Quelle
Die erste Heilung, welche während der Feierlichkeiten vorgekommen ist, war jene der Gräfin Johanna v. Droste-Vischering, die am 30. August, einem Freitage, vor sich gegangen ist. Da durch diesen Vorgang in vielen Preßhaften das Vertrauen auf wunderbare Erhörung ihres Gebetes um Heilung geweckt oder gesteigert worden ist und derselbe den glaubenslosen Gegnern der Feierlichkeit so viel zu schaffen gemacht hat, so dürfte eine kurze Darstellung desselben hier eine geeignete Stelle finden.
Die Gräfin Johanna v. Droste-Vischering aus Westphalen, Großnichte des Erzbischofs Clemens August von Köln und des Bischofs von Münster, ein Mädchen von 19 Jahren, war seit drei Jahren leidend und lahm, so daß sie sich nur mühsam auf Krücken fortbewegen konnte. Sie litt aber nach Zeugnis der Ärzte an einem skrophulösen Kniegeschwulst, in deren Folge sich eine Verkürzung der Sehnen in der Kniekehle der Art gebildet hatte, daß der Unterschenkel mit dem Oberschenkel einen rechten Winkel bildete, das Mädchen also unmöglich mit dem Fuße den Boden auch nur berühren konnte. Zu diesem Zustande befand sich die junge Gräfin zu Kreuznach, wohin sie nun schon zum dritten Male gekommen war, das dortige Bad gegen ihr Übel zu gebrauchen. Als sie dort die Runde von der Ausstellung des h. Rocks zu Trier erfahren, schöpfte sie Hoffnung und Vertrauen, daß, wenn sie den Saum dieser Reliquie berühren könnte, Gott ihr Heilung von dem schwersten ihrer Leiden, der Lahmheit, gewähren würde. Mit ihrer Großmutter, der verwitweten Charlotte Erbdroste zu Vischering, und einer andern Dame nebst Dienerschaft machte sie sich daher in dem oben beschriebenen Zustande zu Kreuznach auf, und hat sodann gleich nach der Ankunft zu Trier am 29. August die Großmutter von ihrem Gasthause (dem roten Hause) aus sich an den Herrn General-Vikar Dr. Müller in einem Schreiben gewendet, ihm darin den Zustand, die Bitte und die Hoffnung ihrer Enkelin vorgetragen, und um die Erlaubnis zur Berührung des h. Rockes für dieselbe nachgesucht. „Meine oben genannte Enkelin, heißt es in diesem Schreiben, ein Mädchen von 19 Jahren, ist seit beinahe drei Jahren immer leidend und lahm, so daß sie nur mühsam sich auf Krücken fortschleppt. Sie ist von Glauben und Hoffnung belebt, daß, wenn sie den Saum des h. Kleides anrühren dürfte, sie vom drückensten ihrer Leiden, der Lahmheit, geheilt werden würde.“ Diese Erlaubnis wurde ihr erteilt und am Tage darauf, den 30. August, kam die Gräfin in der Mitte zwischen ihrer Großmutter und einer andern Dame ihres Gefolges auf ihre Krücken gestützt die Marmortreppe hinauf zum h. Rock. Hier angekommen, ließen sich die Großmutter und die andre Dame zum Gebete auf die Knie nieder; die Gräfin Johanna aber blieb aufrecht auf ihre Krücken gestützt stehen und verweilte so einige Augenblicke in heißem Gebete. Auf einmal fühlt sie ihr Bein gelöst, läßt ihre Krücken fallen, sagt den beiden Damen in der freudigen Aufregung, sie könne wieder stehen, läßt sich auf die Knie nieder, und ihr Angesicht mit beiden Händen sich bedeckend brach sie in lautes Weinen vor Freude und Dankbarkeit aus, so daß alle Umstehenden heftig erschüttert wurden und sich der Tränen nicht erwehren konnten. Nachdem sie sich sodann erhoben hatte, ward sie zum h. Rocke geleitet, kniet abermals nieder und berührt dann denselben unter Assistenz des Herrn General-Vikars Müller. Sodann erhebt sie sich nach einigen Minuten des Gebetes, und verläßt nun am Arm ihrer Großmutter, mit beiden Füßen flach auftretend, den h. Rock und steigt so, ohne Krücken, welche ein Diener weinend ihr nachtrug, die Marmortreppe hinunter, geht so durch den Dom bis an ihren draußen stehenden Wagen.
