Kurzbeschreibung

Dieser Auszug stammt aus einem Lagebericht von Karl Oldenberg, einem bekannten Professor der Nationalökonomie. Er gehörte der Redaktion der Zeitschrift Schmollers Jahrbuch an, in dem dieser Bericht 1892 veröffentlicht wurde. Am bekanntesten wurde Oldenberg durch das Werk Deutschland als Industriestaat (1897), das moralische und wirtschaftliche Bedenken gegenüber dem Verlauf der wirtschaftlichen Modernisierung erhob. In Vorwegnahme dieser Auseinandersetzung befasst sich diese Schilderung mit der Dynamik des Einzelhandels und den resultierenden Belastungen für Angestellte in einer Zeit wirtschaftlichen Übergangs. Neben der fehlenden gesetzlichen Handhabe gegen ausbeuterische Ladeninhaber wurden die Angestellten im Einzelhandel nun auch mit steigenden Arbeitszeiten (bis zu 18 Stunden am Tag) und Konkurrenz durch weibliche Angestellte konfrontiert, die nach Ansicht ihrer männlichen Kollegen die Löhne drückten. Oldenbergs Untersuchung hebt große regionale Unterschiede bei Löhnen und Arbeitszeiten hervor.

Handlungsgehilfen im wirtschaftlichen Wandel (ca. 1890)

  • Karl Oldenberg

Quelle

In der Sonntagsruhe war der deutsche Commis [Handlungsgehilfe] bisher ähnlich gestellt wie sein österreichischer Leidensgenosse: gesetzliche Beschränkungen hatten bis vor kurzem nur in geringem Umfange gewirkt, so die gänzliche Schließung der nicht mit Lebens- und Genußmitteln handelnden Detailgeschäfte Dresdens und Leipzigs nach einem Gesetze von 1870; daß der Handlungsgehülfe nur jeden zweiten Sonntag Nachmittag frei hat, war etwas ganz gewöhnliches. [] Auch die wöchentliche Stundenzahl geht über das englische Maß teilweise hinaus; 15, 16, 17, ja 18 Stunden am Tage werden in vielen Fällen verzeichnet, wobei, wie in England, die Mittagspause eingerechnet ist, die aber in dem sehr gewöhnlichen Falle der freien Station des Gehülfen keine feste Pause vorstellt, sondern nur die zur Nahrungsaufnahme unerläßliche Unterbrechung. Diese längste Arbeitszeit wird fast durchgängig angegeben für die umfangreiche Gruppe der Kolonial- oder Materialwaren- und Tabakgeschäfte. []

Kost und Wohnung, freie Station, wird noch sehr vielfach in den kleineren Geschäften gewährt, teils wegen der besseren Ausnutzung des Arbeitstages, teils weil der Gehülfe und Lehrling noch halb als Familienglied behandelt wird. Es kommt noch heute vor, daß die Gehülfen wenigstens Sonntags am Familientische des Prinzipals speisen, während Wochentags wohl meist schon die Rücksicht auf das Geschäft gemeinschaftliches Tafeln ausschließt. Eine Konsequenz dieser familiären Stellung ist die sehr bitter empfundene väterliche Zucht des Prinzipals, die sich namentlich in der Frage des „Ausgehens“ fühlbar macht; der Gehülfe muß beim Prinzipal oder bei der Prinzipalsfrau um Erlaubnis bitten, wenn er seinen Feierabend außer dem Hause zubringen will, oder muß wenigstens um den Hausschlüssel bitten. Besonders die Kolonialwarenverkäufer seufzen unter dieser Fessel, wahrscheinlich weil bei der enormen Länge ihres Arbeitstages jeder Ausgang mit dem Schlafbedürfnis in einen allzuscharfen Konflikt kommt und die vom Prinzipal beanspruchte Arbeitsfrische des folgenden Tages allzu merklich beeinträchtigt. Es ist wahrscheinlich schon eine Neuerung, wenn kontraktlich ein Abend in der Woche zum Ausgehen ausbedungen wird.

