Kurzbeschreibung

Jakob Philipp Fallmerayer (1790–1861) war Historiker, Reisender und Politiker mit familiären Wurzeln im südlichen Tirol und in Bayern. Bekannt ist er heute wohl vor allem für seine Theorien, die besagten, dass die neuzeitlichen Griechen zumeist nicht-hellenischer Abstammung seien, und in den 1830er und 1840er Jahren für Kontroversen unter Philhellenen und Griechen sorgten. Zur damaligen Zeit war Fallmerayer als gelehrter Reisender bekannt, der die Griechen nach der Antike und die islamische Welt erforschte. In seiner ersten größeren Studie widmete er sich 1827 der mittelalterlichen Geschichte des Kaisertums Trapezunt (Trabzon). Auf seiner Reise durch das Osmanische Reich fertigte er in den Jahren 1840 bis 1842 für die in Augsburg erscheinende Allgemeine Zeitung – damals eine der führenden deutschen Zeitungen – eine Reihe von Reiseskizzen an, die er mit kulturellen und politischen Kommentaren versah. Ergänzt um ein deutsch-nationales Vorwort, in dem ein starkes geeintes Deutschland als Gegengewicht zu Frankreich und vor allem zum Russischen Reich gefordert wird, bildeten diese Artikel die Grundlage für Fallmerayers 1845 veröffentlichten Reisebericht Fragmente aus dem Orient. Im ersten Band, aus dem die folgenden Auszüge stammen, berichtet Fallmerayer von seiner Reise von Regensburg nach Trapezunt, vermittelt dem Leser einen Eindruck von den Reiseverhältnissen und beschreibt, wie es einem deutschen Reisenden und Gelehrten im Vorderen Orient erging. Außerdem wird ersichtlich, wie das Bild des islamischen „Orients“ und des Osmanischen Reiches sich im Zeitalter des aufkommenden Orientalismus veränderte.

Jakob Philipp Fallmerayer, Fragmente aus dem Orient (1845)

Quelle

[]

Freitag 7. August um 1 Uhr Nachmittags war die Abfahrt des prachtvollen „Stambul“ nach Trapezunt bestimmt. Und nachdem ich Morgens in Bujukdere auf der k. k. Internuntiatur Pässe und Empfehlungen abgeholt und im Vorübergehen den neuhellenischen Styl „Περουχερης τής νέας Μόδας“ in Pera bewundert hatte, ging ich mit meinen Habseligkeiten gegen 11 Uhr an Bord, um den letzten und, wie ich besorgte, unruhigsten Theil meiner Wanderung anzutreten. Der Eurinische Pontus steht ja bei den Abendländern in so üblem Ruf, daß man sich selbst in der schönsten Jahreszeit nicht ohne heimliches Grauen seinen Fluthen anvertraut. Der „Stambul“ aber ist das größte und schönste Schiff der Companie, es hat nahe an 200 Fuß in der Länge, ist verhältnißmäßig sehr breit, kräftig und doch mit einem Luxus ausgerüstet, der einem aus dem Binnenland kommenden Fremdling auch noch überraschend scheint. Auf dem ersten Platze waren nur zwei Passagiere eingeschrieben, auf dem zweiten Einer, und 250 auf dem dritten oder dem Verdeckplatze, wo bisweilen mehr als 600 Individuen mit ihrem Gepäcke unterzubringen sind. Im Winkel links am Steuer saß auf ausgebreiteten Teppichen das Harem eines vornehmen Türken mit schwarzen Eunuchen und Sklavinnen weißer und schwarzer Farbe. Barrieren und hölzerne Gitter trennen den Promenadeplatz der Europäer des ersten Platzes, wo die Asiaten, auch wenn sie bezahlen wollten, niemals zugelassen werden. Mekkapilger, mit dem Dampffschiff von Alexandrien her, türkische Offiziere über Samsun nach Diarbekr in Mesopotamien bestimmt, Beamte, Negocianten, Perser, Armenier, anatolische Griechen, zerlumpte Gestalten neben parfümirten Muscadins aus Stambul, harrten friedlich jeder auf seinem Platz bis die Stunde kam. Schon seit Tuldscha im Donau-Delta, wo die erste große Türkenmasse eingestiegen ist, hörte man auf dem Schiffe nur die Osmanli-Sprache, die hier Jedermann bis auf die europäischen Matrosen herab weniger oder mehr versteht und spricht. Von den in Asien wohnenden Musulmanen verrichteten mehrere mit großer Inbrunst auf dem Verdeck ihr fünfmaliges Gebet; von den in Europa wohnenden bemerkte man die fromme Praxis nicht an einem einzigen. Beten diese etwa im Herzen oder im stillen Kämmerlein, wie die Christen, oder tödtet unsere Nähe und die Berührung mit dem civilisirten Occident, vielleicht auch bei den Türken das religiöse Gefühl? Der Anker war endlich aus der Tiefe geholt, die Lärmkanone gelöst, die Stiege aufgezogen, und wie ein Ungethüm der Tiefe, eine lange, dunkelgraue Rauchwolke nach sich ziehend, schwamm der Prachtpalast aus dem Mastenwalde des goldenen Hornes in die Strömung des Bosporus hinaus. Die Riesenstadt mit ihren verwitterten Thürmen, ihren bleigedeckten Tempelkuppeln, vergoldeten Minarets und ihren Cypressenhainen, hochwellig über drei Bergufer ausgegossen – goldene Brücke zwischen zwei Welttheilen – zog in langem Panorama an unserm Blick vorüber. Ueber dem Seraï der Osmanlifürsten, seinen dunkeln Gärten und dem Kaiserthor lag tiefes Schweigen, und am Himmel hing, wie ein funkelnder Diamant, die Sonne in ihrer Mittagsgluth.

