Kurzbeschreibung

Oskar Panizza (1854–1921) wurde wegen seines Stückes Das Liebeskonzil (1895) zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er darin die Katholische Kirche scharf kritisierte. Erst gegen Ende seines Lebens gelangte das Werk auf die Bühne. Panizza war Bayer, Sohn eines Katholiken italienischer Herkunft und einer konvertierten Pietistin. Ins Visier seiner Kritik gerieten vor allem die Kirchenbehörden und traditionalistische Überzeugungen, die im Zuge der so genannten „katholischen Erneuerung“ in den katholisch geprägten Regionen Deutschlands wieder an Bedeutung gewonnen hatten. Nach einem Jahr im Gefängnis floh Panizza in die Schweiz und kehrte bereits wenige Jahre später nach Bayern zurück. Hier war ihm jedoch kein literarischer Erfolg beschieden, und er blieb weiterhin eine persona non grata.

Oskar Panizza, Das Liebeskonzil (1895)

  • Oskar Panizza

Quelle

Dem Andenken Huttens

„Es ist got gefellig gewesen in unsern tagen kranckheiten zu senden (als wol zu achten ist) die unsern vorfaren unbekannt seint gewesen. Da bey haben gesagt die der heiligen geschrift obligen, das die blatteren uß gotz zorn kumen seint, und got damit unsere bösen berden straffe und peynige.“
– Ulrichen von Hutten, eins teutschen Ritters
„Von den Frantzosen oder blatteren“ 1519

„Dic Dea, quae causae nobis post saecula tanta insolitam peperere luem? . . . “
– Fracastoro
Syphilis sive de morbo Gallico1509

Personen

Gott Vater
Christus
Maria
Der Teufel
Das Weib
Ein Cherubim
Erster Engel
Zweiter Engel
Dritter Engel

Gestalten aus dem Totenreich
Helena
Phryne
Héloise
Agrippina
Salome

Rodrigo Borgia, Alexander VI., Papst

Kinder des Papstes
Girolama Borgia, vermählt mit Cesarini
Isabella Borgia, vermählt mit Matuzzi (Mutter unbekannt)

Pier Luigi Borgia, Herzog von Gandia
Don Giovanni Borgia, Graf von Celano
Cesare Borgia, Herzog von Romagna
Don Gioffre Borgia, Graf von Cariati
Donna Lucrezia Borgia, Herzogin von Bisaglie (von der Vanozza)

Erster Aufzug Erste Szene

Der Himmel; ein Thronsaal; drei Engel in schwanenweißen, federdaunartigen Anzügen mit enganliegenden, gamaschenähnlichen Kniehosen, Wadenstrümpfen, kurzen Amoretten-Flügeln, weißgepuderten, kurz geschnittenen Haaren, weißen Atlas-Schuhen; sie haben Flederwische in der Hand zum Abstauben.

Erster Engel: Heut steht ER wieder spät auf.

Zweiter Engel: Seid froh! Dieses Gehust‘, dieses wasserblaue Geglotz‘, dieses Schleimfließen, Fluchen, Spucken den ganzen Tag – man kommt zu keinem gesunden Augenblick.

Dritter Engel: Ja, es ist merkwürdig daheroben!

Erster Engel: Apropos! Ist der Thron festgemacht?

Zweiter Engel: Ja, um Gottes Willen! Ist der Thron festgemacht? Er wackelte gestern.

Dritter Engel: Wer wackelte gestern?

Erster Engel: Der Thron, dummes Gänschen!

Dritter Engel verwundert: Der Thron? – Warum wackelt der Thron?

Erster Engel: Enfin, er wackelt eben.

Dritter Engel: Wie? Wackelt denn hier heroben überhaupt etwas?

Erster und zweiter Engel laut auflachend: Ha, ha, ha, ha! –

Dritter Engel immer ernster und erstaunter: Ja, warum wackelt der heilige Thron?

Erster Engel energisch: Dummes Gänschen! Weil hier sowieso alles aus dem Leim geht und lidschäftig wird, Götter und Möbel, Franzen und Tapeten.

Dritter Engel innerlich erbebend: Gott, wenn das meine Mutter wüßte.

