Kurzbeschreibung

Hier reflektiert der Historiker Friedrich Meinecke (1862–1964) über den „Geist von 1914“ und die vorübergehende deutsche Einigkeit in der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs. Ohne jegliche romantische Vorstellungen von nationaler Solidarität spricht Meinecke auch die Bruchlinien in der deutschen Gesellschaft an, die sich einige Monate nach Kriegsbeginn erneut geltend machten.

Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe: Betrachtungen und Erinnerungen (1946)

  • Friedrich Meinecke

Quelle

III. DEUTSCHES MENSCHENTUM IM ERSTEN WELTKRIEGE

Noch einmal schien ein guter Geist das deutsche Volk auf seine Wege zurückführen zu können, als der erste Weltkrieg ausbrach. Die Erhebung der Augusttage 1914 gehört für alle, die sie mit erlebt haben, zu den unverlierbaren Erinnerungswerten höchster Art, — trotz ihres ephemeren Charakters. Alle Risse, die im deutschen Menschentum sowohl innerhalb des Bürgertums wie zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft bisher bestanden hatten, überwölbten sich plötzlich durch die gemeinsame Gefahr, die über uns gekommen war und uns aus der bisher genossenen Sekurität materiellen Gedeihens herausriß. Und mehr als das, man spürte dabei wohl in allen Lagern, daß es mit der bloßen Einigkeit eines Zweckverbandes nicht getan sei, daß eine innerliche Erneuerung für das Ganze von Staat und Kultur Not tue. Man glaubte sogar vielfach, daß sie jetzt schon begonnen habe und weitergehen werde in dem gemeinsamen Erlebnis des Krieges, den man als einen Abwehr- und Verteidigungskrieg empfand. Wir unterlagen mit unseren Hoffnungen einer holden Täuschung. Schon ein Jahr später war die Einigkeit in die Brüche gegangen, spaltete sich das deutsche Menschentum wieder auf verschiedenen Wegen. War der Aufschwung vom August 1914 am Ende nur ein letztes Aufflackern früherer Ideale, älterer, jetzt zu Ende gehender Entwicklungskräfte? Ein guter Beobachter, Max Hildebert Böhm, hat das schon 1917 vermutet. Er schrieb in den Preußischen Jahrbüchern (Bd. 167):

„In mannigfacher Hinsicht wird uns vielleicht späterhin der August 1914 weniger der Anbruch einer neuen Zeit als vielmehr der erhebend schmerzliche Abschied, der prächtig rauschende Schlußakkord einer Romantik bedeuten, von der sich das deutsche Gemüt nur unter schweren Verzichten losreißt.“ Die jetzt wirklich heraufziehende neue Zeit, so führte er weiter aus, werde gekennzeichnet durch Technizismus, Rationalismus und Sozialismus der Brotkarte, durch ein nicht vom Herzen, sondern vom Kopfe geleitetes mitleidloses Ethos. „Ein Staat aber, dessen Wesen Organisation ist, steht als solcher der unberechenbaren Entfaltung individuellen Lebens, aus dem allein die deutsche Kultur entsprießt, mit innerstem Mißtrauen gleichgiltig gegenüber.“

Diese Worte richten wie mit einem Scheinwerfer nacheinander ihr Licht sowohl nach rückwärts wie nach vorwärts. Wir stehen vor dem Hauptwendepunkte in der Entwicklung des deutschen Menschentums. Der Mensch der Goethezeit war der Mensch der freien Individualität und zugleich der humane Mensch gewesen, der gegenüber der Gemeinschaft die Pflicht „edel, hilfreich und gut“ zu sein, anerkannte und übte. Er lebte und entwickelte sich weiter zu den Synthesen zuerst des klassischen Liberalismus, dann des nationalen Sozialismus Naumannscher Prägung, nur immer stärker legiert mit sozialen Massenbedürfnissen und politischen Machtbedürfnissen, d. h. also immer straffer und konkreter verbunden mit der ihn umgebenden Gemeinschaft von Volk und Staat. Noch einmal glühte dann etwas von dem alten freien Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft wieder auf in der Romantik der Augusttage. Sollte der „humane“ Mensch, der darin sich noch einmal bezeugte, fortan ganz zum Absterben verurteilt sein durch alle die Mächte, die den Menschen mehr in Massen zusammendrängten? Wir behalten die bange Frage im Sinne. Sie kann erst, soweit überhaupt möglich, am Schlusse ihre Antwort finden.

Schon im Jahre 1915 war es zu spüren, daß die Augustsynthese geistiger und sozialer Kräfte nicht mehr lange dauern würde. Von der rechten wie von der linken Seite her wurde sie gleichzeitig abgebröckelt. Die Versuche von der äußersten Linken her, die sich an den Namen des jüngeren Liebknecht knüpfen, gehören in die Geschichte des werdenden Kommunismus in Deutschland und würden, wenn der deutsche Mensch etwa in Zukunft von diesem her seine Prägung erhalten würde, historisch von Bedeutung werden. Die Vorgänge auf dem rechten Flügel der deutschen Welt die uns jetzt beschäftigen müssen, wurden aber dadurch damals noch nicht berührt.

Der Kampf um die Kriegsziele entbrannte hier. Es kam für die Zukunft Deutschlands alles darauf an, aus der lebensgefährlichen Lage wieder herauszukommen, in die man durch die unbedachte Politik der Vorkriegszeit geraten war. Zwei der größten Weltmächte, Rußland und England, hatte man sich gleichzeitig zu Feinden gemacht. []

Quelle: Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe: Betrachtungen und Erinnerungen (1946). 3. Auflage. Wiesbaden, 1947, S. 43–45.

Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe: Betrachtungen und Erinnerungen (1946), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:document-821> [26.09.2025].