Kurzbeschreibung

Der Schriftsteller und Sozialist Ernst Dronke (1822–1891) wirft in seinem 1846 erschienen Buch Berlin einen kritischen Blick auf das zeitgenössische Theater der Stadt. Nach seinen Beobachtungen waren das Volkstheater und die königliche Bühne einander zu ähnlich. Dronke zeigte sich enttäuscht darüber, dass das erste Haus der Stadt den hohen kulturellen und künstlerischen Anforderungen nicht gerecht wurde, sondern seit Jahren hinter den anderen großen deutschen Bühnen zurückblieb.

Ernst Dronke über Volkstheater, bürgerliches Theater und die königliche Bühne in Berlin (1846)

  • Ernst Dronke

Quelle

Wenden wir uns nunmehr zu den Theateranstalten Berlins selbst. Die Königstädtische Bühne, welche ihrer Entstehung und Stellung nach für das „Volk“ berechnet sein sollte, mag hier zuerst Erwähnung finden. Die Entstehung dieser Bühne war zunächst wohl, dem entlegenen Teil der Vorstadt einen gelegeneren und billigeren Theatergenuß zu schaffen; auch die Konzession beschränkte das Königstädtische Theater fast gänzlich auf einen Standpunkt, welcher vorzugsweise dem „Volke“, den ungebildeteren Massen angehörte. Tragödien sollte die neue Bühne nicht darstellen dürfen, überhaupt war ihr Repertoire auf dasjenige Genre angewiesen, welches seinem Inhalte nach der königlichen Bühne keine Konkurrenz schaffen sollte. Während daher die königliche Bühne die großen Opern, die ernsten Dramen und das feinere Lustspiel besaß, fiel dem Königstädtischen Theater das Ganze der Vaudevilles, der Volkslustspiele und der Melodramen anheim. Was bei dieser Einrichtung dem Königstädter Theater zu tun übrig blieb war, fortwährend Neuigkeiten, kleine pikante Possen und dergleichen Leichtigkeiten vorzubringen. Die Direktoren spekulierten, wie es nicht anders der Fall sein konnte, auf die kleine Bourgeoisie, welche vorzugsweise die Kasse füllen mußte. Der erste und zweite Rang und das Parterre machen das Publikum aus, und daß trotz aller volkstümlicher Anlage unter solchen Umständen nicht an ein Volkstheater zu denken war, liegt auf der Hand. Unter dem Einfluß des Geldes muß sich das Theater nach der Lust und dem Willen des Publikums richten; es kann nicht den Bildungsstand und den Geschmack desselben bessern wollen, denn es steht nicht über dem Geschmack, sondern ist vermöge der pekuniären Stellung von demselben abhängig. Dieser Einfluß ist um so bedeutender, als er auch auf die dramatischen Erzeugnisse selbst wirkt. Welcher Dramatiker wird auf die Masse wirken wollen, wenn seine Arbeit nur unter der Voraussetzung zur Wirksamkeit, zur Darstellung zulässig ist, sofern sie sich dem Geschmack des Publikums fügt? Die erste Wirksamkeit der Königstädtischen Bühne schien nun allerdings eine Zeitlang ein „volkstümliches“ Element festhalten zu wollen, aber die Verhältnisse des heutigen Theaters, die Rücksichten auf den ersten und zweiten und folgenden „Rang“ mußten die sogenannte Volkstümlichkeit bald wieder zerstören. Die Wiener hatten damals einige dramatische Werke von Raimund auf die Bühne gebracht, welche unleugbar in populärverständlicher Weise den Volksgeist beschäftigen und erheben konnten. „Der Bauer als Millionär“, „Der Alpenkönig“ und so weiter besaßen eine tiefere Auffassung als die bloß mit Tagesinteressen angefüllte Posse. Aber bald wich diese ernstere Richtung volkstümlicher Belehrung vor der Notwendigkeit, den Gaumen des Publikums mit pikanten, aus den Tagesinteressen geschöpften Seichtigkeiten zu füllen. Die Sängerin Sontag rief in der Königstadt eine Kunstschwärmerei hervor, die, zu Ehren des Publikums gesagt, mindestens keine volkstümliche war; andere Modeartikel bis zur vollständigen Einrichtung einer stehenden italienischen Oper bildeten die weitere Fortsetzung dieser Richtung, welche der mittleren und kleineren Bourgeoisie mit ihrem schlechten Geschmack einen Abglanz von den Vergnügungen und dem Geschmack des reicheren Müßigganges in den Aristokratenvierteln geben sollte. Wo eine sogenannte Volkstümlichkeit zum Vorschein kam, geschah es zur Ergötzung nach oben, nicht aber als Belehrung nach unten. Dieses Volkstheater, die Ergötzung der Bourgeoisie an Darstellungen des trivialen Volkslebens, wurde dann auch zum Teil an der Königstädter Bühne realisiert. Angely verpflanzte sie und brachte das französische Vaudeville mit deutscher volkstümlicher Plumpheit hierher; Beckmann folgte mit seinem Nante, und Holtei führte den Tagesenthusiasmus für Polen in seinem „Alten Feldherrn“ und andere Tagesliebhabereien des Volkes, mit eigenen Gassenhauern versehen, auf die Bühne. Dies war und ist noch heute der Zustand des Königstädtischen Theaters als „Volksbelehrung“; die Ergötzung der Bourgeoisie durch Trivialitäten aus dem kleinbürgerlichen Leben, aus dem Volksleben, aus den Tagesbewegungen und den Zeitfragen.

