Kurzbeschreibung

Ein Eintreten für den Sozialismus hatte in den 1870er Jahren und danach heftige staatliche Unterdrückung zur Folge. Nach 1878 übten das Sozialistengesetz und Repressalien der Unternehmer enormen Druck auf sozialdemokratische Aktivisten aus, ihre Anstrengungen geheim zu halten—selbst vor ihren Ehepartnern. Diese Passage zeigt aus der Sicht einer Ehefrau, die sich (in vieler Hinsicht) durch ihren politisch engagierten Mann gekränkt fühlt, den menschlichen Preis derartiger Unterdrückung und Geheimhaltung, obwohl beide Eheleute mit derselben politischen Bewegung sympathisieren.

Die Auswirkungen sozialdemokratischer Aktivitäten und Arbeitslosigkeit auf ein Arbeiterehepaar (1880er Jahre)

Quelle

Nach unserer Hochzeit folgte ich meinem Mann nach Dresden. Die erste Zeit verlief ruhig, und das Stilleben in dem schönen Ort Plauen bei Dresden wurde zu einer Erholung, der ich auch körperlich sehr bedürftig war. Von Politik wußte ich so gut wie nichts, obgleich mir bei den jeweiligen Wahlen zum Reichstage schon als Mädchen die Flugschriften der Sozialdemokraten immer am besten gefallen hatten, da dieselben die Lage des arbeitenden Volkes, zu dem ich doch auch gehörte, in der dem Volke verständlichsten Weise schilderten. Von den Gegensätzen im Parteigetriebe verstand ich nichts. Nachdem wir etwa ein Jahr verheiratet waren, traf uns der erste Schlag. Es war stets eine Freude für mich, wenn mein Mann den Nebenverdienst für die Mitarbeiterschaft an einem Fachblatt für Fabrikanten einstreichen konnte. Das hörte plötzlich auf. Weshalb? das war mir vollständig unklar, weil ich erst später die Unterschiede zwischen Arbeiter- und Unternehmerblättern machen lernte, und mein Mann mir seine Beteiligung an der, damals im Geheimen betriebenen politischen Bewegung verheimlicht hatte.

Die Beteiligung an dieser letzteren war aber der Grund des Verlustes, den ich durch feine Handarbeiten, bei aller Anstrengung, nicht ausgleichen konnte. Als dann die erste Maßregelung meines Mannes eintrat, welcher eine Zeit der Arbeitslosigkeit folgte, hielt die Not ihren Einzug in unsere Behausung. Nun wurde ich auch über die Gründe der Entlassung aufgeklärt. Lange Zeit dauerte es jedoch naturgemäß, bis ich auch nur mit den eigentlich treibenden Motiven bekannt wurde. Diese Zeit, eine eigentliche Übergangsperiode, genügte, mich meinem Manne zu entfremden. Wir verstanden uns absolut nicht mehr. Ein Freund meines Gatten, ein älterer Parteigenosse, der meinen Gatten geflissentlich für das Parteileben interessierte, und den ich hoch schätzte, weil er auch mich das ABC des Sozialismus lehrte, vermochte nicht, der Entfremdung entgegen zu wirken. Im Gegenteil, als uns Schlag auf Schlag traf, eine Maßregelung auf die andere folgte, die Not und Entbehrungen größer wurden, und mein Mann trotzdem des Abends fast ohne Ausnahme nicht zu Hause kam, wurde die Entfremdung immer größer und steigerte sich bis zur Abneigung. Gewiß gab auch ich mir die größte Mühe, die Prinzipien des Sozialismus zu studieren, auch ich war ehrliche Parteigenossin, soweit ich die Ziele begriffen hatte; aber mein praktischer Sinn sagte mir, daß zunächst die wirtschaftliche Lage nicht vernachlässigt werden dürfte, wenn man der Partei nützen wolle. Bei meinem Mann konnte ich mit solchen Anschauungen nicht ankommen. – In der größten Not hatte ich wieder Beschäftigung als Lederstepperin in einer größeren Schuhwarenfabrik gefunden und suchte so gut als möglich uns durchzuhelfen. Mein Mann jedoch ließ nach meiner Berechnung eine für unsere Verhältnisse zu große Summe in den Wirtshäusern und tat nach meiner Ansicht nichts, oder doch nur wenig, um unsere traurige Lage zu bessern, – kurz gesagt, er wurde nach meiner Auffassung lüderlich und gleichgültig gegen die Häuslichkeit. Als dann die Zeit kam, daß er seine erste Strafe antreten mußte, war ich wohl ziemlich mit den Prinzipien des Sozialismus vertraut, aber ich bedauerte ihn mehr als Genossen, als daß mir seine Entfremdung als Ehegattin nahe ging.

Quelle: „Lebensbilder XIX: Von einem Ehepaar sozialdemokratischer Gesinnung“, in Ethische Kultur 2 (1894): S. 398; abgedruckt in Klaus Saul, Jens Flemming, Dirk Stegmann und Peter-Christian Witt, Hrsg., Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871–1914. Düsseldorf: Droste, 1982, S. 40–41.

Die Auswirkungen sozialdemokratischer Aktivitäten und Arbeitslosigkeit auf ein Arbeiterehepaar (1880er Jahre), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-546> [05.11.2024].