Zweiter Engel stirnrunzelnd und höhnisch: Deine Mutter? – Was willst Du denn mit Deiner Mutter, Fratz?

Dritter Engel: Ach, sie ließ doch heute die sechzigste Seelenmesse für mich lesen.

Erster und zweiter Engel mit wachsender Verwunderung: Für Dich?! – beide laut auflachend: Ja wie alt bist denn Du?

Dritter Engel sich besinnend und dann mit Pathos zitierend: „Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag, und ein Tag wie tausend Jahre!“ –

Erster und zweiter Engel ihr abwinkend und sie zur Raison bringend; sehr breit: Ja, ja, ja – ist schon recht; das wissen wir schon! – Aber wie alt warst Du denn drunten?

Dritter Engel kindlich: Knapp vierzehn Jahre!

Erster Engel lachend: Und da brauchst Du Seelenmessen?

Dritter Engel zaghaft: Ach, Ihr wißt ja nicht, ich bin ja gestorben!

Erster und zweiter Engel noch lauter lachend: Ha, ha, ha! Hi, Hi! – No, natürlich, sonst wärst Du ja nicht hier! –

Dritter Engel in unverrückbarem Ernst: Ach, Ihr wißt ja nicht, ich bin ja in Sünden gestorben!

Erster und zweiter Engel aufs neue lachend: Das auch noch! – Du armer Schlucker, was hast Du denn getan? –

Dritter Engel stockt, schaut mit ihren starren Augen ihre Genossinenen an und faltet die Hände.

Zweiter Engel höhnisch: Hast Deine Schulaufgaben nicht gelernt? – Hast Kleckse in Dein Schreibheft gemacht?

Dritter Engel immer in ängstlich-gespannter Haltung: Ach, mir wird so bang; – nicht wahr. Ihr sagt es nicht weiter?! –

Erster und zweiter Engel sich ausschüttend vor Lachen: Was? Da heroben; und nichts weiter sagen?!

Dritter Engel erstaunt: Was? Ihr wißt es schon?

Erster Engel: Nein! Aber sag‘s nur heraus; wir erfahren‘s doch!

Zweiter Engel: Also frisch! Was war‘s?

Dritter Engel: Ach, mich hat ein großer Mann – erdrückt!

Erster Engel betonend: Erdrückt?

Dritter Engel: Oder vergiftet!

Zweiter Engel ebenso betonend: Vergiftet?

Dritter Engel naiv: Ich weiß nicht mehr, wie die Mutter sagte.

Erster Engel mit wachsendem Erstaunen: Ja, war denn die Mutter dabei?

Dritter Engel mit glänzenden Augen erzählend: Die war im Nebenzimmer; – aber die Türe war halb offen; – da kam ein großer, alter Mann herein; – die Mutter hatte gesagt, ich sollte alles geschehen lassen; der Mann sei der Rektor der Schule und sei sehr streng; – und wenn ich in allem gehorsam sei; – käme ich unter die ersten; – und der große, alte Mann –

Erster und zweiter Engel drängend: Nun, der große, alte Mann . . . ?

Dritter Engel fortfahrend: . . . war sehr stark.

Erster und zweiter Engel sich gegenseitig anschauend und die Kleine imitierend: Der große, alte Mann war sehr stark!

Zweiter Engel: So steht‘s im Ollendorf auch.

Erster Engel die Kleine aufrüttelnd: Nun, was tat denn der große, alte Mann?

Dritter Engel herausbrechend: Er erdrückte mich und vergiftete mich, und bespie mich mit seinem heißen Atem, und wollte in meinen Leib eindringen . . .

Erster und zweiter Engel die Hände zusammenschlagend, mit verstellter Verwunderung: Was? – Und die Mutter kam Dir nicht zu Hilfe?

Dritter Engel: Die stand an der Türspalte und sagte immerfort: „Sei nur brav, Lilli, sei nur brav, Lilli!“

Zweiter Engel: Nun, und dann?

Dritter Engel: Dann lag ich schluchzend auf dem Bett.

Erster Engel: Und dann?

Dritter Engel sich besinnend: . . . ich hörte dann noch die Mutter mit dem Manne reden . . .

Zweiter Engel: Was sprachen sie?

