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Das Zeichen von Brüssel
Mit Hängen und Würgen hat die NATO ihre Entscheidung zustande gebracht. Die Solidarität des Bündnisses ist somit nach außen einigermaßen gewahrt geblieben, doch zeigt sie von innen her Brüche, die durch mühselige Formulierungskunst überkleistert werden mußten. Das muß den Gegner zu der Hoffnung ermutigen, daß er durch propagandistisches Trommelfeuer die Atomspaltung der Allianz doch noch erreichen kann. Es gilt daher abzuwarten, ob und wie dem ersten Schritt in die graue Zone, der lediglich in der Billigung des Programms besteht, in drei bis vier Jahren der zweite Schritt folgen wird, der dessen Verwirklichung ermöglicht. Aber man braucht nach dem Signal zum Führungswillen, das Carter am selben Tag in Washington gesetzt hat, der Entwicklung nicht ohne Optimismus entgegenzusehen.
Gewiß verfügt die Sowjetunion nicht allein in Belgien und vor allem in den Niederlanden, die den Beschluß des Bündnisses bloß mit allerlei Wenns und Abers akzeptierten, sondern weithin im westlichen Lager zur Genüge über trojanische Esel, die sich für ihre Interessen einsetzen lassen. So brauchen Regierungen der Allianz Kraft und Klugheit, um den Stürmen zu widerstehen, die den Kurs ihrer Sicherheitspolitik weiterhin gefährden.
Genscher hat es sehr hoffnungsvoll formuliert: „Jetzt kann die Sowjetunion unsere Entscheidung nicht mehr beeinflussen.“ Aber versuchen wird sie es, denn die Erkenntnis, wie stark die Sowjets überrüstet haben, ist keineswegs überall verbreitet. Bundeskanzler Schmidt kann sich einerseits darüber freuen, daß Carter nun endlich die Führung stellen will, deren Fehlen Schmidt so oft zu bedauern Anlaß sah. Aber andererseits muß er sich Gedanken darüber machen, daß seine eigene Führungsaufgabe innerhalb der SPD nicht leichter wird, wenn Amerika eine Politik aufnimmt, die in vielem de facto, wenn nicht verbal, eine Abkehr vom bisherigen Konzept der Entspannung darstellt.
Aber was ist die Realität? Nach dem Sicherheitsweißbuch der Bundesrepublik, das auf einer vorsichtigen Rechnung beruht, besitzt die Sowjetunion 1370 Waffensysteme jener Sorten, die Europa bedrohen, während die Kernwaffen ähnlicher Art, die den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich auf dem europäischen Felde zur Verfügung stehen, bisher bloß eine Menge von 386 ausmachen. Durch pauschale Zahlen wird die Relation der Kampfmittel indessen nur unzureichend dargetan, weil sich daraus weder die qualitativen noch die quantitativen Veränderungen ergeben, die durch die Einführung der SS-20-Raketen und der Backfire-Bomber in das Potential des Ostens eintraten.
Die Anstrengung des Westens, das Gleichgewicht wiederherzustellen, kommt somit zwar ziemlich spät, doch wahrscheinlich eben noch früh genug. Wenn die Amerikaner nun von 1983 an insgesamt 572 Kernwaffen mittlerer Reichweite – nämlich 464 Cruise Missiles vom Typ Tomahawk und 108 ballistische Geschosse des Modells Pershing II XR – in das Bündnis einführen wollen, so praktizieren sie angesichts des Aufgebots der Sowjets ein durchaus bescheidenes Vorhaben, das im übrigen mit dem Abzug von 1000 Stück Atommunition verbunden wird.
Hätten die europäischen Mitglieder der Allianz ihre Zustimmung verweigert, so wäre der amerikanische Partner des Paktes mehr oder minder aus der Verantwortung für die Abschreckung entlassen worden und der sowjetische Gegner hätte die Möglichkeit bekommen, die Einschüchterung der NATO-Staaten erfolgreich zu betreiben. Die Atomgarantie Amerikas für Europa setzt ja voraus, daß die Führungsmacht Kernwaffen bereitzustellen vermag, die zur Strategie der „Flexible Response“ passen. Die Gemeinschaft kann von den USA im Ernstfalle keine Eskalation der großen Sprünge erwarten, die in der Schlacht um unseren Kontinent vorzeitig zum totalen Schlagabtausch mit der UdSSR führen würde. Aus eigenem Interesse muß diese Gemeinschaft dafür Sorge tragen, daß ihr stärkstes Mitglied die Fähigkeit zu einer Eskalation der kleinen Schritte entwickelt, die den Erfordernissen der Konzeption entspricht. Militärisch und politisch verbreitert und vertieft sich damit ihre Bindung an unseren Erdteil, nimmt die Glaubwürdigkeit ihrer Schutzbürgschaft folglich zu.
Dieser Einsicht ist das energische Engagement Londons und Bonns für die Planung zu danken, dem sich Rom durch eine erfreulich feste Haltung angeschlossen hat. Washington will seinen Einsatz für die Sicherheit des Westens beträchtlich steigern, um der Herausforderung des Ostens zu begegnen. Es macht seinen Beitrag für das Bündnis freilich von den Leistungen der Bundesgenossen abhängig, die dazu dienen, dem atomaren und konventionellen Druck Moskaus Paroli zu bieten. Werden die Alliierten dies Junktim beachten, also ihren jeweiligen Militäretat erhöhen, wird es nicht noch einmal dazu kommen, daß, wie im deutschen Etat, die Erhöhung um real drei Prozent nachträglich relativiert wird?
Insgesamt scheint US-Außenminister Vance keinen schlechten Eindruck von der NATO-Tagung davongetragen zu haben. Er gab zu verstehen, daß man mit dem holländischen Alleingang fertig werden könne, und schien Belgiens bedingte Zustimmung ebenso für ein „Oui“ zu halten wie am Tag darauf die belgische Presse.
Präsident Carters Rede demonstriert, daß die Worte durch Taten gedeckt werden. Die sowjetische Rüstung im Zeichen der „Entspannung“ hat ihn überzeugt; sein Programm sieht für fünf Jahre eine Erhöhung des Wehretats pro Jahr um echte 4,5 Prozent vor. Aus Washington weht mithin ein anderer Wind. Die NATO sollte die Zeichen der Zeit verstehen, solidarisches Verhalten beweisen und die Risse in den Reihen der Alliierten bald schließen. Die Sowjets haben Einflußmöglichkeiten, aber Amerika hat sie gottlob auch – in unvergleichlich größerem Maße.
Quelle: Wolfram von Raven, „Das Zeichen von Brüssel“, Die Welt (Ausgabe Berlin), 14. Dezember 1979. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.