Kurzbeschreibung

Ludwig Bamberger (1823–1899) war Jurist, Bankier, Publizist und liberaler Politiker. Aufgrund seiner Rolle in den revolutionären Ereignissen von 1848/49 verbrachte er viele Jahre im Exil: in der Schweiz, in London, Holland und Paris. Eine 1866 gewährte Amnestie ermöglichte ihm die Rückkehr nach Deutschland, wo er Bismarcks Kurs unterstützte. Von 1871 bis 1893 war er Reichstagsabgeordneter, zuerst als Nationalliberaler, dann als Vertreter der Liberalen Vereinigung und nach 1884 als Mitglied der Deutschen Freisinnigen Partei. Der folgende Text ist ein Auszug aus einem Artikel, den Bamberger im März 1888 für die liberale Zeitschrift Die Nation verfasste. Er behandelt die Beziehung zwischen dem Kaiser und dem Reichstag. Kaiser Wilhelm I. war am 9. März gestorben und auf ihn folgte sein Sohn, der als Friedrich III. den Thron bestieg. Bamberger war einer der engen Berater des neuen Monarchen, und er teilte die Hoffnung anderer Linksliberaler, dass Friedrichs Regierung liberale Reformen und eine Demokratisierung einleiten würde. Doch Bismarcks lange Geschichte der Dominanz über Wilhelm I., zusammen mit Bambergers Kenntnis von der unheilbaren Krebserkrankung des neuen Kaisers, machte ihn zu Recht skeptisch gegenüber Friedrichs Fähigkeit, solche Reformen durchzuführen. Friedrichs Regierungszeit dauerte nur 99 Tage: auf ihn folgte am 15. Juli 1888 Kaiser Wilhelm II.

Ludwig Bamberger über die Hoffnungen auf eine parlamentarische Regierung unter Kaiser Friedrich III. (31. März 1888)

  • Ludwig Bamberger

Quelle

Das deutsche Kaisertum und die deutsche Volksvertretung sind am selben Tag geboren, sind Kinder eines und desselben Gedankens.

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Darum wäre nichts so falsch, als einen Gedanken der Spaltung oder gar des Widerspruchs hineinzusenken zwischen diese beiden lebendigen Träger des deutschen Staatslebens in seiner höchsten Potenz. Niemand ist besser kaiserlich gesinnt, als wer lebendig fühlt für die Würde des Reichstags, und ebenso würde ein Kaisertum, welches diesem sein volles Recht verweigerte, die Wurzeln seiner eigenen Kraft verkennen.

Darum auch sind in den Reihen der Freiheitsfreunde die Worte des Erlasses, in welchen Kaiser Friedrich die Wahrung seiner eigenen Rechte mit denen des Reichstags in eins zusammenfaßt, so warm und freudig willkommen geheißen worden[1].

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Da ist denn gerade jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich zu Gemüt zu führen, daß der eben vollzogene Thronwechsel etwas bedeutet, was das Deutsche Reich noch nicht erlebt hat. König Wilhelm I. war Kaiser geworden, erst nachdem er eine Reihe von Jahren König von Preußen gewesen. Er hatte vorher als reifer Mann und Thronfolger in Preußen alle die Reibungen und Wandlungen mit durchgemacht, welche bittere Verstimmung und Entfremdung zwischen der Krone Preußen und dem Reichsgedanken zurückließen. Erst als vierundsiebenzigjähriger Mann hat er, nicht ohne Zögern und Bedenken, nach vorsichtig eingeholter Zustimmung der Fürsten, das Verlangen der Nation erfüllend, die Kaiserkrone angenommen.

Ganz anders der Sohn. Er besteigt den Thron als Kaiser und König zugleich. Er hat als Kronprinz des Deutschen Reichs siebenzehn Jahre hindurch sich in den Zukunftsgedanken hineingelebt, den Kaiserthron als den Thron seines Vaters zu besteigen. Es ist so, als wäre er im Kaiserpurpur geboren. Das macht einen gewaltigen Unterschied gegen den erst am Abend eines vielgestaltigen Lebens Kaiser gewordenen König, vorher Prinzen von Preußen.

