Kurzbeschreibung

Der Abschnitt aus Ernst Dronkes (1822–1891) Berlin (1846) schildert zwei Phänomene, die als typisch großstädtisch angesehen wurden: zum einen beschreibt er die Kommerzialisierung der Ehe durch Ehevermittler und Kontaktanzeigen und zum anderen die freizügige Lebensweise der intellektuellen Bohème, die traditionelle moralische und religiöse Ehe- und Geschlechterkonventionen verachtete.

Kommerzielle Heiratsvermittlung und Boheme-Leben in der Großstadt: Auszüge aus Ernst Dronke, Berlin (1846)

  • Ernst Dronke

Quelle

Die Spekulation dehnt ihr Gebiet jedoch nicht bloß auf den eigentlichen Handel, sondern sogar auf die innersten Verhältnisse des Lebens aus. Die Heiratsgesuche auf dem „nicht mehr ungewöhnlichen“ Wege der öffentlichen Aufforderung in den Zeitungen sind bekannt. Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege sucht ein Mann in seinen besten Jahren eine Lebensgefährtin, welche außer anderen persönlichen Vorzügen die Summe von so und so viel mitbringen kann. „Doch wird weniger auf Schönheit als auf Herzensgüte gesehen. Tiefste Diskretion. Adresse sub X.“ Man wird glauben, daß auf solche verrückten Anerbietungen kein Mensch eingehen werde, und doch ist es so; man kann sicher auf mindestens fünf bis acht Erwiderungen rechnen, wenn man seine Ansprüche nicht zu hoch stellt. Ein Freund gab einst aus Scherz eine solche Aufforderung in die Zeitung, und schon am folgenden Tage empfing er vier eingelaufene Adressen. Er hatte ein „mäßiges“ Vermögen zur Bedingung gemacht. Unter den Reflektierenden befand sich ein Beamter, der ihm statt einer gleich drei Töchter zur Auswahl stellte; dann ein Mädchen, welches, wie ich mich noch genau erinnere, mit außerordentlich schöner Handschrift und gewandtem Ausdruck schrieb, daß sie höchst unglücklich mit ihrer herrschsüchtigen Stiefmutter und einem schwachen Vater lebe und jede Gelegenheit ergreife, um aus diesem Verhältnis zu kommen. Dieser Brief war am Schluß augenscheinlich mit Tränen befeuchtet, und es lag ein schmerzlicher Gedanke darin, ein Mädchen sich so verzweiflungsvoll dem ersten besten Unbekannten anheimgeben zu sehen. Zwei andere Adressen waren mit fürchterlichen Hahnenfüßen und zahllosen Berlinismen und Schreibfehlern abgefaßt. Der Stand der Schreiberinnen war in diesen Briefen nicht zu verkennen. Außerdem gibt es vollständige Heiratsbüros, die indes noch einigermaßen still und vorsichtig betrieben werden. Die meisten der Kommissionsbüros jeder Art sind auf Schwindel gebaut [].