Das ist der Vorgang, wie derselbe durch die Aussagen der jungen Gräfin selbst, ihrer Großmutter und der andern Dame und einer Menge Augenzeugen konstatiert ist. Das Ergebnis des Vorganges, ganz kurz und einfach ausgedrückt, war: die Gräfin hatte bei dem h. Rocke ganz plötzlich den Gebrauch ihres kontrakten Beines wieder erhalten, um was sie gebeten hatte, Heilung von ihrer Lahmheit, dem drückensten ihrer Übel. Unbestreitbare Tatsachen waren gewesen, wie daß die Gräfin in dem oben beschriebenen Zustande nach Trier gekommen, ohne möglichen Gebrauch ihres kontrakten Beines, so auch daß sie bei dem h. Rocke plötzlich den Gebrauch dieses Beines erhalten hat. Groß war die Freude über diesen Vorgang bei allen Gläubigen. Aber es gibt Menschen, denen diese Heilung der Gräfin höchst ungelegen kam, Menschen, die, weil sie nicht gern an das Vorhandensein einer für sie unheimlichen Geisterwelt und an das Walten einer höheren Macht denken, auch nicht gern daran glauben wollen, und daher von Wundern nichts hören mögen, und mit einer wahren Scheu vor denselben behaftet sind. Diesen war die Heilung ein Dorn im Auge, um so mehr, je größer die Freude der Gläubigen darüber; und es mußte nun um jeden Preis dagegen angekämpft werden.
[…]
Haben wir in dem Vorstehenden vorzugsweise die Vielheit der hierher zusammengeströmten Pilger in‘s Auge gefaßt und bewundert, so dürfen wir die wunderbare Einheit derselben nimmer unbeachtet lassen. Vergleichen wir diese Million Pilger untereinander nach ihren gewöhnlichen Lebensverhältnissen, so finden wir allseitige Verschiedenheiten unter denselben, die sie in besondere Klassen scheiden, auseinandergehende Wege und Tendenzen ihnen vorzeichnen. Wir finden dieselben verschieden nach Berufsgeschäften, die jedem seinen besonderen Wirkungskreis anweisen, finden sie verschieden nach Bildungsstufen, verschieden in ihren Ansichten über mancherlei Dinge und Angelegenheiten des menschlichen Lebens, verschieden nach Völkern, nach Sprache und Mundarten, nach Glücksgütern, Sitten und Gebräuchen. Alle diese und ähnliche Unterschiede der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft halten und führen dieselben im Leben, Umgang und Beschäftigung auseinander, ja oft feindlich gegeneinander, und lassen dieselben sich nur in sehr geringem Maße miteinander vereinigen durch die Bande der Familienliebe, der Freundschaft, des Zusammenwohnens in einer Gemeinde, des gemeinsamen zeitlichen Interesses einer besondern Klasse von Menschen oder eines ganzen Volkes. Daher sehen wir denn auch bei den vielfältigen Verschiedenheiten der Menschen in ihren gewöhnlichen Lebensverhältnissen auch nur Einheiten oder Vereinigungen sehr geringen Umfanges unter ihnen zustande kommen, sehen sie höchstens geschart nach Familien, nach Gemeinden, nach Kunst-, Wissenschafts- und Handelsvereinen und Staaten.