In den größeren Geschäften wohnt der Gehülfe in der Regel auf eigene Rechnung; es würde meist schon der Raum fehlen, um eine Mehrzahl von Gehülfen zu herbergen. Erst die ganz großen Geschäfte, wie der Pariser Louvre, können wieder darauf verfallen, Massenquartiere für ihre Angestellten herzurichten. [] In Frankfurt a. M. kommt der Jahresbezug von 700 Mark, anderwärts sogar 600 Mark, ohne freie Station vor, in Hamburger Kolonialwarenläden 180 Mark mit freier Station, in Bautzener Kolonialwarenläden desgleichen 120 Mark, in einem Bautzener Detailgeschäft bei freier Wohnung 360 Mark; der Wert der freien Station wird im Durchschnitt auf 600 bis 720 Mark geschätzt. In den kleinen Posener Manufaktur-Detailgeschäften bilden sogar 720 Mark ohne freie Station die Regel; in Hamburger Kolonialwarenläden sind 600 Mark mit freier Station nach Angabe eines dortigen Gehülfenvereins schon ein günstiger Fall, in Stettin sind sie das Maximum für den Kleinhandel überhaupt, während in Bautzener Kolonialwarenläden bei freier Station 240 bis 360 Mark den Durchschnitt bilden, aber auch 1200 Mark erreicht werden. [] Es war unvermeidlich, daß sich in der hier bezeichneten Schicht bejahrterer „junger Kaufleute“ ein ernstlicher Notstand entwickelte. [] In München beziehen verheiratete Gehülfen 1200-2000 Mark, in Breslau 1200 bis 2400 Mark, in Hannover 1800-2400 Mark, in Königsberg 1800-3000, aber auch unter 1200 Mark, in Stettin durchschnittlich 1800, aber auch 1200 Mark und weniger, in Bautzen geht ihr Bezug bis auf 900 herab, erreicht aber im Durchschnitt 1800-2000 Mark. In Frankfurt a. M. sind 2400 Mark für ältere Gehülfen ein hohes Gehalt. Wenn diese Ansätze, auch in ihren Minimalbeträgen, erheblich höher sind als die früher mitgeteilten Gehälter, so ist das gewiß wesentlich auf die gute Sitte zurückzuführen, das Gehalt mit der Anciennität regelmäßig steigen zu lassen; daß sie trotzdem nicht immer auskömmlich sind, wird vielfach genug ausgesagt. []

Wenn wir nun zusammenfassen, worin der beginnende Übergang zum Großbetriebe seinen Einfluß auf die Lage der Commis bisher geltend machte, so hat sich unser pessimistisches Vorurteil nur in sehr geringem Maße bewahrheitet. Der verbreitetste Übelstand: die übermäßige Dauer der Arbeit, scheint doch mehr noch aus der Natur des Detailhandels überhaupt zu entspringen und von der Stunde des ortsüblichen Feierabends der Kunden abzuhängen, als daß es ein Mittel der Kleinbetriebe wäre, die Konkurrenz mit dem großen Betriebe zu halten; die Konkurrenz der größeren, wohlhäbigeren Betriebe scheint vielmehr geeignet, auch die kleinen Prinzipale zu größerer Freigebigkeit gegen ihre Gehülfen zu bewegen, so daß diese z. B. eine bessere Beköstigung ertrotzen können. Sofern die Gehülfen im Kleinbetriebe ungünstiger gestellt sind, wird dem auch vielfach eine geringere Leistungsfähigkeit entsprechen. Andrerseits in den größeren Geschäften selbst wird kürzer gearbeitet, Sonntags mehr geruht, auch etwas besser gespeist als in den kleinen, soweit die bezüglichen Nachrichten überhaupt reichen. Die allgemeine großstädtische und großbetriebliche Entwicklung der Volkswirtschaft mag wohl den Commis in schnell wachsenden Städten ihre Wohnungsverhältnisse verschlechtert haben, obwohl die kleinstädtischen Commiswohnungen auch nicht viel besser sind, aber zugleich hat sie doch seine Lebenshaltung gehoben und durch den früheren Beginn des Arbeiter-Feierabends manchem Commis seinen Arbeitstag verkürzt. Als Opfer des Großbetriebs stellt sich nur ein Teil pekuniär sehr unglücklich situierter älterer Commis dar, und auch bei ihnen ist doch persönliche Untüchtigkeit mit im Spiele.

Daneben läßt sich allerdings nicht verkennen, daß auf dem rein sozialen Gebiete der Fluch des entstehenden Großbetriebs auch im Kaufmannsstande seine Wirkung zu üben beginnt, so mäßig hier die Anfänge des Großbetriebs auch sind. Selbst Georg Hiller, der gemäßigte Vorsteher des Verbands Deutscher Handlungsgehülfen, kann die Klage nicht unterdrücken, „daß sehr viele Prinzipale die Gehülfen in wenig entgegenkommender Weise behandeln; sie, die doch ebenfalls Gehülfen gewesen sind, halten den Gehülfen, der doch über kurz oder lang ihresgleichen wird, für untergeordnet, sie ziehen ihn nicht zu sich heran, sie stoßen ihn ab; seine Gesellschaft, sein gesellschaftliches Nähertreten wird nicht gelitten, der herzliche Ton, der früher noch zwischen Prinzipal und Gehülfen herrschte, wird kaum mehr angeschlagen, die zarte Rücksicht gegen den treuen Gehülfen, welche darin liegt, daß man ihm freundschaftliche Beziehungen zur Familie eröffnet, wird nicht mehr gepflegt, es wird leider in dieser Beziehung jede mögliche Schranke aufgerichtet und der Gehülfe nicht mehr vom Prinzipal als Fleisch von seinem Fleisch, nicht mehr als sein Mitarbeiter, sondern nur als sein Arbeiter angesehen. Naturgemäß müssen sich dann die Verhältnisse auch im Kaufmannsstande lockern und es muß eine gewisse Verstimmung Platz greifen.“

