Einleitung

  • David Ciarlo

Das Wilhelminische Deutschland bietet ein komplexes Bild voller Widersprüche. Der Beginn dieser Ära wird in der Regel mit der Entlassung Otto von Bismarcks im Jahr 1890 datiert, als der neue Kaiser Wilhelm II. beschloss, eine direktere Rolle in der deutschen Staatsführung zu übernehmen. Der Anfang vom Ende begann mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs 1914, und das Wilhelminische Zeitalter Deutschlands endete schließlich mit der Abdankung des Kaisers nach der Kriegsniederlage 1918. Historische Interpretationen dieser Ära der deutschen Geschichte sind nach wie vor oft in heftige Debatten über die Verantwortung Deutschlands für den Ausbruch des Krieges selbst verstrickt – letztlich mit Blick auf den Aufstieg des Nationalsozialismus in der Zwischenkriegszeit. Doch auch in Bereichen fernab der internationalen Politik halten intensive historische Debatten über Kontinuitäten und Brüche, über Tradition und Moderne an, angetrieben durch die Unstimmigkeiten und offenen Widersprüche, die in der wilhelminischen Gesellschaft zu beobachten waren.

Überblick: Das Wilhelminische Deutschland, 1890–1918

Einerseits war das Wilhelminische Deutschland eine rückständige Monarchie, in der realitätsferne Aristokraten ein archaisches politisches System kontrollierten. Andererseits war das Wilhelminische Deutschland eine moderne Industriemacht mit einer rapide wachsenden Wirtschaft, einer florierenden Mittelschicht, allgemeinem Wahlrecht für Männer (damals eine Ausnahme in Europa), einem ausgeklügelten Rechtssystem und dem fortschrittlichsten Sozialsystem der Welt.

Das Wilhelminische Deutschland behielt weiterhin eine starre Gesellschaftsstruktur, und die Grenzen zwischen den sozialen Schichten verfestigten sich in den drei Jahrzehnten vor dem Krieg noch weiter. Dennoch waren diese sozialen Schichten selbst dynamisch. Die Mittelschicht wurde mit dem Aufkommen neuer Berufe vielfältiger, und Gruppen und Institutionen innerhalb der Mittelschicht behaupteten auf vielfältige Weise ihre politische Unabhängigkeit. Die Arbeiterklasse wurde besonders (und sichtbar) selbstbewusst: Es entstanden einflussreiche Gewerkschaften zum Schutz der Interessen der Arbeiterschaft, und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wurde nicht nur zur größten politischen Partei des Landes, sondern auch zur größten Arbeiterbewegung weltweit.

Radikale Nationalisten, die sich in quasi-offiziellen Vereinigungen wie dem Deutschen Flottenverein zusammengeschlossen hatten, forderten eine konfrontative Weltpolitik in Form von Schlachtschiffbau, kolonialer Expansion und einer aggressiven geopolitischen Haltung. Gleichzeitig verbanden jedoch der wachsende internationale Handel, die zunehmende intellektuelle Neugier, Migrationsbewegungen und kulturelle Affinitäten aller Art die deutsche Bevölkerung zunehmend mit anderen Völkern und Kulturen in Europa, Amerika und weiter entfernten Teilen der Welt.

Das Militär blieb eine zentrale soziale Struktur und der Militarismus stand auch weiterhin im Mittelpunkt der wilhelminischen Kultur. Dennoch blühten Reformbewegungen aller Art auf. Frauen eröffneten sich neue Rollen im Berufsleben, in Kunst und Literatur sowie im politischen Aktivismus. Verbrauchergenossenschaften und Reformkostläden entstanden neben Bewegungen für Umweltschutz, Naturverbundenheit und sogar Nudismus.

Deutschlands Kolonialreich wurde von einigen mit ungebremster Begeisterung und Chauvinismus begrüßt, selbst dann noch, als die Militäraktionen in den Kolonien zu Massengewalt und Völkermord führten. Andere Deutsche protestierten hingegen energisch und öffentlich gegen die Brutalität der deutschen Kolonialpolitik, wobei einige vehement auf der grundlegenden Gleichheit aller Menschen bestanden.

Auch im Wilhelminischen Zeitalter hielt sich der Antisemitismus in Politik und Vereinsleben hartnäckig. Gleichzeitig florierte in Deutschland eine vielfältige und facettenreiche Kultur, darunter eine lebendige Avantgarde, die neue und überraschend moderne Ideen in Malerei, Tanz, Architektur und Literatur hervorbrachte. Jüdische Deutsche standen oft an der Spitze solcher künstlerischen und kulturellen Innovationen.

Trotz dieser unterschiedlichen und oft sogar widersprüchlichen Entwicklungen gibt es einen klaren und konsistenten historischen Verlauf der Wilhelminischen Ära: ihre zunehmende globale Vernetzung. Die Rhetorik der Weltpolitik konnte zwar dazu dienen, die wachsende Macht der Kaiserlichen Marine zu beschwören, doch sie konnte auch dazu genutzt werden, um auf das außergewöhnliche Wachstum der deutschen Exporte hinzuweisen, seien es Spielwaren in die Vereinigten Staaten, Wollwaren nach England oder chemische Farbstoffe nach Frankreich oder China. Die Kontakte zwischen Deutschen und anderen Nationen und Völkern nahmen zu. Selbst Deutsche, die weder ins Ausland reisten noch wirtschaftliche oder familiäre Verbindungen außerhalb ihrer Heimat hatten, kamen durch lokale Zeitungen, die zunehmend über globale Ereignisse berichteten, durch Zeitschriften und Bücher über globale Geografie und Ethnografie oder sogar durch exotische Visionen, die in der Kunst oder Werbung zirkulierten, mit der „großen weiten Welt” in Kontakt. Die neue globale Vernetzung des Wilhelminischen Deutschlands führte gewöhnliche Deutsche in eine Welt, die weit größer war als die Welt ihrer Großeltern. Natürlich konnten all diese wachsenden globalen Verbindungen zu einem Brennpunkt für Spannungen und Konflikte werden. Letztlich entwickelten sich einige dieser Brennpunkte zu Krisen, die Deutschland und die Welt schließlich in den Krieg führten.

Der folgende Quellenband befasst sich mit der zweiten Hälfte des Kaiserreichs, während der das Tempo der industriellen Entwicklung, der sozialen Umbrüche und des kulturellen Wandels nahezu rasend wurde. Der neue deutsche Kaiser Wilhelm II., der dieser Epoche seinen Namen gab, schien in vielerlei Hinsicht die impulsive Energie der deutschen Entwicklung, aber auch ihre Widersprüche zu symbolisieren. Die neue globale Vernetzung des Deutschen Reiches in der Wilhelminischen Ära ging jedoch weit über die Persönlichkeit, die Ambitionen und die Grenzen eines einzelnen Mannes hinaus.

Empfohlene Zitation: David Ciarlo: Das Wilhelminische Kaiserreich und der Erste Weltkrieg (1890-1918). Einleitung, veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:introduction-5> [26.09.2025].