Die Proletarier und die ärmeren Volksklassen haben indes in einigen Winkeln der Hauptstadt noch ihre besonderen Kunstanstalten. Eine derselben befindet sich in der Nähe des Tiergartens vor dem Tore. Das Theater besteht hier aus einem kleinen dunklen Bretterhäuschen, welches sehr charakteristisch die „wackelnde Wand“ benamt ist. Die Truppe besteht aus einer Familie von Mann, Frau und einigen Kindern, welche sich dies Geschäft jedoch bloß zur Anlockung von Gästen für ihr Schenklokal erwählt hat. Es verkehren hier die Ärmsten, Besitzlosesten aus der arbeitenden Klasse, Schifferknechte, Tagelöhner und arbeitslose Handwerker; auch die Prostitution in ihrer tiefsten Erniedrigung ist an diesem Ort zu finden. Die Zuschauer sitzen auf hölzernen Bänken oder auf der Erde und sehen für ein Eintrittsgeld von 1½ Groschen die fabelhaftesten Burlesken und unsinnigsten, zusammenhanglosesten Darstellungen. Schnaps und ein leichtes bierähnliches Getränk gehen in der Runde umher, und nicht selten mischen sich die Zuschauer selbst in die traurige Komödie der Spielenden. Das Ende pflegt gewöhnlich der Art zu sein, wie es die Trunkenheit und die sittliche Vernachlässigung dieser Leute aus der „Hefe des Volkes“ nicht anders erwarten läßt; daß die Polizeidiener und Gendarmen, welche stets in der Nähe sind, die Lage der Dinge nicht zu ändern und zu bessern vermögen, brauchen wir wohl nicht besonders zu bemerken. Einige „geordnete“ Theateranstalten dieser Art, welche in den Vierteln zerstreut liegen, sind im Grunde nicht anders beschaffen; Dienstmägde, Handwerker, welche nach der Arbeit hier ihren Genuß suchen, bilden das Publikum, und nicht selten endet hier die Versammlung mit Schlägereien, bei welchen sich der Zorn der Parteien zuletzt gegen die Polizeigewalt richtet. Es sind die einzigen Orte, wo das „Volk“ seinen geistigen Genuß, seine geistige Erholung sucht, und wenn der Zustand der Verhältnisse hier der allerkläglichste ist, so möge man bedenken, daß den besitzlosen Volksklassen nichts anderes gegeben wird.

