Kurzbeschreibung

Am 14. August 1949 hatten erstmals Parlamentswahlen in der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden. Am 15. September wird der CDU-Politiker Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag zum Kanzler einer liberal-bürgerlichen Koalitionsregierung aus CDU/CSU, FDP und DP gewählt. Eine Woche später macht Adenauer mit seinem Kabinett einen Antrittsbesuch bei der alliierten Hohen Kommission. Er erinnert in seiner Ansprache an die materielle und seelische Not der Jahre unmittelbar nach Kriegsende und an den Beginn des Wiederaufbaus mit alliierter Hilfe. Adenauer bekennt sich zu einer aktiven Europapolitik, die durch wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit den Frieden in Europa sichern soll. Erste Ansätze dazu waren mit dem Ruhrabkommen vom 28. April und der Gründung des Europa-Rates am 5. Mai 1949 bereits erfolgt. Schließlich mahnt Adenauer eine möglichst zurückhaltende Anwendung des am Tag seines Besuches in Kraft getretenen Besatzungsstatuts an und unterstreicht den deutschen Anspruch auf Souveränität symbolisch, indem er sich bei dem Empfang auf den für die Hohen Kommissare reservierten Teppich stellt.

Ansprache des Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, bei dem Empfang durch die Alliierten Hohen Kommissare (21. September 1949)

Quelle

Meine Herren Hohen Kommissare!

Ich habe die Ehre, Ihnen heute mit einigen Mitgliedern meines Kabinetts meinen Besuch zu machen und damit den ersten Kontakt zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und den drei Hohen Kommissaren herzustellen.

Mit dem Zusammentritt des Deutschen Bundestages, mit der Wahl des Bundespräsidenten, mit meiner Wahl zum Bundeskanzler und der Ernennung der Bundesminister hat ein neuer Abschnitt in der deutschen Geschichte der Nachkriegsjahre begonnen.

Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatte ein nahezu völlig zerstörtes Deutschland hinterlassen. Unsere Städte lagen in Trümmern. Die Wirtschaft war zum großen Teil zerbrochen. Jede staatliche Ordnung hatte aufgehört zu bestehen. Aber auch die Seele der Menschen hatte in einem Maße Schaden gelitten, daß es zweifelhaft erschien, ob eine Gesundung je wieder möglich sein würde. In den vier Jahren, die der Katastrophe des Jahres 1945 folgten, haben im großen und ganzen Legislative und Exekutive in den Ländern [der Zonen] der Besatzungsmächte gelegen. Nur schrittweise ist auf den verschiedenen Ebenen der Verwaltung und Gesetzgebung deutschen Stellen eine partielle Entscheidungsbefugnis wieder gewährt worden. Dankbaren Herzens stellen wir fest, daß in diesen schweren Jahren die deutsche Bevölkerung vor der Gefahr des Verhungerns dadurch bewahrt wurde, daß die Alliierten mit Lebensmittelsendungen halfen, für die damals entsprechende Gegenwerte aus dem deutschen Export noch nicht aufgebracht werden konnten. Diese wertvolle Hilfe hat den Beginn eines Wiederaufbaus ermöglicht.

Mit dem Aufbau der Organe der deutschen Bundesrepublik geht nunmehr ein großer Teil von Verantwortung und Entscheidungsbefugnis in deutsche Hände über. Noch sind wir allerdings nicht völlig frei, denn das Besatzungsstatut enthält wesentliche Beschränkungen. Wir werden das Unsere dazu tun, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die es den alliierten Mächten ermöglichen, das Statut in einer großzügigen und maßvollen Weise anzuwenden, weil nur auf diesem Wege das deutsche Volk wieder zur völligen Freiheit gelangen kann. Wir hoffen, daß die alliierten Mächte durch eine entsprechende Handhabung der im Statut gegebenen Revisionsklausel die weitere staatliche Entwicklung unseres Landes beschleunigen helfen.

Es ist der eindeutige Wille der neuen Bundesregierung, in erster Linie die großen sozialen Probleme in Angriff zu nehmen. Sie ist überzeugt, daß ein gesunder Staat sich nur dann entwickeln kann, wenn den einzelnen ein Minimum wirtschaftlicher Existenzfähigkeit garantiert ist. Ehe es nicht gelingt, den Treibsand der Millionen von Flüchtlingen durch ausreichenden Wohnungsbau und Schaffung entsprechender Arbeitsmöglichkeiten in festen Grund zu verwandeln, ist eine stabile innere Ordnung in Deutschland nicht gewährleistet. Unordnung und Krise in diesem Teil Europas bedeuten aber auch eine ernste Gefährdung der Sicherheit des gesamten Kontinents. Das soziale Programm der Bundesregierung soll deshalb gleichzeitig auch der Sicherheit einer friedlichen Entwicklung Europas dienen. Selbstverständlich werden wir alles daransetzen, um aus eigener Kraft diese Aufgaben zu bewältigen. Ich glaube aber schon heute zu der Auffassung berechtigt zu sein, daß das Vertriebenenproblem nicht allein ein nationales, sondern ein internationales Problem ist, das zu seiner Lösung der Hilfe der übrigen Welt bedarf. Die Bundesregierung würde es deshalb äußerst dankbar begrüßen, wenn die Hohen Kommissare sich bei ihren Regierungen dafür verwenden wollten, dieser Frage alsbald erhöhte Beachtung zu schenken.

Wenn wir eine Friedensordnung in Europa herstellen wollen, so kann das nach Auffassung der Bundesregierung nur dadurch geschehen, daß grundsätzlich neue Wege eingeschlagen werden. Wir sehen solche Wege in den Bestrebungen, die eine europäische Föderation zum Ziele haben, wie sie in Straßburg in ersten Ansätzen nunmehr verwirklicht worden sind. Wir glauben aber, daß eine solche Föderation nur dann Lebenskraft besitzt, wenn sie auf einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Völker beruht. Die aufgrund des Marshallplans ins Leben gerufene Organisation weist einen guten Weg. Deutschland ist gern bereit, hier in eigener Verantwortung mitzuwirken. Wir sehen einen weiteren Weg, der günstige Voraussetzungen für eine wirkliche, lebensfähige europäische Föderation schaffen könnte, auch darin, daß man die Regelung der Verhältnisse an der Ruhr aus ihrer Einseitigkeit löst und sie allmählich zu einer Keimzelle einer Ordnung werden läßt, die auch die Grundstoffindustrien der anderen europäischen Länder umfaßt. Wir sind gewiß, daß die enge nationalstaatliche Idee des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts heute als überwunden gelten muß. Aus ihr ist der Nationalismus erwachsen mit seiner Zersplitterung des europäischen Lebens. Wenn wir zurückfinden zu den Quellen unserer europäischen Kultur, die aus dem Christentum entspringen, muß es uns gelingen, die Einheit des europäischen Lebens auf allen Gebieten wiederherzustellen. Dies ist die allein wirksame Garantie für die Erhaltung des Friedens.

Quelle: AP-Meldung (21. September 1949); abgedruckt in Dokumente zur Deutschlandpolitik, herausgeben vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs, II. Reihe, Band 2, Die Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 7. September bis 31. Dezember 1949. Veröffentliche Dokumente, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters. München: R. Oldenbourg Verlag, 1996, S. 43–45.