Kurzbeschreibung

Westdeutsche Kulturkritiker äußerten sich zwiespältig über die Ablösung des Kinos durch das Fernsehen, die sich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre vollzog, da sie diesen Wandel im Freizeitverhalten als eine Form der sozialen Isolierung in den eigenen vier Wänden interpretierten.

Vom Kino zum Fernsehen in der Bundesrepublik (8. Mai 1965)

  • Jürgen Eick

Quelle

Zwischen Kino und Fernsehen
Wandlungen im bundesrepublikanischen Feierabendverhalten

Zwei Handwerker bei der Arbeit im Haus. Der eine: „Hast du gestern den Fernsehfilm gesehen?“ Der andere: „Ich sehe so selten wie möglich fern. Aber mein Vater, das ist eine Krankheit. Der dreht das Ding an, wenn er nach Haus kommt, und bleibt davor hocken bis zum Schluß; jeden Abend.“ Daß die ungeheure Faszination, die der Bildschirm ausübt, das Feierabendverhalten der Bundesbürger von Grund auf revolutionieren würde, war nach den amerikanischen Erfahrungen unschwer vorauszusehen. In seinen vier Wänden bei allem, was die Welt bewegt, mit eigenen Augen dabeisein zu können, das ist schon ein kleines – eigentlich sogar ein großes – Wunder. So sitzen denn allabendlich Millionen vor ihrem Bildschirm. Wenn spannende Fußballspiele am Nachmittag übertragen werden, sind die Straßen wie leergefegt. Die Diebe bevorzugen für Einbrüche in leerstehende Gebäude die Zeit nach 20 Uhr, weil dann Auge und Ohr der Bundesbürger an der Flimmerkiste voll beschäftigt sind. Am Ende eines Fortsetzungskrimis werden so viele Wasserspülungen auf einmal betätigt, daß der Wasserdruck in diesen Minuten rapid sinkt; so weit sind wir also schon dank des Fernsehens im Gleichschritt: Eine Nation geht gleichzeitig – wie auf Kommando – den sprichwörtlichen Weg, den auch der Kaiser zu Fuß geht. Im März 1965 waren in der Bundesrepublik 10,5 Millionen Fernsehgeräte angemeldet; noch 1959 waren es nur 3,4 Millionen gewesen. Am Ende wird fast in jedem Haushalt ein Gerät stehen; das ist ziemlich sicher. Gar nicht sicher dagegen ist, ob die deutsche Bevölkerung dann in ihrer Gesamtheit dem Flimmergötzen weiter allabendlich in vollem Umfang frönen wird. Das wäre in der Tat auch niederschmetternd.

Das Fernsehen hat freilich einen Bundesgenossen, der dessen Allmacht nahezu unerschütterlich macht: das ist der Hang zur Bequemlichkeit, der inzwischen geradezu eine Dominante des Verbraucherverhaltens geworden ist. Das Fernsehen ist der Gipfel der Bequemlichkeit. Die Welt wird ins Haus geliefert; man braucht sich nur noch in den Sessel fallen zu lassen. Alle anderen Möglichkeiten, den Feierabend zu verbringen, wären unbequemer. Um zum Beispiel ins Kino zu gehen, müßte man sich anziehen, die Anfahrt auf sich nehmen, einen Parkplatz suchen und zu einer bestimmten Zeit an der Kasse sein. Und wer weiß, ob der Film im Kino überhaupt gut ist? Sicher ist sicher; nur keine Bewegung zuviel. Da lobt man sich das Fernsehen; es ist die faulste Form des Feierabendkonsums und in dieser Hinsicht absolut unschlagbar; und viele Bürger versichern: eine großartige Vorbereitung und Vorstufe der Bettruhe. Der Mensch tut überhaupt nichts mehr, außer das Gerät einzuschalten, dann unterhält er sich nicht, sondern wird unterhalten; er ist nicht Subjekt, sondern Objekt des Geschehens. Er verhält sich in dieser Rolle so passiv, ja apathisch, wie sich ein Mensch überhaupt nur verhalten kann. Als diese Überlegungen hier zum erstenmal unterbreitet wurden (F.A.Z. vom 7. Juli 1960), meinten wir noch, mit Schrecken müsse man an die Zeit denken, wenn es etwa in der Bundesrepublik mehrere Programme geben sollte und immerhin eine Entscheidung zu treffen wäre, welches man sich ansehen will. Heute besteht die Qual der Wahl, und dem richtigen 08/15-Fernseher ist sie im Grunde ein Dorn im Auge. Wenn ich schon darüber nachdenken muß, was ich sehen will – und das womöglich noch den übrigen Familienmitgliedern klarmachen muß –, dann gehe ich doch lieber gleich ins Kino.