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Es ist ein eigenes Ding mit dem, was man die monarchische Anhänglichkeit an den deutschen Kaiser nennen müßte. Als einst einmal im Reichstag zu irgend einem politischen Zweck an dies Gefühl appelliert ward, antwortete der schwäbische Demokrat Payer in seiner launig scharfen Weise, daß er sich durch diesen Appell in seiner Treue gegen den angestammten württembergischen Landesvater tief gekränkt fühle, denn diesem gehöre naturgemäß und von Rechtswegen sein loyales Herz. Ein sehr gut kaiserliches Herz kann eigentlich kaum mehr ein ebenso gut württembergisches oder – die Beobachtung lehrt es – preußisches sein. Drei Herzen und ein Schlag, das ist zu viel verlangt. Ein bischen Republikanismus gehört mithin schon dazu, um recht gut kaiserlich zu sein; es muß der Landesdynastie etwas abgezwackt werden, um es auf das Kaiserhaupt zu übertragen. Und daher liegt die Vermutung gut kaiserlicher Gesinnung bei einem Liberalen näher als bei einem Nichtliberalen. Jede Föderation, auch eine von Fürsten, hat etwas Republikanisches an sich. Das Reich der verbündeten Regierungen ist eine Republik von gekrönten Häuptern, an deren Spitze – bekanntlich als Primus inter Pares – der Kaiser steht. Je besser kaiserlich einer gesinnt ist, desto mehr muß sein Wunsch dahin gehen, daß dieses Primat zu einer Wirklichkeit werde, zu einer wahrhaft monarchischen Spitze über den anderen, nicht unter gleichen. Um gut kaiserlich monarchisch zu sein, muß man in seiner häuslichen „engeren Heimat“ etwas von diesem Gefühle aufgeben, wie umgekehrt die eifrigen Landesmonarchisten von zweifelhaft kaiserlicher Gesinnung erfüllt sind.

So kann man mit Recht sagen, daß die besten Liberalen auch die besten Kaiserlichen sind. Freilich ist diese Gesinnung nicht aus mystischer Gefühlsschwärmerei erwachsen. Sie ist das Produkt politischer Erwägung, aber einer so stark überlieferten und so unabweisbar richtigen, daß sie selbst in das Gefühl übergegangen ist. Wer im Jahre 1870 die Wiedergeburt Deutschlands als einer großen und freien Nation wollte, konnte den Gedanken nur unter dem Zeichen von Kaiser und Reichstag erfassen.

Und es ist daher für das Kaisertum, obgleich es, in unserer Geschichte auf Wahl beruhend, gar nicht im Geleit monarchischer Tradition sich einführte, dennoch mit merkwürdiger Triebkraft im kurzen Lauf der Jahre ein monarchischer Kultus, mächtig und lebenswarm, im Volke hoch empor gewachsen. Die Kinder werden groß in der politischen Religion des Kaisertums, in der Ehrfurcht vor der Person des Kaisers – und etwas wie Religion muß immer dabei sein, soll eine Form des Daseins festsitzen im Reich der Wirklichkeit. Der Mensch lebt nicht vom Brot des Verstandes allein, der Wein der Phantasie gehört auch dazu.

Warum ist es dem Reichstag schwer geworden und nicht gelungen, gleichen Schritt mit dem Kaisertum zu halten? Eben weil das, woraus das Gefühl sich ernährt, ihm lange nicht so zu statten kommt wie dem Kaisertum. Und dennoch, so wenig seiner Stellung nachzurühmen ist, Eines ist trotz Allem schon vollbracht: daß er das Herz der Publizität und darum das Ohr des Publikums viel mehr besitzt als die einzelnen Landtage, auch die größeren. Was ihm fehlt, im Gegensatz zum Kaisertum, das sind vor Allem die Lorbeeren errungener Siege. Sind auch Kaisertum und Reichstag in gleichem Ursprung und Recht aus dem siegreichen Völkerkrieg hervorgegangen, so war doch der Held im Lager und in Waffen, nicht der Herrscher im Rat und im Frieden der Gesetze der Sieger. Jenem blieb der Glanz, die Volksvertretung blieb im Schatten der Geschichte. Hätte sich das Parlament von 1848 am Leben erhalten, so konnte es, dank seiner mehr abgetrotzten als gewährten Entstehung, etwas von der Naturkraft eigenen Bodens aus sich heraus entwickeln. Aber eben daß es sich nicht halten konnte, kam her von dem zu leicht errungenen Sieg, aus dem es hervorgegangen war.

Statt eines natürlichen aber schwachen, ist es ein legitimer, aber darum starker Boden, dem die Volksvertretung von 1871 entsprang. Aber sie ist im Feldlager geboren. Die Konsequenzen dieses Ursprungs abzustreifen ist nicht leicht; es ist immer schwerer geworden, je mehr ganz Europa sich in ein Feldlager verwandelt hat.

Anmerkungen

[1] Anspielung auf den Erlass an den Reichskanzler vom 12. März 1888: „Im Reiche sind die verfassungsmäßigen Rechte aller verbündeten Regierungen ebenso gewissenhaft zu achten, wie die des Reichstages; aber von beiden ist eine gleiche Achtung der Rechte des Kaisers zu erheischen.“ (Vgl. Briefe, Reden und Erlasse des Kaisers und Königs Friedrich III., gesammelt und erläutert von G. Schuster. Berlin, 1906, S. 341.) [Diese Fußnote stammt aus Gerhard A. Ritter, Hrsg., Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch. 5. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 254.]

Quelle: Ludwig Bamberger, Die Nation, 31. März 1888, veröffentlicht in Ludwig Bamberger, Gesammelte Schriften. Berlin, 1897, Bd. 5, S. 189–95; abgedruckt in Gerhard A. Ritter, Hrsg., Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 253–56.