Die königliche Bühne ist ihrer ganzen Einrichtung nach, wie schon angedeutet, der Vergnügungs- und Ergötzungstempel für den reicheren Besitz. Das neue Opernhaus ist sicherlich eins der großartigsten, das nicht nur Deutschland, sondern der Kontinent besitzt, während das Schauspielhaus mit seinem Konzertsaal für die französische Komödie einem kleineren Teil der Bevölkerung seine Unterhaltung bietet. Man wird glauben, daß in einer Stadt wie Berlin außerordentlich viel für dieses Hauptvergnügen der besitzenden Gesellschaft getan werden müsse; aber unter der gegenwärtigen Regierung, oder vielmehr seit der Berufung des Herrn von Küstner aus München zum Generalintendanten in Berlin haben sich so viele und heftige Stimmen über den Mangel eines der großen Residenzstadt würdigen Kunstgenusses erhoben, daß es sich der Mühe verlohnt, den gegenwärtigen Zustand des Hoftheaters unter der Leitung des Chevalier Küstner besonders ins Auge zu fassen.

Unter dem verstorbenen König war es bekanntlich das Ballett, welches sich vorzugsweise eines hohen Aufschwungs rühmen konnte. Es war eine der kleinen und harmlosen Vergnügungen des Hochseligen, die er ungern selbst an Orten, wo es kaum der Aufenthalt gestattete, vermissen wollte. Auf den Privatbühnen, im Palais und in Potsdam waren die Tänzerinnen die Königinnen des Tages oder vielmehr der Nacht, und selbst in den großen Proben des Opernhauses wurde ihnen nicht selten die Ehre des Besuches des gekrönten Kenners zuteil. Es muß einen eigenen Anblick gewährt haben, den alten Herrn dort mit seinem treuen Begleiter, dem General v. Witzleben – wie er gewöhnlich zu tun pflegte, auf dem Souffleurkasten sitzend – die Attitüden der leichten Amoretten studieren zu sehen. Erwarben sie sich seine besondere Zufriedenheit, so ward ihnen wohl auch eine besondere Ehre noch zugedacht. Im königlichen Palais befand sich ein alter Biedermann, der Kämmerer Timm, der vortreffliche Weine und die ausgesuchtesten Leckerbissen auf seiner Tafel führte. Dieser Herr Timm lud dann zuweilen einzelne der Kleinen auf den Abend zu sich ein. Da man wußte, was diese Auszeichnung zu bedeuten hatte, so war dieselbe stets ein Gegenstand des ehrgeizigen Neides. Saßen sie nun in bester Stimmung bei Papa Timm, so öffnete sich plötzlich die Türe, und ein Zufall führte den König herein. Der freundliche alte Herr wollte durchaus nicht stören, und gewöhnlich blieb er bis nach Mitternacht in dem aufgeräumten Kreise. Manche Gnadengesuche wurden hier durchgesetzt, manche Unterstützungen für heiratslustige Liebespaare oder anstellungsfähige Kandidaten wurden hier bewilligt, wenn die Petenten so glücklich waren, eine der geflügelten Favoritinnen zur Protektion zu haben. Diese beschaulichen Zeiten sind vorbei, und die Epoche des neuen Regiments ist auch in der Theaterchronik verzeichnet. Die Toga des Sophokles hat die Trikots verdrängt. Man erzählt, der damalige Kronprinz habe eines schönen Tages seine Gemahlin mit den Worten getröstet: „Sei ruhig, mein Kind! Mein Vater läßt sie springen, wir wollen sie laufen lassen!“ Gewiß, die Ärmsten hatten eine Ahnung von ihrem Schicksal, sie liebten darum ihren Gönner nicht wenig. Bei dem Leichenbegängnis folgte eine lange Reihe von Wagen, darin die verlassenen Flügelgöttinnen saßen und weinend die Beinchen hängen ließen.

Unter dem vorigen König also blühte das Ballett, doch galt die Berliner Bühne auch in betreff des rezitierenden Schauspiels und der Oper für die erste in Deutschland. Berlin war das Ziel jedes Künstlers von Ehrgeiz, und wir haben wohl nicht nötig, die Namen eines Ludwig Devrient, Iffland, Lemm, Krüger, Seydelmann zu zitieren. Jetzt ist das Ballettpersonal auf einen sehr bescheidenen Etat reduziert. Aber dafür hat man wohl desto mehr für Schauspiel und Oper verwendet? Wir werden sehen.