Unter breitem Schattendach auf dem Verdeck vor dem sengenden Strahl geschirmt und angefächelt von der thauigen, mit der Fluth musikalisch vom Pontus in die Windungen des Bosporus hereinsausenden Moscowiterluft, sahen wir ruhig auf das mühevolle Treiben der Konstantinopolitaner am Strande hin, wie sie keuchten, hämmerten, zimmerten und Zelte aufschlugen unterhalb des Pinienwaldes zur Hochzeitsfeier für die Tochter ihres verblichenen Fürsten am Abend osmanischer Herrlichkeit. Die Sorge für das Reich haben freundliche Nachbarn übernommen, und nicht ohne Ungeduld wartet Gog und Magog seit Jahren schon auf der andern Seite des Eurinus, ob man seine Hülfe nicht bald nöthig habe, um die verfallende Wirthschaft aufzurichten und die Rechnungen der bankerotten Osmanli auszugleichen. „Ach wie tapfer“, meint Hadschi Baba, „wollten wir gegen diese garstigen Moskof kämpfen, wenn man nur nicht dabei umkäme!“ Warum geht aber auch mehr als neun Monate im Jahre Luftstrom und Welle vom moskowitischen Strand nach Konstantinopel herab, wie eine Tromba marina das Wort des Czars zu verkünden? Wir aber stritten gegen diese naturgemäße Bewegung der Elemente mit der Kunst unserer Maschine und drangen siegreich Therapia, Bujukdere, das Russenlager, Amykus‘ alten Thron, Batterien, Schlösser, Felsenrisse und die langen Platanenwälder vorüber durch die Brandung des weiten Thores in die offene Fläche des Meeres hinaus. Nun ging es, fünf bis sechs Miglien von der schattigen Küste Anatoliens, im raschen Laufe wider Wind und Wellen gegen den Orient. Das Mittagsmahl um 4 Uhr nahm man noch ohne widerliche Empfindung im Saale ein, der Thee um 8 Uhr Abends wurde von Manchem schon auf dem Verdeck getrunken. Denn im breiten Trichter zwischen den Donaumündungen und Cap Karambe in Anatolien brandet und wogt es beständig, und der seeungeübte Fremdling wird häufig gehindert, die Waldpracht der Küsten Kleinasiens mit ungetrübtem Sinn zu bewundern. Glücklicherweise beginnen Hochgebirg und Dunkelwald erst bei Heraklea, wo wir in Mondhelle vorüberschifften.