Der historische Ablauf spielt dabei auch eine Rolle. Ein kluger Spötter hat einmal gemeint, wenn die Eisenbahn erst nach dem Auto erfunden worden wäre, führe heute alles Eisenbahn. Das Kino hat das Pech der älteren Schwester, die gegenüber dem nachgeborenen Nesthäkchen vernachlässigt wird. Aber der Glanz der Wunderkinder beginnt zu bleichen, sowie sie älter werden. Es gilt als eine gesicherte amerikanische Erfahrung, daß das Interesse am Fernsehen etwa fünf Jahre nach der Erstanschaffung des Geräts spürbar abnimmt. Wenn nicht alles täuscht, ist die Zahl der „Fünfender“, die in den Fernsehsielen ergraut sind und dessen allmählich müde werden, im Wachsen. Auch das – meist allzu große – Interesse der Kinder am Fernsehen differenziert sich. Nachgeborene Kinder, die bei ihrem Erwachen zu Verstand bereits ein Fernsehgerät in der häuslichen Gemeinschaft vorfinden, sind viel weniger fernsehversessen als die älteren Geschwister, die erst eine Zeitlang an den Fernsehschirmen der Nachbarn kiebitzen mußten, ehe in der eigenen Familie „endlich auch“ ein Fernsehgerät angeschafft wurde.

In einem Zeitalter ohne häusliche Hilfen hat das Fernsehen weitere Chancen. Großmütter wohnen zu weit weg oder leben zu sehr ihr eigenes Leben, um bei den Enkeln das Haus hüten zu wollen. Dienstboten sind nur noch für Millionäre erschwinglich; selbst Studenten als Babysitter sind teuer. Viele Ehepaare scheuen die Kosten und motten sich in ihrer Wohnung ein, bis die Kinder groß sind. Da ist das Fernsehen ein Trost: man ist mittendrin im Leben und vermißt Theater, Kino, Konzert, Geselligkeit unter Freunden und Bekannten weniger, als dies sonst der Fall wäre. Es ist nicht zu bestreiten, daß auch unabhängig von dem Babysitter-Problem das Fernsehen eine Versenkung in der Familie begünstigt. Alexis de Tocqueville hat schon vor über hundert Jahren gemeint, Demokratie und Wohlstand führten dazu, daß niemand mehr auf den anderen angewiesen sei, das Band menschlicher Zuneigung außerhalb der Familie werde schwächer. Das Fernsehen fördert diese intrafamiliäre Konzentration außerordentlich. Auch Ehepartner, die sich nur noch wenig zu sagen haben, empfinden kaum eine Leere, wenn die Flimmerkiste läuft.

Allmählich kommt jedoch wieder das Sehnen nach Gedankenaustausch mit anderen, der Wunsch nach Geselligkeit guter, alter, hausbackener Art. So schön es am Anfang war, die Welt im Haus zu haben, so wenig schön ist es auf die Dauer, ewig zu Hause zu sein. Die Mainzer Fastnachtssendungen werden zwar traditionsgemäß im größeren Freundeskreis genossen, aber man besucht sich doch keineswegs in dem Maße zum gemeinsamen Fernsehen, wie man früher mit befreundeten Ehepaaren ins Kino ging und hinterher sich noch bei Bier oder Wein zusammensetzte. Wollen wir nicht mal wieder ins Kino gehen? Diese Frage taucht wieder häufiger auf. Ein bißchen schwingt auch eine gewisse Traurigkeit mit: So wie man früher das Kino genossen hatte, erfreut sich ein „Fünfender“ denn nun doch nicht mehr seines Bildschirms. Professor Dolvifat hat die Faszination des Kinos unter dem Stichwort „Entrückung“ rubriziert, und dieses Wort trifft hervorragend den Grad der Anteilnahme am Geschehen auf der Leinwand, das in den halbdunklen Parkettreihen der Filmtheater viel eher zu erzielen ist als zu Hause, wo man auch vor Störungen nie sicher ist.

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Quelle: Jürgen Eick, „Zwischen Kino und Fernsehen. Wandlungen im bundesrepublikanischen Feierabendverhalten“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 1965. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.

Vom Kino zum Fernsehen in der Bundesrepublik (8. Mai 1965), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-836> [05.11.2024].