Quelle
Erstes Buch, Fernweh
101 – Wiesen oberhalb Schabbachs
Ruhig liegen die Wiesen auf einem Hügel vor Schabbach da und atmen schwer als Paul aus dem Krieg zurückkehrt. Müde schreitet er über das heimatliche Grün seinem Heimatdörfchen Schabbach entgegen. Der Anblick auf das Dorf herab, läßt seine vom Marsch ermüdeten Glieder wieder Kraft fassen und zeichnet einen Ausdruck von Glück und Erlösung in sein kriegsgeblendetes Gesicht.
102 – Dorfstraße in Schabbach
Paul kommt in Schabbach an. Wie eine Fatamorgana mustert er die Gebäude seines Heimatdorfs: die Kleinhäuser, die Höfe, die Dorfkirche. Die Kirche war der Mittelpunkt der Zweihundertseelengemeinde. Am Kirchplatz angekommen hält Paul inne und blickt ins Dorf hinein. Es scheint so, als könnte dieser Anblick über die vergangenen Kriegsjahre hinwegtrösten. Ein älterer Dorfbewohner ist gerade damit beschäftigt, seine kleine Ziegenherde am Strick nach Hause zu führen. Neugierig bleibt ein Geißlein stehen und beschnuppert ein am Wegrand im Dreck grundelndes Schwein. Paul ist belustigt davon und ein erlösendes Lächeln schleicht sich in sein Gesicht.
103 – Bürgermeisterhaus in Schabbach (Marias Elternhaus)
Maria lehnt im offenen Fenster um selbiges zu putzen, als sie in den Fenster-scheiben [sic! ] die Reflexion des Heimkehrers Paul bemerkt und ihren Blick auf die Straße Ienkt, die Paul seinem Elternhaus entgegen hinunterschreitet. Marias Mutter, die Frau des Bürgermeisters, hat Paul offenbar auch bemerkt und schiebt sich neugierig ans Fenster, um durch die Spitzengardinen einen Blick zu riskieren. Maria wendet sich begeistert an ihre Mutter.
MARIA Is dat net der Simons Paul?
104 – Dorfstraße Schabbach
Paul geht jetzt schneller. Als ihm eine ältere Dorfbewohnerin, die einen Leiterwagen hinter sich herzieht begegnet, nickt Paul ihr im Gehen stumm aber doch freundlich zu. Zu groß ist der Drang nach Hause zu kommen, als daß er jetzt stehen bleiben könnte, um ausgefragt zu werden, wie es ihm denn ergangen sei, und wo er denn im Krieg überall gewesen wäre. Die alte Frau bleibt stehen und sieht dem Heimkehrenden entgeistert nach. Als Paul weitergeht, sieht er eine junge Frau, die beim Dorfwirt hinter Fenstergittern steht und die Scheiben wischt: es ist das Dienstmädchen Apollonia. Paul hat sie noch nie zuvor gesehen. Seinen Gang verlangsamend, schenkt er ihr ein Nicken zum Gruß und geht dann weiter. Auch Apollonia wirft ihm einen schüchternen Blick zu. Außen vor dem Fenster steht Glasisch, der Apollonia, indem er von außen lasziv über die Scheiben fährt, neckig versucht, auf sich aufmerksam zu machen.
APPOLONIA Hau ab, Mensch!
Apollonia fringt angeekelt von Glasisch ihren Fensterlumpen in einem Blecheimer aus, und wie sie so starr in die trübe Brühe blickt und ihre schwarzen Locken auf ihren Wangen tanzen, hat sie etwas sehr trauriges, verlorenes und fremdes in ihrem Ausdruck.
105 – Hofeinfahrt Schmiede / Pauls Elternhaus
Pauls Gang wird immer schneller, als er um das Hauseck herum eilt. Aus der Schmiede hört man lautes Hämmern, das in Pauls Ohren wie Musik klingt. Als er durch die kleinen Scheiben ins Innere der Schmiede blickt, springen ihm tanzende Eisenspäne entgegen. Sein Vater formt gerade ganz in seine Arbeit vertieft einen Radbeschlag, indem er mit einem Hammer auf das rot und gelb glühende Metall klopft. Paul eilt zum Vorschlag der Schmiede und greift sich einen Vorschlaghammer, um seinem Vater, der ins Freie tritt, zur Hand zu gehen. Dieser nimmt mit einem kurzen Blick Notiz von seinem heimgekehrten Sohn, bestrebt davon, zuerst die Arbeit zu beenden. Zusammen beschlagen die beiden das Rad, das sie eingespielt sogleich an die Wagendeichsel montieren. Jetzt erst wendet sich Mathias an Paul.
MATHIAS Der Wagen gehört dem Legrands Kath. Und dem sei Helmut ist am Weichselbogen gefallen.
Mathias geht daraufhin wieder in die Schmiede, während Paul die Radmontage beendet. Er befreit sich von seinem Rucksack und folgt Mathias in die Werkstatt nach, wo sie zusammen ein weiteres Eisenstück mit abwechselnden Hammerschlägen formen. Währenddessen tritt Katharina Simon, Pauls Mutter aus dem Wohnhaus und erkennt ihren verlorengeglaubten Sohn.
MATTHIAS Gott sei Dank!
Auch Paul bemerkt jetzt seine Mutter.
KATHARINA (zu sich) Der Paul ist wieder da!
Paul eilt zu Katharina, die ihn unbeholfen vor Freude an den Schultern nimmt, und ihn sogleich ins Innere des Hauses, in die Mitte der Familie schieben will. Paul aber dreht sich aus ihren einverleibenden Händen und wendet sich liebevoll an sie.
PAUL Mutter, wart mal n’ Moment!
Paul geht in Richtung des Misthaufens, der zwischen der Schmiede und dem Wohnhaus liegt und öffnet sich im Gehen seinen Hose, um auf den Misthaufen zu pinkeln. Katharina kommentiert Pauls Ritual mit einem erlösten Lachen zu ihrem Mann Matthias hinüber, der das Schauspiel ebenfalls aus der Schmiede heraus verfolgt. Als Paul so am Misthaufen steht und seiner Blase Erleichterung verschafft, ist es so, als würde der ganze Druck, seine ganze Angst und Verzweiflung der letzten Jahre von ihm rinnen.
Quelle: Edgar Reitz, Skript für „Heimat“, Buch 1: „Fernweh“. München, 1984, S. 1–4. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors.