Kurzbeschreibung

Im Wilhelminischen Deutschland wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, das Automobil als Fortbewegungsmittel nutzen zu können. Der hohe technische Standard Deutschlands führte in Verbindung mit unternehmerischem Enthusiasmus zu vielen bahnbrechenden Entwicklungen in der Automobilindustrie, deren Errungenschaften eine Quelle großen nationalen Stolzes bildeten.

Das Automobil (1913)

  • N. Stern

Quelle

Die Automobiltechnik befindet sich gegenwärtig in ihrem höchsten industriellen „Ausbreitungsstadium“. Das tritt immer ein, wenn ein Gegenstand volle „Gebrauchsreife“ erreicht hat. Dann haben Angebot und Nachfrage die günstigsten Voraussetzungen und Wechselwirkungen. Auf einer Seite steht das in allen Teilen vervollkommnete, wirklich für „jedermanns Gebrauch“ zugeschnittene technische Gebilde, dessen Preis eine wesentliche Herabsetzung erfahren hat und dessen Betrieb durch niedrigere Gummipreise und die ausgedehnte Verwendung des einheimischen Produktes Benzol als Brennstoff erheblich verbilligt wurde. Auf der andern Seite steht die wachsende höhere Einschätzung, das durch Beispiel und Vorbild überall vordringende, sich befestigende Vertrauen zu der Betriebssicherheit und Gebrauchsfähigkeit des Automobils, die zunehmende Vertrautheit mit technischen Dingen und wachsende technische Intelligenz und schließlich die endgültige Überwindung von Vorurteilen, die durch Geschwindigkeitsexzesse der Anfangs-, und Entwicklungsjahre genährt, lange Zeit die Ausbreitung gehemmt hatten.

Die Verbilligung allein konnte die überraschende Ausbreitung der letzten Jahre nicht herbeiführen. Erst die volle Erkenntnis des hohen wirtschaftlichen, praktischen und allgemeinen Wertes haben dem Preisbegriff seine Ungeheuerlichkeit in den Augen vieler genommen, so daß heute Erwerbskreise zu Ausgaben in dieser Höhe schreiten, zu der sie sich für keine andre Anschaffung bereit fänden.

Die Automobiltechnik hat in solchem Stadium naturgemäß wenig durchgreifende und umwälzende Neuerscheinungen aufzuweisen. Sie ist jetzt ganz auf „Produktion“ angelegt, weil man „Standardtypen“ fabrizieren kann. Die jetzt gebräuchlichen Personenwagen haben übereinstimmend vierzylindrige Benzinmotoren mit magnetelektrischer Zündung, drei- oder viergängiges Geschwindigkeitsgetriebe und die Übertragung auf die Hinterräder durch Cardangelenk, Cardanwelle und Kegelräder, Stahlrahmen aus gepreßtem Blech, geschmiedete Vorderachsen usw. Neben diesem allgemeinen Aufbau steckt aber die Bedeutung für den Gebrauch in der besonderen Art und Vorsorge, wie jetzt alle Organe zu selbsttätiger Wirkungsweise entwickelt sind und dem Laienfahrer damit fast jede Sorge um die Behandlung abnehmen. Die noch zu behandelnden Stellen sind aber mit solcher Offenheit dargelegt, daß sie schon bei geringer Sorgfalt richtig bedient werden können. Die Erfüllung dieser Vorbedingungen hat in weiten Kreisen den „Gebrauchsmut“ gesteigert und den Gebrauch der komplizierten Maschine zur Selbstverständlichkeit gemacht. Deshalb fährt heute der Arzt, der Geschäftsreisende unbesorgt allein, denn er weiß, daß ihm so leicht nichts passiert, und kennt auch im Bedarfsfalle die wenigen „wunden Punkte“.

Die wachsende Beliebtheit des Automobiles hat unbestreitbar auch ästhetische Grundlagen. Die oft verhöhnten Klapperkasten von ehedem sind fast geräuschlos, und dieser Zustand ist die schärfste Forderung der Gegenwart geworden. []

Die weitere ästhetische Forderung, die wesentlich für die wachsende Beliebtheit des Automobils war, ist die Form der Karosserie. Hier haben die letzten Jahre entscheidend gewirkt. Man hat endlich die von der Pferdekutsche entlehnten Formen verlassen und Neugestaltungen geschaffen, die „Nur-Automobile“ sind, alle Zweckmäßigkeitsbedingungen erfüllen und in ihren schlanken glatten Formen sehr schön wirken. Aller Zierat, falsche Ornamentik, Leistenkram ist endlich überwunden. Die Automobilkarosserie hat ihr eigenes Gewand. Es ist, was besonders betont werden muß, eine deutsche Errungenschaft. Die Formen haben sich aus Zweckmäßigkeitsforderungen zu reinen Stilformen entwickelt und man konnte erleben, daß im letzten Pariser Automobilsalon die deutsche Karosserie das unbestrittene, fast beneidete Vorbild des guten Geschmacks war.

Überhaupt hat Deutschland allen Grund, mit den autotechnischen Leistungen des Letztjahres zufrieden zu sein. Allenthalben steigende Wertschätzung des soliden, gediegenen deutschen Fabrikats und Ausfuhrrekords. Die gefürchtete „Amerikanische Gefahr“ hat weniger geschäftsschädigend gewirkt als man befürchtet hatte, weil die Minderwertigkeit der überbilligen amerikanischen Massenprodukte zu augenscheinlich war. So ist in allen Fabriken eine gewaltige Produktionssteigerung eingetreten, der heute, auch infolge der Kriegswirren, bereits eine gewisse Sättigung des Markts gegenübersteht. Es ist deshalb richtig, daß sich geeignete Neuerscheinungen an noch aufnahmefähige andre Erwerbskreise wenden. Es kommen jetzt noch leichtere zweisitzige Wagen auf den Markt, die zwischen 3500–4000 M. kosten und zweifellos Absatz und Nachfrage finden. Die kleinen 5 PS Wägelchen werden mit 2 hintereinander oder nebeneinander liegenden Sitzen gebaut. Die ungesellige Tandemanordnung dürfte sich wahrscheinlich keiner langen Beliebtheit erfreuen.

Natürlich wächst die Anwendung des Nutzautos ebenfalls recht erheblich, besonders die schweren Lastwagen für militärischen Bedarf, die Anwendung von Motorfeuerspritzen, Mannschafts- und Gerätewagen u. a. m. Mit großen Hoffnungen erschließt sich der Explosionsmotor auch das Gebiet des Motorpfluges.

Das Automobil ist also gegenwärtig in seinen „besten Jahren“!

Quelle: N. Stern, „Automobilbau“, in Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, herausgegeben von D. Sarason. Leipzig und Berlin, 1913, S. 259–61; abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hrsg. Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871–1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 45–47.

Das Automobil (1913), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:document-642> [26.09.2025].