Kurzbeschreibung

Der jüdische Historiker Julius H. Schoeps beschreibt die Gefühlsausbrüche während einer Vorführung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“, die das deutsche Publikum mit der menschlichen Dimension des nationalsozialistischen Massenmordes konfrontierte, indem sie das Schicksal des Doktors Josef Weiss in den Mittelpunkt stellte und dadurch die Sympathie für Hitlers Opfer verstärkte.

Emotionale Reaktion auf die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ in der Bundesrepublik (1979)

  • Julius H. Schoeps

Quelle

Angst vor der Vergangenheit?
Notizen zu den Reaktionen auf „Holocaust“

Niemand hatte eine derartige Reaktion auf Holocaust erwartet. Daß ein kommerzieller Fernsehfilm für das amerikanische TV-Publikum es geschafft hat, den Gemütszustand der bundesrepublikanischen Bevölkerung aufzuwühlen, ist eine Sensation ersten Ranges. Im WDR gingen die Verantwortlichen vor der Sendung davon aus, daß zwar einige Telefonanrufe eingehen, die Zahl der Anrufe den üblichen Rahmen (Sendung: ‚Anruf erwünscht‘) aber nicht übersteigen würde. Auch in der Panel-Redaktion, die eingesetzt worden war, um die eingehenden Anrufe für die anschließende Diskussionsrunde auszuwerten, war man noch kurz vor der Sendung der Meinung, daß es nicht schlimmer als sonst kommen, daß man einige relativ ruhige Abende vor sich haben würde. []

Schon Stunden vor Ausstrahlung des Films meldeten sich die ersten Anrufer, die sich darüber beschwerten, daß der Film überhaupt in Deutschland gezeigt würde. Die Tendenz war eindeutig negativ. Die wochenlange Stimmungsmache gegen den Film, der Vorwurf der Trivialität, die Unterstellung mangelnder Authentizität und Glaubwürdigkeit, schlug sich in den Meinungen der Anrufer nieder, die den Film verurteilten, ohne ihn noch gesehen zu haben. Nachdem der Film ca. 30 Minuten lief, änderte sich die Tendenz. Der Film zeigte Wirkung. Die von den Telefonisten auf DIN A5-Karten protokollierten Anrufe ließen erkennen, daß das Fernsehpublikum in zunehmendem Maße Anteil am Schicksal der Familie des jüdischen Arztes Josef Weiss zu nehmen begann.

Wer die ersten telefonischen Reaktionen auf den Film zur Kenntnis nahm, erhielt den überraschenden Eindruck, es habe in der Bundesrepublik bisher überhaupt noch keine nachhaltige Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gegeben. Auf einen Zettel schrieb ich, um den Trend der Anrufe zu kennzeichnen: ‚Starke Emotionalität – mit zunehmender Tendenz‘. Die meisten Anrufe kreisten um die Begriffe ‚Vergessen‘, ‚Schuld‘ und ‚Wie konnte es dazu kommen?‘. Mir drängte sich das Gefühl auf, als ob viele Anrufer das Bedürfnis verspürten, mit irgend jemandem zu reden, ihre Betroffenheit, Bestürzung und Scham loszuwerden. Einige der jungen Leute, die pausenlos damit beschäftigt waren, Anrufe entgegenzunehmen, meinten auf meine Frage nach ihren ersten Eindrücken, so etwas hätten sie noch nie erlebt, sie hätten fast den Eindruck, ‚seelsorgerische Dienste‘ zu leisten. []

Antisemitische Stellungnahmen, die über die Telefonleitungen hereinkamen, wurden von der Redaktion besonders beachtet. Das war nicht immer einfach, weil häufig antijüdische Vorbehalte nicht direkt, sondern verklausuliert geäußert wurden. Die Stellungnahmen konnten dabei sehr unterschiedlicher Natur sein. So war es möglich, daß ein Zuschauer sich über die ‚projüdische Tendenz‘ des Filmes beschwerte, oder ein anderer meinte, Juden hätten den Film finanziert, Juden hätten den Film produziert, Juden hätten dafür gesorgt, daß der Film in der Bundesrepublik gesendet würde, um dem Ansehen der Deutschen in der Welt zu schaden. ‚Wann‘, fragte dieser Zuschauer, ‚wird endlich Schluß gemacht mit der Hetze?‘ Sehr viel eindeutiger noch waren Anrufe wie der: ‚Die Judenbrut sollte man endlich vergessen‘. Oder: ‚Auschwitz gab es und es war nötig . . .‘ Es gab Anrufer, die erklärten, Hitler und Heydrich seien doch eigentlich Juden gewesen. Unausgesprochen stand dahinter die absurde Vorstellung, die Juden selbst hätten die Verantwortung für ihre Vernichtung zu tragen. Es war aufschlußreich, daß die meisten dieser Anrufe anonym erfolgten, d.h. die Anrufer waren auf Befragen nicht bereit, etwas zu ihrer Person auszusagen. Eine der Äußerungen (‚Man hätte alle Juden umbringen sollen‘) wurde vom Moderator der Sendung in der Diskussion zitiert. Noch Tage später meldeten sich Zuschauer, die es nicht für möglich hielten, daß 1979 jemand so etwas gesagt haben könnte. Es fiel jedoch auf, daß die als ‚antisemitisch‘ zu kennzeichnenden Stellungnahmen von Sendung zu Sendung abnahmen. Viele der Anrufer hatten im übrigen Schwierigkeiten mit dem Begriff ‚Jude‘ überhaupt etwas anzufangen. Immer wieder fragten Anrufer: ‚Was ist ein Jude?‘, ‚Woher kommt der Antisemitismus?‘, ‚Warum hat man die Juden verfolgt?‘.

Es häuften sich im Laufe der Abende, an denen Holocaust ausgestrahlt wurde, die Stimmen, die nichts gesehen, nichts gehört und nichts gewußt haben wollten. Manche schämten sich, klagten sich selbst an, einige weinten. [] Die starke emotionale Betroffenheit, der offensichtliche seelische Druck, unter dem viele Zuschauer standen, machte sich in Anrufen Luft [].

Erstaunlich war es, daß ein großer Teil des Holocaust-Publikums nach Ende des Films nicht abschaltete, sondern weiter – an vier Abenden bis Mitternacht – auf Empfang blieb. Auch bei der anschließenden Diskussionsrunde ließen die Anrufe nicht nach. []

Nach vier Abenden im Studio E des WDR, nach ungefähr 10 000 eingegangenen Telefonanrufen, hatte ich und habe ich noch das Gefühl, daß etwas in Bewegung geraten ist. Für viele Bundesbürger war Holocaust ein emotionaler Einstieg, die erste Begegnung mit den fast unvorstellbaren Greueln des NS-Systems. Es sind nicht wenige, denen bewußt geworden ist, daß sie den im Namen des deutschen Volkes begangenen Judenmord verdrängt, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bisher gescheut hatten. Ob der Hollywood-Film Holocaust eine Wende in diesen Einstellungen signalisiert, wird die Zukunft erweisen.

Quelle: Julius H. Schoeps, „Angst vor der Vergangenheit? Notizen zu den Reaktionen auf ‚Holocaust‘“; abgedruckt in Peter Märtesheimer und Ivo Frenzel, Hrsg., Im Kreuzfeuer. Der Fernsehfilm ‚Holocaust‘. Eine Nation ist betroffen. Frankfurt am Main, 1979, S. 225–30. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Emotionale Reaktion auf die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ in der Bundesrepublik (1979), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-1155> [25.04.2024].