Dritter Engel sich tief besinnend: . . . ich weiß es nicht mehr; . . . sie waren schon im Nebenzimmer . . . ich hörte noch die Zahl fünfhundert . . .

Erster Engel: Und dann?

Dritter Engel sich immer länger besinnend: . . . die Mutter kam herein . . . sie sagte, nun hätten sie viel Geld, und könnten lustig und vergnügt für immer leben . . . die Gedanken gehen ihm aus.

Erster Engel drängend: Und dann? –

Zweiter Engel ebenso: Und dann? Und dann?

Dritter Engel fast verklärt: Dann – bin ich gestorben.

Erster und zweiter Engel fahren, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, mit einem schrillen, lang anhaltenden, mädchenhaft-gilfenden Ton, wie um eine innere Erregung ausströmen zu lassen, auseinander, und wie zwei Kreisel pfeifend, in der weitesten Rundung im Saal herum; der Dritte noch immer in starr verklärter Stellung.

Erster Engel nach längerem Umhersausen, atemlos: Und da läßt Dir jetzt Deine Mutter für das viele Geld Seelenmessen lesen?!

Dritter Engel weinerlich ängstlich: Ich bin ja in Sünden gestorben!

Zweiter Engel eindringlicher: Für die 500 Mark oder Taler oder Franken läßt Dir jetzt Deine Mutter Seelenmessen lesen?!

Dritter Engel mißverstehend-naiv: . . . für einen Teil des Geldes.

Zwei ältere Engel kommen schnell hereingestürzt mit dem Ruf: ER kommt! – ER kommt! – Ist alles parat? – Die Drei fahren auseinander und machen sich an die Arbeit.

Erster Engel: Um Gottes willen, seht, ob der Thron fest ist! Einer der Engel macht sich am Thron zu schaffen. Andere Engel kommen inzwischen, bringen Decken, Polster, Kissen und dgl.

Zweiter Engel hopst auf den Thron und probiert ihn nach allen Seiten: Alles fix!

Erster Engel zum dritten, der noch zu scheu ist, Hand anzulegen und verwundert dem ganzen Treiben zuschaut: Du, davon mußt Du mir noch mehr erzählen. Jetzt stell‘ Dich zu uns her!

Die zwei älteren Engel die bisher außen an der Türe Wache gestanden haben, kommen jetzt, wie oben, eilfertig zurück, übermäßig mit den Armen fuchtelnd, und mit dem gleichen Rufe: ER kommt! – ER kommt! – Man hört draußen schlappendes und schleppendes Geräusch.

Erster Aufzug Zweite Szene

Die Vorigen; Gott Vater, ein Greis im höchsten Lebensalter mit silberweißen Haaren, ebenso Bart, hellblauen wässerigen Glotzaugen, tränengefüllten Augensäcken, gebeugten Hauptes, kyphosischen Rückgrats, kommt in langem talarartigem, mißfarbig-weißem Gewande, von zwei Cherubim rechts und links gestützt, hustend und brustrasselnd, schwerfällig tappend und nach vorn geneigt, hereingeschlappt; zwei Engel stehen am Thron und halten ihn: die übrigen stürzen auf die Knie, wenden das Gesicht zur Erde und breiten die Arme aus; hinter Gott Vater ein endloses Cortège von Engeln, Seraphim, Türstehern, Aufwärtern, alles weiblich, oder geschlechtslos, mit teils alltäglich-gelangweilten, teils fürwitzigen, teils ängstlich-besorgten Gesichtern; sowie einige nonnenartig gekleidete Barmherzige Schwestern mit Medizinflaschen, Decken, Spucknäpfen und dgl.Sie geleiten Gott Vater langsam vorsichtig zum Thron, helfen ihm die zwei Stufen hinauf, indem sie unten seine Beine fassen und hinaufheben, drehen ihn dann oben um, und lassen ihn langsam auf den im ältesten byzantinischen Stil gehaltenen, mit reichem Mosaik verzierten Sitz nieder, indem zwei vorne, zwei hinten und je einer an den beiden Seiten ihn teils stützen, teils in Empfang nehmen; ein letzter Engel trägt die Krücken nach.