Wenn so die moderne Entwickelung im großen Ganzen den abhängigen Teil des kaufmännischen Standes kaum schlechter gestellt haben dürfte als früher, sondern eher seine Lage absolut gehoben hat, so wäre es doch daneben möglich, daß relativ, im Verhältnis zu anderen socialen Schichten, der Commis sich verschlechtert habe. Und zwar nicht nur im Verhältnis zu einem Teil seiner Prinzipale, sondern auch im Vergleich mit den arbeitenden Klassen; und hier nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern im Zusammenhang damit auch in seinem socialen Ansehen. Nicht sowohl durch das stärkere Eindringen unbemittelter Elemente in den Stand, die keine Aussicht auf künftige Selbständigkeit haben und dem entsprechend auch an Fähigkeiten und Bildung zurückstehen können; denn dieses Schicksal teilt die Klasse der Commis mit denen anderer Arbeitnehmer; sondern wohl in erster Linie durch die über alle Volksschichten ausgebreitete Elementarbildung. Der Commis war früher durch seine Schrift- und Formgewandtheit ein kleiner Aristokrat; heute hat er einen Teil dieses Prestige eingebüßt. Der Allgemeinbesitz der Schreibkunst muß zugleich den Zudrang zum kaufmännischen Stande sehr wesentlich verstärkt, die Konkurrenz der Stellensuchenden erheblich verschärft, die materielle Lage des Commis der des Arbeiters angenähert haben. Und damit verbindet sich, daß aus einer Reihe von anderen Quellen dem Commis neue Konkurrenz zuströmt und seinen Stand herabdrückt. []

Über die zunehmende Einstellung weiblicher Commis erheben schon die Berliner Handlungsgehülfen vom Jahre 1848 laute Klage. 1875 gab es nach der Gewerbezählung im Deutschen Reiche 40 132 kaufmännische Gehülfinnen neben 197 909 Gehülfen. [] Es herrscht denn auch ein ziemlich gereizter Ton zwischen den beiden Geschlechtern [] „eine Buchhalterin, die das Hauptbuch führt, wird und muß immer Anstoß erregen! Desgleichen eine Contoristin, die irgendwelche beliebigen andern Bücher führt oder Comptoirarbeiten verrichtet!“ „Es ist nicht die Bestimmung der Frau, im Bureau den Männern das Brot wegzunehmen“, meinte auch ein österreichischer Kongreßdelegierter. Verständlicher ist, daß Hiller an den weiblichen Commis voyageurs Anstoß nimmt; doch gefallen ihm auch die Ladenverkäuferinnen und Contoristinnen nicht; er findet, daß die Mädchen sich selbst im Lichte stehen, weil sie mit der Konkurrenz, die sie ihren männlichen Kollegen machen, sich selbst den Hafen der Ehe versperren. Mit ungeteiltem Herzen gratuliert ihnen dagegen der Socialdemokrat Auerbach zu ihrem Handelsberufe, nicht ohne Theorie der Bosheit.

Die Konkurrenzgefährlichkeit des weiblichen Commis liegt natürlich nicht in seinen Leistungen, sondern in seinen bescheidenen Gehaltsansprüchen. Um nicht Dienstbote zu werden, nimmt das auf den Erwerb angewiesene Mädchen auch mit der unrentabelsten kaufmännischen Stellung vorlieb. Viele bleiben im elterlichen Hause wohnen und haben keine andern Ausgaben als für die Kleidung. Andere sind auf die Zuschüsse ihrer Verehrer angewiesen. Sie alle sind schon nach einer minimalen Lehrzeit zu Gehalt gekommen. []

Ein nicht geringerer Beschwerdegegenstand als die Vermehrung der Ladenmädchen ist das kaufmännische Lehrlingswesen. Über zweierlei wird geklagt: über mangelhafte Lehre und über massenhafte Lehrlingszüchtung aus gewinnsüchtigen Gründen; beides hängt zusammen und führt zu einer verschärften Konkurrenz für den Commis. []

Alle diese Momente: die Öffnung des Berufs für Elemente, die nach Begabung, Bildung und Besitz mit lebenslänglicher Abhängigkeit sich zufrieden geben, die verallgemeinerte Schulbildung, die Teilung der kaufmännischen Arbeit, die Anfänge einer Maschinenkonkurrenz, die Ladendemoiselles und Comptoirdamen, die gezüchteten Lehrlinge, die ungelernten Gehülfen, die ungelernten Krämer, sie alle schmälern den Erwerbsspielraum des regulären Commis, sie überfüllen den Arbeitsmarkt, sie verschlechtern die Arbeitsbedingungen, die er sich bieten lassen muß; und der schlecht gebildete Commis unterbietet den bessern noch obendrein.

Quelle: Karl Oldenberg, „Die heutige Lage der Commis nach neuerer Literatur“, in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 16. Jg. (1892), S. 768–90; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C. H. Beck, 1982, S. 310–14.

Handlungsgehilfen im wirtschaftlichen Wandel (ca. 1890), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-536> [05.11.2024].