[]

II. Landung und erste Eindrücke in Trapezunt.

„Trabisonda!“ rief es im Morgengrau des zehnten Augusts vom Verdeck des prachtvollen Stambol. Ich entsprang dem Lager, eilte hinauf und sah sie endlich vor mir die langersehnte Comnenenstadt mit ihrem Namen voll Schmelz und Melodie. Der Flug des Kieles, das ungewisse Tageslicht, das anscheinend verworren und planlos über Klippen und Schluchten ausgegossene Häusermeer mit seinen, aus Baumdickicht hie und da herausblickenden grauen Zinnen gaben noch kein klares Bild; es lag vielmehr beim ersten Anblick etwas Geisterhaftes und melancholisch Unheimliches über dem halb im Morgenschlaf begrabenen, schweigsamen Trapezunt. Wir bogen um einen hohen felsigen Ufervorsprung, der uns die Stadt, ihre Bäume und ihre Gärten neuerdings verbarg, und ließen auf dem alten, zur Zeit des Kaiserthums und des genuesischen Handels Daphnus genannten, aber den Namen eines Hafens nicht verdienenden Landungsplatz um vier Uhr Morgens die Anker. Weil es noch früh war und ich es für besser hielt erst dann auf das Land zu gehen, wenn der ganze Troß kolchischer, armenischer und persischer Wanderer das Fahrzeug verlassen hätte, blieb ich mir selbst überlassen und in der heftigsten Gemüthsunruhe, bis acht Uhr auf dem Verdeck. War ich denn nicht ohne Begleiter, ja selbst ohne Diener ganz allein mit meinem Reiseapparat, meinen Sorgen und meinen Erinnerungen 600 deutsche Meilen von der Heimath an der Küste des waldigen, unbekannten und von ungastlichen Lasen und Turkmanen bewohnten Kolchis, im Angesichte einer Stadt, wo Niemand meine Sprache redet und die Leute nicht einmal den Namen des Landes kennen, aus dem ich gekommen bin? Während der Fahrzeit genießt man freilich die nicht wohlfeilen Ehren und Zuvorkommenheiten eines Kajütenpassagiers. Allein kaum sind die Anker gesunken und die Rechnungen abgethan, so ist auch das Band schon zerrissen und man wird sich plötzlich wieder fremd, bevor man neue Verbindungen angeknüpft und das Loos auf unbekanntem Boden gesichert hat. Die qualvollen Gefühle einer solchen Zwischenperiode kennt man auf Reisen im glücklichen Europa nicht, wo Sitte und Disciplin bei mäßigem Reichthum alle Wege ebnen und den Uebergang in die fremdartigsten Lagen so fließend und zwanglos machen. Der Anblick der ärmlichen Hütten des von der Stadt durch steile Ufer und einen steinigen Höhenzug gesonderten Hafenviertels vermehrten noch die Niedergeschlagenheit. Die Schloßruine auf der rechten und die hohe plateauförmige Bergkuppe auf der linken Seite der Rhede, mit einer aus dem Gebüsche hervorschauenden byzantinischen Kirchenkuppel im kleinsten Maßstabe konnten mich auch nicht trösten, obgleich sich stellenweise die üppigste Vegetation mit dichtbelaubten und ganz von Weinranken umschlungenen Bäumen zeigte. Ein Anstrich von Wildheit und Ruin schien über dieses abgeschlossene Segment des Kolchistrandes ausgegossen und ich sagte unwillkürlich zu mir selbst: Das wären also die von Clavigo, von Eugenicus, von Bessarion so malerisch gepriesenen Herrlichkeiten von Trapezunt! In der Beklommenheit fiel mir kaum ein, daß es auf der Höhe und hinter dem Strandfelsen vielleicht prachtvolleren und großartigeren Anschein gewähre; das Vorgefühl, als wären getäuschte Hoffnungen und leere Tabletten am Ende die ganze Frucht des langen Weges und des nicht unbedeutenden Aufwandes, preßten die Brust zusammen. Wer wird mir in der turkomanischen und fanatisch unduldsamen Muhammedanerstadt Trabosan Nachrichten aus der christlichen Comnenenzeit zu geben wissen? Unter diesen peinlichen Betrachtungen waren die Empfehlungsschreiben aus Wien und Konstantinopel an den österreichischen Viceconsul, Herrn Cavaliere Ghersi, noch die einzige Beruhigung. Ohne diese Vorsicht, an ein europäisches Consulat wo möglich amtlich empfohlen zu seyn, gehe ja kein Abendländer nach Trapezunt; er fände weder Unterkunft noch Schutz in der halbbarbarischen und civilisirtem Verkehr seit fast 400 Jahren entfremdeten Stadt, wo vor einem Europäer in den ersten Zeiten der Dampffschiffahrt selbst der christliche Einwohner noch die Flucht ergriff. Heute ist man freilich zahmer, aber eine erträgliche Einkehr, wie in andern Stapelplätzen der Levante, besteht hier dennoch nicht. Die Besorgnisse, wie mich etwa Herr Ghersi aufnehmen werde, waren überflüssig, ja thöricht; und doch ging ich nicht ohne Bewegung endlich um 9 Uhr ans Land und trug unter Vortritt eines Führers die Briefe in das Consulat. Vielleicht – dachte ich in der Morgenschwüle den krummen Uferpfad hinansteigend – ist der Consul abwesend, vielleicht krank, vielleicht übel gelaunet und unfreundlich, vielleicht ein Feind der Deutschen und – Verächter der Literaten. Von alle dem fand sich an Herrn Ghersi gerade das Gegentheil. Hr. Ghersi ist ein edler Genueser, ein Mann voll Humanität, Intelligenz und Herzensgüte, redet neben seiner italienischen Muttersprache geläufig französich, russisch und türkisch und ist des Geschäftsdranges ungeachtet auch in der Literatur nicht fremd. Solche Eigenschaften haben in Trapezunt einen doppelten Werth, und Hr. Ghersi begriff viel leichter als ein Anderer, was ich eigentlich in Kolchis suchte und welcherlei Dienste und Nachhülfe seinerseits meine Sache dem stupiden Fanatismus der türkischen Einwohnerschaft gegenüber am meisten bedürfe. Zu Galacz hatte ich zuerst gemerkt, welcher Grad von Innigkeit und Fraternität überall zwischen den türkischen Obrigkeiten und den österreichischen Consularbehörden herrsche. Wer in einer stocktürkischen Stadt wie Trapezunt auf der Straße stille steht, ein Haus, eine Inschrift oder eine Mauer betrachtet, beleidigt schon das öffentliche Gefühl und ist verdächtig. Wenn nun gar ein Christ in seiner Nationaltracht, das Fernrohr in der Hand, Monate lang allein in dieser fanatischen Osmanli-Herberge herumgeht, die abgelegensten Winkel besucht, überall copirt, pinselt und Notizen sammelt, ohne je insultirt zu werden, und sogar Zutritt in die allen Giaur[1] bisher verschlossenen Moscheen erhält, darf er sich glücklich preisen, darf aber auch den mächtigen Schirm nicht verkennen, den ein kaiserl. österr. Consul zu gewähren vermag.

