Quelle
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Wie wir nach Hamburg gekommen sind, bin ich stracks schwanger geworden und meine Mutter mit mir zugleich; Gott – er sei gepriesen – hat mir zur rechten Zeit gnädiglich mit einer jungen Tochter geholfen.
Ich bin ein junges Kind gewesen und, obschon mir solch ungewohnte Sachen schwer angekommen sind, so bin ich doch höchlich erfreut gewesen, daß mir der Höchste ein hübsches, gesundes Kind gegeben.
Meine getreue, fromme, liebe Mutter ist auch auf die Zeit gegangen und hat ausgerechnet eine große Freude gehabt, daß ich zuerst ins Kindbett gekommen bin, damit sie auf mich junges Kind konnte noch ein wenig Achtung geben.
Acht Tage danach ist meine Mutter auch mit einer jungen Tochter ins Kindbett gekommen. Also ist kein Neid und kein Vorwurf zwischen uns gewesen und wir sind beieinander in einer Stube gelegen. Wir haben keine Ruhe gehabt von Leuten, die sind gelaufen gekommen und wollten das Wunder sehen, daß Mutter und Tochter in einem Zimmer im Kindbett liegen.
Für die Langeweile muß ich einen hübschen Spaß schreiben, was uns geschehen ist, um das Buch damit ein bißelchen zu verlängern.
Wie meine Mutter und ich zugleich im Kindbett gelegen sind, ist es eine kleine Stube und Winterstag gewesen. Mein seliger Vater hat großes Hausgesinde gehabt, so daß es uns in der Stube gar eng geworden ist, wenn auch Eltern und Kinder gern einer mit dem anderen vorliebnehmen.
Ich bin acht Tage eher aus dem Kindbett gegangen als meine Mutter. Also um die Stube ein wenig geräumiger zu machen, bin ich in meine Kammer hinauf zu liegen gegangen. Aber da ich noch gar jung gewesen bin, hat meine Mutter nicht leiden wollen, daß ich in der Nacht mein Kind sollte mit mir nehmen; also habe ich das Kind in der Stube gelassen, in der sie gelegen ist, und sie hat die Magd bei sich liegen lassen.
Meine Mutter hat zu mir gesagt, ich sollte mich nicht um mein Kind bekümmern; wenn es heulen würde, sollte es mir die Magd heraufbringen, damit ich es säuge. Dann sollte sie es wieder von mir nehmen und in die Wiege legen. Das bin ich wohl zufrieden gewesen.
Also bin ich etliche Nächte gelegen, daß mir die Magd das Kind so vor Mitternacht gebracht hat, es zu säugen. Einmal in der Nacht wach ich auf ungefähr um die Glock drei. Sag ich zu meinem Mann: »Was mag das bedeuten, daß mir die Magd das Kind noch nicht gebracht hat?« Sagt mein Mann – er ruhe in Frieden – : „Das Kind wird gewiß noch schlafen“. Ich hab mich aber damit nicht zufrieden gegeben und bin herab in die Stube gelaufen und hab nach meinem Kind sehen wollen. Ich gehe an die Wiege und finde mein Kind nicht darin. Ich bin sehr erschrocken, hab aber doch keinen Lärm zu machen angefangen, damit meine Mutter nicht aufwachen und sich erschrecken sollte. Also hab ich angefangen, die Magd zu schütteln, und hätte sie gern im stillen aufgeweckt, aber die Magd ist sehr verschlafen gewesen. Ich hab müssen anfangen, laut zu schreien, ehe ich sie aus dem Schlaf kriegen konnte. Dann frag ich sie: „Wo hast du mein Kind?“ Die Magd weiß nicht, was sie aus dem Schlaf spricht. Meine Mutter erwacht auch darüber und sagt zu der Magd: „Wo hast du Glückelchens Kind?“ Aber die Magd ist so verschlafen gewesen, daß sie keine Antwort geben konnte.
Also sag ich zu meiner Mutter: „Mamme, vielleicht hast du mein Kind bei dir im Bett?“ So sagt sie: „Nein, ich hab mein Kind bei mir,“ und hält es so fest an sich, wie wenn man ihr das Kind wegnehmen wollte. Da fällt mir ein und ich bin über ihre Wiege gegangen und hab nach ihrem Kind gesehen – da ist ihr Kind in der Wiege gelegen und hat sanft geschlafen. Sag ich: „Mamme, gib mir mein Kind her, dein Kind liegt in der Wiege.“
Hat sie es doch nicht glauben wollen und ich hab ihr ein Licht bringen müssen, daß sie es recht besehen hat. Also hab ich meiner Mutter ihr Kind gegeben und meines genommen. Das ganze Haus ist derweil wach geworden und in Schrecken gekommen. Aber danach hat sich die Schrecknis in Gelächter verkehrt und man hat gesagt, bald hätte man den König Salomo – er ruhe in Frieden – nötig gehabt.
Also sind wir ein Jahr bei Vater und Mutter – sie ruhen in Frieden – gewesen.
Zwar hatten wir zwei Jahre Kost versprochen bekommen, da es uns aber in dem Haus meines Vaters – das Andenken des Gerechten sei gesegnet – gar sehr eng gefallen ist, hat mein Mann nicht länger bleiben wollen und wir haben von den Eltern keinen Heller annehmen wollen für das zweite Jahr Kost.
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Quelle: Die Memoiren der Glückel von Hameln. Übersetzung aus dem Westjiddischen von Bertha Pappenheim. Wien, 1910. Online verfügbar unter: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Memoiren_der_Gl%C3%BCckel_von_Hameln. Digitalisat des Jiddischen Originaltextes unter: http://dfg-viewer.de/show?tx_dlf%5Bdouble%5D=0&tx_dlf%5Bid%5D=http%3A%2F%2Fsammlungen.ub.uni-frankfurt.de%2Foai%2F%3Fverb%3DGetRecord%26metadataPrefix%3Dmets%26identifier%3D1759801&tx_dlf%5Bpage%5D=7&cHash=76257bc45484bfbe524c4c7041aee746