Kurzbeschreibung

In diesem 1938 veröffentlichten Aufsatz erörtert Karl Alexander von Müller die Bedeutung des „bäuerlichen Geistes“ für die deutsche Kultur und die Gesundheit der Volksgemeinschaft. Im vorigen Jahrhundert, so Müller, hätten die Deutschen einen dramatischeren und schnelleren Wandel erlebt als in den tausend Jahren zuvor, was seiner Meinung nach die Gesundheit des Volkskörpers bedrohe. Der Boden unter den Füßen der Bauern sei „erschüttert“ von den drastischen und plötzlichen Veränderungen, die das moderne Leben mit sich brachte, was es dem Bauern – oder sogar dem ganzen Volk – schwer machte, sich anzupassen.

Glücklicherweise seien die deutschen Bauern herzhafte, hartnäckige Menschen, die das deutsche Erbe in die mutige neue Zukunft der Volksgemeinschaft retten könnten. Das Bauerntum, so glaubte er, würde immer fest in der deutschen Tradition verankert bleiben, während sich das Land mit der Moderne weiterentwickelte. Infolgedessen war der Bauer ein Vorbild für alle Deutschen – unabhängig, respektvoll gegenüber dem Land, fleißig und skeptisch gegenüber Fremden.

Karl Alexander von Müller, „Die Geltung des Bauern in der Volksgemeinschaft“ (1938)

Quelle

[]

Es ist nicht anders in anderen deutschen Bauernlandschaften, obwohl der Bauer in jeder von ihnen verschieden ist, in Wirtschaftsweise, Wohnung, Herkommen und Sitte, auch im Politischen ein natürlicher Träger des deutschen Sondertums, auf welchem der mannigfaltige Reichtum gerade der deutschen Geschichte beruht – und zugleich doch überall wieder derselbe unverkennbare deutsche Bauer: eine typische Gestalt in einfachen, holzgeschnitzten Zügen, die selbst wieder einfache, große, fertige Gestaltungen liebt.

Seiner Natur nach ist er eine Macht des Beharrens im Volksganzen. Warum? Nicht aus Vorliebe für das Altertümliche, nicht aus Sentimentalität. Solche Weichherzigkeit ist gar nicht seine Art. Aber er muß jede Neuerung ja nicht nur in der Theorie, im Kopf erproben, wo die Gedanken leicht beieinander wohnen, sondern an der harten, unerbittlichen Natur, und er braucht nicht nur andere für neue Dinge zu begeistern, sondern muß selbst die Kosten tragen für jede Neuerung, aus dem eigenen Beutel. Darum ist er mißtrauisch gegen bloße Lehren vom grünen Tisch. Darum hält er fest, was er einmal erprobt hat, mit der gleichen Jahrhunderte überwindenden Zähigkeit, mit der er dem Boden seine Früchte abringt – bis ins kleinste. Die Form der Holzzäune, welche das vorher genannte älteste bayerische Gesetzbuch vor zwölfhundert Jahren beschreibt, finden wir noch heute in unserem Land; die Strohwische, welche nach ihm damals verbotene Wege durch die Wiese kennzeichneten, kennzeichnen sie noch heute. Auch das gute Neue wird vom deutschen Bauern meistens langsam angenommen. Wie lange hat es gedauert, bis er sich mit der Kartoffel befreundet hat, die heute zu seinen wichtigsten Nahrungsmitteln gehört. Oft haben erst die Not, Hunger oder Krieg ihn zu entscheidenden wirtschaftlichen Verbesserungen gezwungen.

[]

Zum ersten Male in allen Jahrhunderten unserer Geschichte bildet das Bauerntum nicht mehr die Hauptmasse des gesamten deutschen Volkes. Gleichzeitig drohen Verkehr und Technik auch die räumlichen Schranken aufzuheben, die es bisher in seiner Sonderart geschützt haben. Wird diese Entwicklung weiterstürmend den deutschen Bauern vollends aus seiner eigenen Bahn reißen, seine tausendjährige Überlieferung, sein tausendjähriges Herkommen vollends zersetzen? Wenn der Boden des Besitzes unter seinen Füßen wirklich erschüttert würde, wäre die deutsche Geschichte an ihrem tiefsten und gefährlichsten Wendepunkt angelangt.

Denn das deutsche Bauerntum ist noch heute der eigentliche Ballast, der das Schiff unseres Staates nicht nur, sondern auch unseres Volkstums vor dem Umkippen im Sturm bewahrt; ein Ballast, der für unser deutsches Volk doppelt notwendig ist, weil ihm der Kompaß eines sicheren nationalen Instinktes noch fehlt, der andere Völker durch alle Erschütterungen leitet. Das deutsche Bauerntum ist das letzte große Bollwerk der Natur in dem überkünstelten und überfeinerten gesellschaftlichen Gebäude von heute. Worin aber liegt denn das tiefste Leiden unserer Zeit, eine der Hauptwurzeln ihrer inneren Ratlosigkeit, als gerade in der immer stärkeren maschinellen und bürokratischen Abtrennung von der Natur, in der unersättlichen, künstlichen Zusammenballung immer größerer Massen, die kein Auge mehr wirklich überblickt, kein menschlicher Verstand natürlich mehr bewältigen kann?

[]

Quelle: Karl Alexander von Müller, „Die Geltung des Bauern in der Volksgemeinschaft“, in Vom alten zum neuen Deutschland. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1938, S. 244–46.

Karl Alexander von Müller, „Die Geltung des Bauern in der Volksgemeinschaft“ (1938), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-5162> [25.04.2024].