Aber es gibt ein Band, das alle jene Unterschiede unter den Menschen aufhebt, die durch dieselben gebildeten Scheidungen und Einzelgruppierungen derselben auflöst, und über alle räumlichen Grenzen nach Ländern und Reichen, und alle Sonderungen nach Alter, Stand, Geschlecht, Vermögen, Bildung und Lebensbeschäftigung, ja selbst über die Marken des Todes und der Zeit hinaus die Menschen zu einer großen, wunderbaren Einheit vereinigt und zu einem vielgliedrigen mystischen Leibe zusammenfügt. Dieses Band aber ist der katholische Glaube, in der katholischen Kirche; und ein Bild dieser Einheit haben wir geschaut in dem großartigen Feste, welches an unsern Blicken vorübergegangen ist. Alle die Tausende und Tausende von Menschen, die sonst im Leben sich in ihren eigentümlichen Kreisen bewegen, ihre verschiedenen Wege gehen und Tendenzen verfolgen, sie haben sich in Einem geeinigt gefunden miteinander, als Brüder sich geschaut, und dies in ihrem Glauben, in ihrer Treue und Anhänglichkeit gegen die Kirche. Hier bei diesem Feste war nicht der Franzose, nicht der Deutsche, nicht der Belgier, nicht der Schweizer, der Bayer, der Badenser, nein es war hier der Katholik, der in jedem andren Pilger, wessen Landes und Volkes er sein, welche Sprache er sprechen, welchem Stande er angehören mochte, seinen eigenen Glauben, Übereinstimmung in den wichtigsten und heiligsten Angelegenheiten der Menschen und die wohltuendste Harmonie in frommen Gefühlen wiederfand, der sich mit jedem derselben durch ein himmlisches Band in Christo und seiner Kirche vereinigt fühlte. Ja, es war auch nicht der Gelehrte, nicht der Reiche, nicht der Kaufmann, nicht der Künstler, nicht der Ackersmann, der sich hier bei dem Feste eingefunden und in der Eigentümlichkeit seines Standes- oder Berufslebens aufgetreten wäre, nein, es war der fromme Gläubige, der hierher gekommen, es war der treue Sohn der über die ganze Erde, durch alle Stände ausgebreiteten Kirche, der unter der Fahne des Welterlösers gekommen, unter welcher wir alle Brüder und Schwestern sind, Kinder eines Vaters, berufen zu demselben Erbteil, wie der heil. Paulus sagt: „Denn ihr alle seid Kinder Gottes durch den Glauben, der in Christo Jesu ist. Denn, ihr alle, die ihr in Christo getauft seid, habet Christum angezogen. Da ist weder Sklave noch Freier, da ist weder Mann noch Weib; denn ihr alle seid eins in Christo Jesu.“
Daher haben sich denn auch alle die Fremden, wie fern sie sich sonst der Heimat, der Sprache und ihrer bürgerlichen Stellung nach gestanden, sogleich einander gekannt, einander geliebt, fanden sich einander wie alte Bekannte und tauschten im vertraulichen Verkehre, ohne Rückhalt, ihre Gesinnungen und Gedanken gegeneinander aus. Wo Pilger zusammentrafen, da haben sie sich, gleichviel aus welchem Lande, welcher Provinz und Stadt, sofort als Bekannte betrachtet, als zusammengehörend. Das zeigte sich unter andern in lieblicher Weise, als der Bischof von Amsterdam mit dem Dampfbote von Trier ab gen Koblenz fuhr und viele Pilger, aus verschiedenen Diözesen, Provinzen und Städten, auf demselben sich befanden. Über der Fahrt war gemeinschaftlich gebetet, gesungen worden; und als das Schiff bei Koblenz anlandete, senkten die Pilger alle, so als sei jener aller Bischof, sich auf die Knie und empfingen zum Abschiede von ihm und zum Schlusse ihrer Pilgerfahrt den bischöflichen Segen.
Diese so ungewöhnliche, ihrer Wurzel nach einer überirdischen Welt entsprungene, so großartige als liebliche Erscheinung mußte auf alle denkenden Menschen, auf jedes fühlende Herz einen ergreifenden Eindruck machen, und hat selbst Männer, welche anfangs nicht ohne mißtrauisches Vorurteil diese religiöse Bewegung ins Auge gefaßt hatten, von der Reinheit und Echtheit ihrer Quelle und ihrer Triebfeder überzeugt. Der Independant, ein ministerielles Blatt in Frankreich, spricht sich über diese religiöse Manifestation, „in welcher Frankreich und Deutschland sich einander begegnet“ in folgender Weise aus: „Seit dem Augenblicke der Ausstellung des heil. Rockes in der Kathedrale zu Trier haben wir schweigend die Bewegung eines Teiles des katholischen Europas beobachtet. Die Begeisterung, von welcher die ersten Nachrichten darüber erfüllt waren, hat uns nicht überzeugt; denn der Aberglaube und die Leichtgläubigkeit