Quelle
1. Die Aufgabe der Völkerkunde
Die Menschheit, wie sie heute lebt, in allen ihren Teilen kennen zu lehren, ist die Aufgabe der Völkerkunde. Da man aber lange gewöhnt ist, nur die fortgeschrittenen Völker, die die höchste Kultur tragen, eingehend zu betrachten, so daß sie uns fast allein die Menschheit darstellen, die Weltgeschichte wirken, erblüht der Völkerkunde die Pflicht, sich um so treuer der vernachlässigten tieferen Schichten der Menschheit anzunehmen. Außerdem muß hierzu auch der Wunsch drängen, diesen Begriff Menschheit nicht bloß oberflächlich zu nehmen, so, wie er sich im Schatten der alles überragenden Kulturvölker ausgebildet hat, sondern eben in diesen tieferen Schichten die Durchgangspunkte zu finden, die zu den heutigen höheren Entwickelungen geführt haben. Die Völkerkunde soll uns nicht bloß das Sein, sondern auch das Werden der Menschheit vermitteln, soweit es in ihrer inneren Manigfaltigkeit Spuren hinterlassen hat. Nur so werden wir die Einheit und Fülle der Menschheit festhalten. Was den Gang dieser Betrachtung anlangt, so müssen wir vor allem bedenken, daß die Kluft des Kulturunterschiedes zweier Gruppen der Menschheit nach Breite und Tiefe vollständig unabhängig sein kann vom Unterschiede der Begabung. An diesen Unterschied werden wir immer in letzter, an Unterschiede der Entwickelung und der Umstände in erster Linie denken. […] Die geographische Auffassung (Betrachtung der äußeren Umstände) und die geschichtliche Erwägung (Betrachtung der Entwickelung) werden also Hand in Hand gehen. Aus beider Vereinigung allein kann gerechte Würdigung ersprießen.
Unser Wachstum in Geist und Kultur, alles, was wir zivilisatorischen Fortschritt nennen, ist eher dem Aufsprießen einer Pflanze als dem unbeengten Aufschwung eines Vogels zu vergleichen. Immer bleiben wir an die Erde gebunden, und den Zweig kann immer nur der Stamm tragen. Die Menschheit vermag ihr Haupt in den reinen Äther zu erheben, ihre Füße müssen immer an der Erde haften, und der Staub kehrt zum Staub zurück. Dadurch bedingt sich die Notwendigkeit der geographischen Betrachtung. Was aber die geschichtliche Erwägung betrifft, so zeigen wir auf Völker, sie seit Jahrtausenden dieselben geblieben sind, sie nicht ihren Ort, ihre Sprache, ihr körperliches Wesen, ihre Lebensweise, selbst nur oberflächlich ihren Glauben und ihr Wissen verändert haben. […] Sie sind heute so reich und so arm, so weise und so unwissend wie vor Jahrtausenden. Sie haben nichts zu dem erworben, was sie damals besaßen. Jedes Geschlecht hat dieselbe Geschichte wie das vorangehende, und dies wiederholte die früheren. Sie haben, wie man zu sagen pflegt, keine Fortschritte gemacht. Sie sind aber immer begabte, kräftige, thätige Menschen mit Tugenden und Fehlern gewesen. Ein Stück vergangener Zeit stehen sie vor uns. In derselben Frist hat unser Volk samt Verwandten eine reiche Geschichte gelebt, haben wir Schätze an Weisheit, Wissen, Können und Reichtümern aufgehäuft. Wir sind aus dem Dunkel der Wälder heraus auf die geschichtlichen Schauplätze gezogen und haben in Krieg und Frieden unseren Namen zu einem der geehrtesten und gefürchtetsten unter den Völkern gemacht. Sind wir aber als einzelne Menschen so viel anders geworden? Sind wir unseren Ahnengeschlechtern viel überlegener an Kraft des Körpers und Geistes, an Tugenden und Fähigkeiten als die Tubu den ihren? Man darf zweifeln. Der größte Unterschied liegt darin, daß wir mehr gearbeitet, mehr erworben, rascher gelebt, vor allem aber, daß wir das Erworbene bewahrt haben und zu nützen wissen. Unser Besitz ist größer, lebensreicher und jünger. Der ethnographische Vergleich weist uns daher eine höhere Stellung in der Menschheit an; er zeigt uns aber auch, wie und warum wir geworden, was wir sind, und auf welchen Wegen wir noch eine Strecke weiterschreiten werden.
Durch die ganze Völkerbeurteilung geht die unzweifelhafte Grundthatsache des Gefühls individueller Überhebung, daß man lieber ungünstig als günstig über seine Nebenmenschen denkt. Wir sollen wenigstens streben, gerecht zu sein, und dazu mag uns die Völkerkunde verhelfen, die, indem sie uns von Volk zu Volk, Stufe auf, Stufe ab führt, den wichtigen Grundsatz einprägt, bei allen Handlungen der Menschen und der Völker sei vor jeglicher Beurteilung zu erwägen, daß alles, was von ihnen gedacht, gefühlt, gethan werden kann, einen wesentlich abgestuften Charakter hat. Alles kann in verschiedenem Grade geschehen; nicht Klüfte, sondern Gradunterschiede trennen die Teile der Menschheit. […]
Es ist eine allgemeine Kulturgeschichte denkbar, die einen erdbeherrschenden Standpunkt einnimmt, weil sie die Geschichte der Verbreitung der Kultur durch die ganze Menschheit hin überschauen will; sie greift tief und weit in das hinein, was man gewöhnlich als Völkerkunde oder Ethnographie bezeichnet. […]
Quelle: Friedrich Ratzel, Völkerkunde (Leipzig, 1894), S. 3–4.