch mit Vereidigung auf den Bund und Disziplin in der Hand des Präsidiums.

Quelle: „Überlegungen zur Gestaltung des Norddeutschen Bundes“, Putbus, 30. Oktober 1866, und „Unmaßgebliche Ansichten über Bundesverfassung“, Putbus, 19. November 1866, in Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, herausgegeben von. Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann, Friedrichsruher Ausg., 15 Bde. Bd. 6, No. 615, 616, Berlin, 1924–1935, S. 167–68, 168–70; abgedruckt in Otto von Bismarck, Werke in Auswahl. Jahrhundertausgabe zum 23. September 1862, herausgegeben von Gustav Adolf Rein et al., 8 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001, Bd. 4, Die Reichsgründung, T. 2, 1866–1871, herausgegeben von Eberhard Scheler, S. 7–10, mit Ergänzungen aus den privaten Unterlagen von Robert von Keudell, veröffentlicht in Otto Becker, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, herausgegeben von Alexander Scharff. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1958, S. 241–42.