Die Wohnung ward in der Nachbarschaft beim katholisch-armenischen Kaufmann Marim-Oglu eingerichtet, der, gegen das Naturell seiner Race und ohne eine abendländische Sprache zu verstehen, doch ein warmer Freund der Europäer und ihrer Sitten ist. Mit einem armenischen Diener, den man mir ebenfalls besorgte, ging ich nach Besitznahme des Zimmers sogleich zum Hafen hinab, schaffte die Effecten ans Land und war noch lange vor der Mittagsstunde sammt Büchern, Landkarten, Papier und Apparat aller Art lustig und bequem im geräumigen Saal einquartiert. Der Mittagstisch war nach Sonnenuntergang im Consulat. So hatte nun alle Noth vor der Hand ein Ende.

Hr. Ghersi hat meine Sache zu der seinigen gemacht, und wenn Stadt und Umgegend noch irgend etwas, sey es Inschrift, sey es Dokument, Münze, Werk des Pinsels oder des Meißels aus dem Zeitalter der Groß-Comnenen hat, so wird es ans Licht gezogen und ohne Rückhalt dem Fremdling überliefert. Moscheen, Citadelle, Festungsthürme und die verborgensten Winkel der Gartenstadt sind auf des Wesirs Befehl meinem Besuche offen. Unter den gegenwärtigen Umständen ist überhaupt im Orient kein Schutz kräftiger und nachdrucksamer als der österrreichische, weil der Kaiser, wie es scheint, seine auswärtigen Stellvertreter und Bediensteten mit Sorgfalt und entschiedenem Glücke wählt, und dann weil die Türkei in ihrer Noth die Oesterreicher allein für eben so starke als gerechte und uneigennützige Freunde hält. Von Seite der andern Rathgeber fürchtet man hinterher etwas weitläufige Rechnungen.

[]

Anmerkungen

[1] Arabisch-islamischer Begriff für „Ungläubige.”

Quelle: Jakob Fallmerayer, Fragmente aus dem Orient. Erster Band. Stuttgart und Tübingen: J. G. Cotta’scher Verlag, 1845, S. 31–35, 39–44.

Jakob Philipp Fallmerayer, Fragmente aus dem Orient (1845), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/vom-vormaerz-bis-zur-preussischen-vorherrschaft-1815-1866/ghdi:document-5014> [23.04.2024].