Gott Vater sinkt mit einem verzweifelnd von sich stoßenden, lebenssatt-rauhen Exspirations-Seufzer auf den Thron nieder: Ach! – Glotzt dann starr und bewegungslos, aber schweratmend, vor sich hin.

Alle Engel, auch die bis dahin gekniet gewesenen, in hastig hin- und herlaufender Bewegung.

Cherubim in flüsternd-drängendem Befehlston: Die Fußbank!

Ein Engel bringt eilig das Gewünschte: Die Fußbank!

Cherubim die Fußbank untersetzend; wie oben: Die Wärmeflasche!

Ein Engel bringt sie: Die Wärmeflasche.

Cherubim wie oben: Den Fußsack!

Ein Engel eilig: Den Fußsack.

Cherubim wie oben: Die Steppdecke!

Ein Engel bringt sie, eilig: Die Steppdecke.

Cherubim in drängendem Befehlston: Die Schlummerrolle!

Ein Engel bringt sie: Die Schlummerrolle.

Cherubim wie oben: Den Rückenwärmer

Ein Engel bringt ein sechsfach zusammengelegtes weiches Flanellstück: Den Rückenwärmer!

Cherubim immer hastiger befehlend: Die Armpolster!

Ein Engel bringt zwei Hohlkissen für die Armlehnen: Die Armpolster.

Cherubim wie oben: Das Foulard!

Ein Engel bringt ein kirschrotes Seidentuch: Das Foulard. Während der Cherubim das Tuch um den Hals des Greisen windet, hört man

Gott Vater unartikuliert-rauh stöhnen und jammern: Aeh! – Aeh! – Aeh! – Aeh! –

Verschiedene Engel: Wo fehlt‘s? – Was ist? – Helft! Helft! – Wo fehlt‘s? –

Gott Vater mit vorgebeugtem Kopfe weiterstöhnend: Aeh! – Aeh! – Aeh! – Aeh! –

Alle Engel sammeln sich in großer Bestürzung um den Thron; einige knien nieder und
schauen ängstlich gespannt auf Gott Vater
: Helft! – Helft! – Wo fehlt‘s? – Wo fehlt‘s? –
Göttliche Majestät, wo fehlt‘s? – Er stirbt uns! – Holt Maria! – Holt den Mann! – Helft! – Helft!–

Gott Vater weiter stöhnend; wird engobiert im Gesicht; aus den Augensäcken rollen große Tränen infolge der Anstrengung: Aeh! – Aeh! – Schpu! – Schpu! – Schpu! –

Ein Engel springt auf, triumphierend, mit heller, lauter Stimme: Die Spuckschale!

Alle Engel aufspringend, in klirrendem Diskant, erlösend: Die Spuckschale!!
Sie eilen zu einem Tisch, wo Medizinflaschen, Weinkaraffen, Bisquit-Gläser und dgl. stehen, und bringen eine rosa-rote Kristall-Vase.

Gott Vater räuspernd, kollernd, sich abmühend, erleichtert sich endlich.

Ein Engel nimmt die Spuckschale zurück, trägt sie, von anderen begleitet, feierlich nach hinten; ein anderer Engel wischt dem Alten mit einem seidenen Tuch den Bart ab; dann stehen alle Anwesenden, dicht gesammelt, erwartungsvoll um Gott Vater herum.Dieser schaut erst lange mit glasig-starren Blicken im Kreise herum, packt dann plötzlich mit zitternden Händen die Krücken, die ihm im Schoß liegen, und stößt sie mit unerwartetem Ruck und heiserem, fürchtenmachendem, fingierten Gebrüll gegen die Engel vor: Wuh! – Wuh! – Die Engel fahren kreischend auseinander und fliehen zu den Türen hinaus.Nur ein Cherubim bleibt zurück, der kniend, mit in den Händen vergrabenem Gesicht, sich vor ihm niederwirft.Lange Pause.

Quelle: Oskar Panizza, Das Liebeskonzil. Eine Himmelstragödie in fünf Aufzügen (1895). Frankfurt am Main: Luchterhand, 1982, S. 8–19.

Oskar Panizza, Das Liebeskonzil (1895), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:document-734> [26.09.2025].