Quelle
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Die staatliche Autorität ist weithin geschwunden. Die Nachkriegsschule mit den des öfteren gemaßregelten oder gelegentlich auch entlassenen Lehrern hat nur einen blassen Abglanz ihrer einstigen Autorität. In diese durch die verworrenen Nachkriegsverhältnisse erhöhten Gefahren nun fallen die entwicklungsbedingten und unabhängig von den besonderen Zeitumständen naturgegebenen Spannungen unserer 15–18jährigen Schuljugend. Die Verfrühung der Pubertät, wie sie schon seit Jahrzehnten durch die Verstädterung eingetreten war, ist inzwischen noch weiter fortgeschritten. Die Klassen bestehen infolge des großen Flüchtlingszustromes zu einem Teile aus zusammengewürfelten Schülern mit weit größeren Altersunterschieden als früher. Waren schon seit jeher die jüngeren Schüler durch die älteren, meist die Sitzlinge, die sich mit Vorliebe als Aufklärer in der Klasse betätigen, gefährdet, so ist das heute weit mehr der Fall. Wir können ohne Übertreibung sagen, in bezug auf das Geschlechtliche sind unsere Fünfzehnjährigen bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen heute Wissende.
Schon in ruhigen Zeiten steht dem im Erwachen gesteigerten Trieb eine unzureichende seelische Widerstandskraft gegenüber. Die traurigen Nachkriegsjahre, in denen Zucht und Ordnung, Anstand und Lauterkeit erschreckend niedrig im Kurs standen, tragen mit Schuld daran, daß so viele Jugendliche nach den ersten großen Erschütterungen bei der Entdeckung des geheimnisvollsten, mit Schuldgefühl verbundenen Körpererlebnisses immer seltener in Augenblicken ruhiger Besinnung die Sehnsucht verspüren, aus ihrem dunklen Gefängnis schuldverstrickter Leibesgebundenheit herauszukommen an das helle Licht, um die von ihnen zerstörte Welt mit gläubigem Vertrauen wiederaufzubauen. So viele fühlen sich in ihrer dumpfen und ungehemmten Triebergebenheit mit jederzeit erreichbarer Lustbefriedigung ziemlich wohl und unterdrücken etwa aufkommende Minderwertigkeitskomplexe. Was vor wenigen Jahrzehnten mehr für die Arbeiterjugend galt, bei der infolge der härteren Lebensbedingungen die Entwicklungsjahre derber und unsentimentaler als bei der Jugend des Bürgertums verliefen, das gilt heute, bedingt durch den verrohenden Einfluß des Krieges, weitgehend auch für die übrige Jugend: Der das bessere Ich im Menschen ansprechende Eros als seelische Komponente der Reifezeit schwingt heute weit weniger mit, als das vordem der Fall war.
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Wie kann nun geholfen werden? Es ist und bleibt ja die große Schwierigkeit, in diesem Alter an den Jugendlichen wirklich heranzukommen. Die Voraussetzung dafür, daß die Jungen sich dem Lehrer gegenüber aufschließen, ist eine unbedingte, auf natürlicher Autorität, Liebe und Anhänglichkeit begründete Disziplin.
Nach meinen Erfahrungen ist der Biologieunterricht für die Sexualerziehung ganz besonders geeignet.
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Die Jungen sind ja schon von der Straße aufgeklärt, sie stellen sich, wenn der Lehrer keine innere Fühlung mit ihnen gewinnt, nur so einfältig, als beträten sie Neuland. Die Frage lautet überhaupt nicht: Aufklären oder nicht? Es handelt sich vielmehr darum, dem jungen Menschen im gesamten Biologieunterricht Stück für Stück zu zeigen, daß Gott ihm mit seinem Leib ein Wunderwerk anvertraut hat, welches schändlich zu entweihen ebenso in unserer Macht steht wie die beglückende Erfüllung der lebensweiten Aufgabe, es zu adeln und als Tempel des Geistes ehrfürchtig und zuversichtlich zu hüten.
Neben dem Biologieunterricht ist besonders der Deutsch- und Religionsunterricht zu sexualpädagogischer Erziehung unserer Jugend geeignet. Namentlich unserer reiferen Jugend werden die ethischen Fächer in dieser Beziehung viel geben können, streben doch gegen Ende der Reifezeit allmählich Sexualität und Erotik zu versöhnender Harmonie zusammen. Von der Ordnung der ganzen Seele aus wird hier das Geschlechtsleben geschaut, seine Regelung vom Körper allein aus dagegen als unmöglich erkannt. Im Deutschunterricht der Oberstufe bietet Goethes Faust wohl mehr als jede andere Dichtung Gelegenheit, nicht nur die apollinischen Licht- und dionysischen Schattenseiten unserer schöpfergewollt dem Geschlechtlichen verhafteten Menschheit an der sich nicht zu wahrer Liebe durchzuringen vermögenden tragischen Gestalt des Dr. Faust herauszuarbeiten, sondern auch in die persönliche Sphäre der Schüler vorzustoßen.
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Beim Klassenbesuch eines Zoos wird der Sexualpädagoge die Affenkäfige besonders beachten. Bekanntlich lenken die offen zur Schau getragenen und nach menschlichen Begriffen häßlichen Genitalien der Affen stets die besondere Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Die einzelnen Schüler wissen sich weniger beobachtet als in der Schulstube und geben sich daher natürlicher. Ihr Verhalten beim Anblick der Affen ist bis zu einem gewissen Grade ein Kriterium für ihre sittliche Reife. Ein zynisches Lächeln, Augenzwinkern, Anstoßen und dgl., wie man es nicht selten selbst bei Erwachsenen antreffen kann, zeigt uns sogleich, wes Geistes Kind der Beschauer ist.
Ähnlich liegen die Dinge beim Besuch eines Kunstmuseums mit der Klasse. Das führt uns zu dem Problem der menschlichen Nacktheit. Es muß jeden Jugendlichen die Beobachtung nachdenklich stimmen, daß im Leben die menschliche Nacktheit streng gemieden, in der Kunst dagegen verherrlicht wird. Nur der ganz reife Mensch ist eben fähig, den nackten lebendigen Menschenleib in Reinheit zu schauen. Auch die Betrachtung einer Aktskulptur oder eines Aktbildes als reines Kunstwerk ohne sinnliche Nebengedanken setzt eine zuchtvolle Seele voraus. In seinem Kapitel „Das Beilager der Blumen“ faßt Carl Linné so treffend die im Vorangehenden kurz skizzierten Gegensätze in die Worte zusammen: „Die Genitalien der Pflanzen betrachten wir mit Vergnügen, die der Tiere mit Abscheu und unsere eigenen mit wundersamen Gedanken.“ Der reifere Schüler muß als Ergebnis der Sexualerziehung in der Lage sein, in dem menschlichen Leib mehr als nur etwas Körperhaftes zu sehen, er muß durch den Leib hindurch die Seele ahnen. Und dieses Vermögen führt ihn aus der niederen Sinnenlust hinaus in ein verklärendes Licht.
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(Hahn war von 1920 bis 1933 Leiter des Internats in Salem.)
Quelle: Die Höhere Schule (1951), Nr. 6; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945–1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: C.H. Beck, 1993, S. 296–98.