haben auch ihre Begeisterung, und es ist diese wohl zu unterscheiden von jener, welche die Religion und der Glaube einflößen. Nunmehr aber ist kein Zweifel mehr statthaft: diese Millionen (!) von Christen, welche zu der altehrwürdigen Metropole von Trier zusammenströmen, sind von dem reinsten Glauben beseelt; diesen Eindruck machen auf Menschen, die gewohnt sind nur handgreiflicher Gewißheit ihre Zustimmung zu geben, diese zahlreichen Prozessionen, in welchen alle Klassen der bürgerlichen Gesellschaft untereinander vermischt einhergehen, wo der Gelehrte neben dem Landmanne wandelt, die Professoren gelehrter Universitäten Danklieder singen im Chore mit den Handwerkern. Ganze Städte, geführt von ihren städtischen Behörden, begeben sich in Prozession nach Trier in wunderbarer Ordnung, und in dem Augenblicke, wo sie die Schwelle des heiligen Schiffes betreten, stimmen die männlichen und harmonischen Stimmen der Pilger die ernsten Gesänge an, welche Frömmigkeit der Religion geweiht hat, und die in Deutschland ein eigentümliches Gepräge tiefernster Majestät tragen.“
Eine solche erhabene Einheit und Vereinigung von Menschen aus verschiedenen Völkern, so verschiedener intellektueller Bildung, aus jedem Alter, Stande und Geschlechte ist nur in dem Glauben der katholischen Kirche möglich; in diesem Glauben, der in den verschiedensten Zonen und bei allen Völkern der Erde derselbe ist, der für alle seine Lehren, Satzungen und Übungen von dem Gelehrten und dem Ungelehrten, dem Adligen und dem Bürgerlichen, dem Reichen und dem Armen dieselbe demütige Anerkennung, denselben Gehorsam und dieselbe eifrige Pflichttreue fordert, und dafür auch allen ohne Unterschied seine segenreichen, sittlich veredelnden Gaben spendet. Ja, solcher wunderbaren Einheit erfreut sich allein jener Glaube, der in seiner ganzen Wesenheit den Deutungen menschlicher Willkür gänzlich entrückt ist, der sich nicht modeln läßt nach den Einfällen der wechselnden Tagesweisheit und des Zeitgeistes, nicht zurichten nach den Wünschen und Sonderinteressen eines Standes oder einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, der sich nicht in die Dienstbarkeit einer Nation, eines Staates herabziehen läßt, sondern unabänderlich und unantastbar jeder irdischen Macht, wie der Herr, der ihn gegeben und der Himmel, aus dem er gekommen, seine Natur bewahrt, mit sanfter Macht beherrschend alle, die bis zur Beseligung ihm ihre Herzen öffnen, ohne sich selber beherrschen, und bindend alle zu einem neuen Reiche, ohne sich selber binden zu lassen. In dieser Einheit war unser Fest ein Bild der katholischen Kirche, die so in gleichem Glauben, in gleicher Eintracht und Gottesverehrung vereinigt gesehen haben. Einheit des Glaubens ist ein Erfordernis der Göttlichkeit desselben, ist ein Merkmal seiner Wahrheit. Dies Merkmal trug der Glaube, welcher unser Fest hervorgebracht und so glänzend gemacht hat, an seiner Stirne. Aber er trug auch das Merkmal der Heiligkeit in sich, die Liebe nämlich, ohne welche der Glaube tot ist. Alle Pilger auf dem Feste waren ihres Glaubens froh, waren oft begeistert in Glaubensfreudigkeit; und doch, wer hat je Liebloses gegen Andersgläubige bei ihnen gesehen oder gehört, wer von verletzenden Angriffen auf den Glauben und den Kultus anderer Konfessionen in den Predigten dieses Festes vernommen? Nicht die Spur davon ist irgend hervorgetreten. Das ist die Natur der Wahrheit und des rechten Besitzes, daß die, auf deren Seite sie sind, sich freuen können, ohne andre zu betrüben und zu beeinträchtigen, daß sie ihr Eigentum mit Liebe umfassen und aufrecht erhalten können, ohne andre in ihren Rechten zu kränken, und, im Kampfe für die Sache, gegen die Personen sich wenden zu müssen. Das ist das traurige Erbteil derjenigen, welche sich auf die Verneinung gesetzt haben, und, in allem unter sich selber uneinig, nur in dem einen zusammentreffen, was nicht aus Gott, sondern aus dem Widersacher, dem Verneiner von Anbeginn her abstammt.
Quelle: Jakob Marx, Geschichte des heil. Rockes in der Domkirche zu Trier. Trier: Lintz, 1844; aus Wolfgang Schieder, Religion und Revolution: Die Trierer Wallfahrt von 1844. Vierow bei Greifswald: SH-Verlag, 1996, S. 80–86. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des SH-Verlags, Vierow bei Greifswald.