Kurzbeschreibung

Der Chefredakteur des konservativen Massenblatts BILD-Zeitung schließt sich der nahezu einmütigen Pressekritik an dem Verfahren gegen den Spiegel an, weist demgegenüber aber auch auf die Stärken der westdeutschen Demokratie hin.

Spiegel-Affäre und die Stärken und Schwächen deutscher Demokratie (12. November 1962)

  • Peter Boenisch

Quelle

Liebe BILD-Leser!

Die Bundesregierung hat sich blamiert. Es ist die Blamage des schwächsten und schlechtesten Kabinetts, das wir seit 1949 haben.

• Der Justizminister hat versagt.
• Der Verteidigungsminister hat die volle Wahrheit verschwiegen.
• Der Kanzler hat unter Druck der FDP zwei verdiente Staatssekretäre „notgeschlachtet“. Auf die bayerischen SPD-Abgeordneten, die sagten: „Laßt die Hosen runter, auch wenn Dreck dran ist“, hat man zu spät gehört.

Die Opposition hat im Parlament scharf zugegriffen und so lange gefragt, bis die Wahrheit ans Licht kam. Im Deutschen Bundestag hat man sich fast die Köpfe eingeschlagen, und die Intellektuellen, die schon vor zwei Wochen die Pressefreiheit begraben hatten, betrauern nun die Demokratie. Bei ihnen, die so leicht schwarz sehen, fiel auch das böse Wort: „Es ist wie in Weimar.“

Doch was kam nach Weimar? Hitler!
Soll es wieder so kommen? Nein!
Und deshalb ruft BILD den Politikern zu: Haltet maß! Kommt zur Besinnung!
Wir brauchen die Freiheit, aber wir brauchen auch den Staat.
Zerstört nicht das nur zart und langsam wachsende Vertrauen der Bürger.
Auch wenn deutsche Minister sich noch närrischer und einfältiger benehmen sollten als in den letzten Tagen:

• Unsere innere Freiheit ist nicht in Gefahr.
• Bundesgericht und Bundesverfassungsgericht verdienen unser Vertrauen. Dort sitzen unabhängige auf Lebenszeit gewählte Richter, die nicht zum Spaß verhaften und auch nicht, um irgend jemand einen Gefallen zu tun. Auch wenn Herr Strauß noch so viele spanische Telefongespräche führt, so kann auch er ohne richterlichen Haftbefehl niemand einsperren lassen.
• Unser Grundgesetz ist vorbildlich. Es gibt keine starken Männer, die unsere persönliche Freiheit bedrohen, und der angeblich starke Mann hat gerade eine schwache Figur gemacht.
• Unser Parlament hat bewiesen – auch wenn es mit der noblen Haltung manchmal noch nicht klappt – , daß es auch ohne den „Spiegel“ die Skandale aufspüren kann.
• Und die Presse hat gezeigt, daß sie frei ist und frei bleiben wird.

Eines Tages werden wir sogar die Verräter in den Ministerien fassen. Und wenn wir laut und kräftig genug schreien, werden die Mithörer in unseren Telefonen verschwinden.

• Landsleute! Laßt euch euren jungen Staat von Pessimisten, Nörglern, Hysterikern und Halbkommunisten nicht miesmachen. Dieser freiheitliche Staat ist besser als sein Ruf und auch besser als seine Minister.

Landsleute! Streitet euch, wenn es not tut – und in diesen Wochen tat es not. Aber findet auch wieder zusammen, denn das tut not, solange

• die Mauer steht
• solange 17 Millionen Landsleute unterjocht werden
• solange der Kommunismus uns bedroht.

Landsleute, seht die kleinen Feinde, bekämpft sie, aber vergeßt darüber nicht die große, rote Gefahr!

Denkt an unsere Nationalhymne. Lebt sie – und singt sie nicht nur.

Das „Deutschland, Deutschland über alles“, die erste Strophe kannte jeder – bis zum bitteren Ende.

Die dritte Strophe müssen wir noch lernen: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. Danach laßt uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand.

Ihr Peter Boenisch, Chefredakteur der BILD-Zeitung.

Quelle: Peter Boenisch, BILD-Zeitung, 12. November 1962; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970. Göttingen, 1988, S. 51516. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.