Was zunächst das Schauspiel betrifft, so muß man, um gerecht zu sein, vorausschicken, daß der Mangel an tüchtigen Schauspielern in Deutschland ein allgemeiner ist. Der Grund davon liegt an dem Mangel an Theaterschulen. Es gibt in Deutschland noch eine Anzahl von Talenten unter den Schauspielern, man findet deren zuweilen sogar bei wandernden Truppen und auf kleinen Provinzialbühnen; aber ihre augenblicklichen Verhältnisse lassen sie zu keinem ernsten Studium kommen, und sind sie gesichert, so verfallen sie nicht selten ihrem Hochmut. Das Ende vom Liede ist gewöhnlich, daß sie durch grobe Effekte auf die Masse zu wirken suchen. Sie ersetzen das charakteristische Verständnis durch hohle Deklamation, das warme Gefühl durch kulissenreißerische Gebärden. Taucht aber auch einmal ein Genie auf, eine rohe, natürliche Kraft, so wird selbst diese zuletzt untergehen, da sie ihrer Manier überlassen bleibt und in Maniertheit verfallen muß. Nur die Bildung, die Schule, das Bewußtsein kann einen Schauspieler zur Vollendung führen. Wenn es eines Beispiels hierzu bedürfte, so möchten wir unsere Behauptung an einem Mann erweisen, der vielerseits für einen vollkommenen Schauspieler gilt. Döring ist allerdings ein großes Talent, er besitzt vor allem die Mittel und seltene Begabung. Allein seine hochtragischen Darstellungen sind ohne Charakteristik und Einheit, es ist keine Seele darin. Die einzelnen großen Momente, die er zuweilen als Lear, als Richelieu und namentlich als Shylock zeigte, sind ein Beleg mehr hierfür. Es sind einzelne Momente, sein Spiel als Ganzes ist ohne Psychologie und Bewußtsein.

Ein Blick auf das Repertoire zeigt uns hinlänglich, welchen Hohn man dem Berliner Publikum bieten zu können glaubt. Der Abschaum unserer seichtesten Tagesprodukte ist nicht schlecht genug, und man nimmt zu der fadesten Trivialität der Franzosen die Zuflucht. Die Stücke der Madame Birch-Pfeiffer, alter verkommener Kotzebuescher Jammer und nichtsnutzige einaktige Possen wechseln mit dem „Marquis von Letorrières“ und „Voltaires Ferien“. Längere Zeit bestand das Repertoire aus „Thomas Thyrnau“ und „Er muß aufs Land“, „Er muß aufs Land“ und „Thomas Thyrnau“. Wie es bei Einsendung der besten Originalarbeiten hergeht, davon nur ein Beispiel. Friedrich Hebbel ließ seine „Maria Magdalena“, ein aus dem Leben gegriffenes, mit vollendeter Charakteristik durchgeführtes Drama, von Madame Krelinger bei der Prüfungskommission einreichen, erhielt es jedoch mit dem gedruckten Formular als „unbrauchbar“ zurück, und zwar, wie wir aus Herrn von Küstners eigenem Munde wissen, ohne daß der Generalintendant es auch nur gelesen hätte. Werden aber endlich einmal neue Produkte aufgeführt, so geschieht es gewöhnlich erst infolge der öffentlichen Stimme und des lauten Beifalls, welchen sich die Stücke bereits an anderen Orten erworben. Das plötzliche forcierte Einstudieren hat dann gewöhnlich eine schlechte Darstellung zur Folge. Wien, Stuttgart, Dresden, Leipzig, Hamburg und namentlich das kleine Oldenburg sind Berlin immer voran. Und noch vor sechs Jahren war es die Berliner Bühne, welche für die erste in Deutschland galt.

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Quelle: Ernst Dronke, Berlin (1846). Ost-Berlin: Rütten & Loening, 1953, S. 342–49. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von Rütten & Loening, Berlin.