Zum Schluß dieser Betrachtung wollen wir eines kleinen Häufleins gedenken, welches der Verachtung der heutigen Moral- und Sittenbegriffe einen äußern Ausdruck im öffentlichen Leben zu geben sucht. Es sind dies die sogenannten „Freien“ oder „Emanzipierten“. Sie begnügen sich nicht damit, die Unsittlichkeit der heutigen Moralitätsbegriffe erkannt zu haben und die veranlassenden Verhältnisse derselben in der ihnen zustehenden Weise zu bekämpfen; sie wollen vielmehr im öffentlichen Leben beweisen, daß sie darüber „hinaus“ sind. Es ist das jener charakteristische Zug des Berlinertums, dem wir schon oben einmal begegneten, sich über etwas hinwegzusetzen. Das, was sie in sich, in der Kritik, durchgemacht und erkannt haben, gilt ihnen für überwunden; es „existiert“ nicht mehr für sie. Dies Negieren einer Existenz, welche, wenn auch verwerflich, doch noch in der Gesellschaft vorhanden ist, muß in dem tatsächlichen Ausdruck des Lebens kindisch und lächerlich erscheinen. Allein die Emanzipierten kehren sich nicht daran, wenn sie mit Philister- und Polizeigewalt in Konflikt kommen, ja es ist ihnen vielmehr ein erhebender Beweis ihres eigenen „fertigen“ Bewußtseins. So sieht man denn in Berlin an einzelnen öffentlichen Orten Frauen sitzen, ihre Zigarren rauchen und Bier, Wein oder selbst ein petit verre trinken. Sie wollen damit keineswegs gegen eine Sitte, welche sie als borniert und philisterhaft erkannt, mit der allgemeinen Waffe des heutigen friedlichen Bewußtseins, der „Demonstration“ zu Felde ziehen; es fällt ihnen nicht ein, etwas zu bekämpfen, was für sie nicht existiert. Sie wollen nur ihre innere überlegene „Fertigkeit“ zur Schau tragen. Wird ein Emanzipierter oder Freier als Zeuge vor Gericht geladen, so erklärt er dem Inquirenten mit der trockensten Ruhe, daß er die Sache wohl beschwören wolle, und in Erwägung der gesetzlich darauf bestimmten Strafe, den juristischen Begriff des Meineides im Auge halten werde; da er aber über die Ansicht von einem „Gott“ hinaus sei, so möge der Inquirent ihm nicht verargen, wenn ihm die Eidesformel ein Lachen abzwinge. Solche Szenen sind in Berlin mehrfach zum Schrecken harmloser märkischer Referendare vor Gericht vorgefallen. Über die Ehe sind die Emanzipierten ebenfalls tatsächlich hinaus. Entweder leben sie im „freien Verhältnis“, oder wenn sie dennoch aus Rücksichten auf Legitimitäts-, Erbschafts- oder andere Verhältnisse, welche von Beobachtung der Staatsgesetze abhängig sind, den legitimen Eheakt innehalten, so führt doch „Madame“ in der Gesellschaft ihren Familiennamen fort. Machen die beiden Gatten einen Besuch, so werden sie gewöhnlich als Herr Schmidt und Madame Fischer angemeldet. Ein Bekannter erzählte mir von der Trauung eines solchen emanzipierten Paares, welcher er beigewohnt, sehr ergötzliche Dinge. Herr und Madame wohnten bereits zusammen, als sie den Geistlichen zur Vollziehung der legitimen Ehe kommen ließen. Beim Eintritt des Pfarrers waren die Zeugen und der Bräutigam anwesend, nur die Braut, welche noch mit ihrer Toilette beschäftigt war, ließ einige Zeit auf sich warten. Als sie endlich kam, sah man dem Geistlichen seine Verwunderung darüber an, daß die Dame weder einen Myrthenkranz noch sonstigen festlichen Brautschmuck trug, sondern im einfachen Hauskleide erschien. Indes begann er die Handlung. Währenddessen benahmen sich die Zeugen in ziemlich auffallender Weise. Der eine, ein bekannter Schriftsteller, lag auf dem Sofa, die Beine über einen vor ihm stehenden Stuhl gestreckt und seinen Schnurrbart streichend; ein anderer stand am Ofen, die Hände in den Taschen und eine verkohlte Zigarre im Mund; die beiden letzten beschäftigten sich an einem anderen Fenster damit, die Vorübergehenden auf der Straße zu betrachten und kehrten während des ganzen Aktes der Versammlung den Rücken zu. Als es endlich zum Wechseln der Ringe kommen sollte, ergab es sich, daß keiner der beiden Gatten daran gedacht hatte, diese notwendigen Attribute herbeizuschaffen. Jeder Teil hatte geglaubt, daß der andere dafür Sorge tragen werde. Da auch keiner von den Zeugen im Besitz eines Ringes war, so wurden in Ermangelung eines Besseren zwei Ringe von den Fenstervorhängen gelöst und hiermit die Handlung vollzogen. Die jungen Eheleute luden darauf den Geistlichen ein, zu einer „Bowle“ bei ihnen zu bleiben, was jedoch der Mann Gottes unter dem Vorwand anderer dringender Pflichten ablehnte. Wahrscheinlich hatte das, was er in den wenigen Augenblicken hier erfahren, mehr als alle Überzeugung seiner Studien Berufsgedanken in ihm erweckt; wenigstens wurde nach seinem Scheiden von der Gesellschaft in triumphierender Weise über die Befangenheit philiströser Anschauung gelacht. – Die Emanzipierten sind übrigens unter sich wiederum sehr vereinzelt und in kleine Kreise zersplittert. Daß es eine Gesellschaft der „Freien“ gebe, ist nie der Fall gewesen, sondern nur aus einem falsch verstandenen Gerücht ziemlich allgemein verbreitet worden.

Quelle: Ernst Dronke, Berlin (1846). Ost-Berlin: Rütten & Loening, 1953, S. 26–27, 97–100. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von Rütten & Loening, Berlin.

Kommerzielle Heiratsvermittlung und Boheme-Leben in der Großstadt: Auszüge aus Ernst Dronke, Berlin (1846), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/vom-vormaerz-bis-zur-preussischen-vorherrschaft-1815-1866/ghdi:document-446> [05.11.2024].