Kurzbeschreibung

In der Bundesrepublik Deutschland wird der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 als Beweis für das völlige Scheitern des kommunistischen Regimes in der DDR und den ungebrochenen Freiheits- und Einheitswillen der ostdeutschen Bevölkerung interpretiert. Die bundesdeutsche Journalistin Marion Gräfin Dönhoff sieht in dem Aufstand ein „Hoffnungszeichen“, das die deutsche Einheit wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt habe. Ihr Vorschlag, den 17. Juni zum Nationalfeiertag zu machen, wird bereits am 3. Juli 1953 vom Deutschen Bundestag umgesetzt. Der Tag wird bis zur deutschen Wiedervereinigung jährlich mit einer Gedenkveranstaltung im Parlament gewürdigt.

Marion Gräfin Dönhoff, „Steine gegen rote Panzer“ (25. Juni 1953)

Quelle

Am 17. Juni 1953 demonstrierten zehntausende Arbeiter in Ost-Berlin und anderen Städten der DDR gegen die SED-Führung. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen – und war doch ein Hoffnungszeichen

Als die Pariser am 14. Juli 1789 die Bastille stürmten, wobei sie 98 Tote zu beklagen hatten und 7 Gefangene befreiten, ahnten sie nicht, daß dieser Tag zum Symbol für die Französische Revolution werden würde. Er wurde es, obgleich alle wesentlichen Ereignisse: die Erklärung der Menschenrechte, die Ausarbeitung der neuen Verfassung, die Abschaffung der Monarchie zum Teil erst Jahre später erfolgten. Der 17. Juni 1953 wird einst und vielleicht nicht nur in die deutsche Geschichte eingehen als ein großer, ein symbolischer Tag. Er sollte bei uns jetzt schon zum Nationaltag des wiedervereinten Deutschland proklamiert werden. Denn an diesem 17. Juni hat sich etwas vollzogen, was wir alle für unmöglich hielten.

Hatte nicht schon Nietzsche gesagt: „Wer aber erst gelernt hat, vor der Macht der Geschichte den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein ›Ja‹ zu jeder Macht ... und bewegt seine Glieder in dem Takt, in dem irgendeine Macht am Faden zieht. “

Hatten wir nicht längst resigniert vor der Macht des totalitären Apparates, gegen den jede Auflehnung zwecklos sei? Hatten nicht viele jene Jugend für verloren angesehen, die im totalen Staat Hitlers geboren und im totalen Staat der SED herangewachsen war? Und nun?

Nun kam der 17. Juni. Am Morgen hatten ein paar Bauarbeiter in der Stalinallee in Berlin gegen die Erhöhung der Arbeitsnorm revoltiert. Spontan kam ein Protestmarsch zustande, ohne eigentliches Ziel zunächst und ohne jegliche Organisation. Hunderte stießen dazu, bald waren es Tausende, Zehntausende und mehr. Nach 24 Stunden stand Ost-Berlin im offenen Aufruhr, ohne Waffen, mit Steinen und Stangen gingen die Arbeiter gegen die russischen Panzer vor. In Leipzig brannten die Leuna-Werke, in Magdeburg wurde das Zuchthaus gestürmt ... Streik auf den Werften, Streik bei Zeiß-Jena, auf allen Bahnstrecken, in den Kohlen- und Uranbergwerken. Staatseigene Läden, Polizeistationen und Propagandabüros standen in Flammen. Die Volkspolizei ließ sich teilweise widerstandslos entwaffnen. Eine aus Magdeburg geflüchtete Arbeiterin berichtete über den Sturm der Magdeburger auf das Volkspolizeipräsidium. Die Volkspolizisten hätten die Tore geöffnet, ihre Waffen übergeben und die Uniformröcke ausgezogen. „Ich sah, wie Offiziere der Volkspolizei, die dem Vordringen der Arbeiter Widerstand entgegensetzten, aus den Fenstern des ersten Stocks geworfen und verprügelt wurden. “

Als Demonstration begann’s und ist eine Revolution geworden! Die erste wirkliche deutsche Revolution, ausgetragen von Arbeitern, die sich gegen das kommunistische Arbeiterparadies empörten, die unbewaffnet, mit bloßen Händen, der Volkspolizei und der Roten Armee gegenüberstanden und die jetzt den sowjetischen Funktionären ausgeliefert sind. Straße für Straße und Haus für Haus wird jetzt durchsucht nach Provokateuren und Personen, die sich nicht dort aufhalten, wo sie gemeldet sind.

Allein in Ost-Berlin befanden sich nach dem Aufstand mehrere tausend Personen in Haft, zum Teil in Schulen, die provisorisch in Gefängnisse umgewandelt worden sind. Sehr viele ganz junge sind dabei. In einer Liste von „überführten Provokateuren“, die das SED-Organ veröffentlichte, gehört die Mehrzahl den Jahrgängen von 1933 bis 1936 an. Das ist die Jugend, von der man uns glauben machen wollte, sie habe den Sinn für die Freiheit verloren.

Es ist Blut geflossen – vielleicht sehr viel Blut. Der Ausnahmezustand wurde verhängt, und dort, wo bisher die kommunistischen Bürgermeister herrschten, regieren wieder wie 1945 die Rotarmisten. Der Ostberliner Bürgermeister Ebert stellte fest: „Unsere sowjetischen Freunde haben durch ihr energisches und mit großer Umsicht geführtes Eingreifen uns und der Sache des Friedens einen großen Dienst geleistet.“ Das ist die einzige Stimme aus dem Kreise der „deutschen“ Regierungsfunktionäre, gegen die der Aufstand sich in erster Linie richtete. Also eine Revolution, die zu nichts geführt hat?

Nein, so ist es nicht. Diese Revolution hat im Gegenteil ein sehr wichtiges Ergebnis gehabt. Das, was der britischen Diplomatie und den amerikanischen Bemühungen nicht gelungen war, das haben die Berliner Arbeiter fertiggebracht: Sie haben am Vorabend der Vierer-Verhandlungen im Angesicht der ganzen Welt offenbar werden lassen, auf wie schwachen Füßen die Macht des Kreml und seiner Werkzeuge in Ostdeutschland (und vermutlich in allen Volksdemokratien) steht. Es ist deutlich geworden, daß dieses Gebiet, zu dessen Fürsprecher und Schutzpatron jene sich so gern aufwerfen, sie aus ganzem Herzen haßt und verachtet, ja, daß sie sich nicht einmal auf die Volkspolizei verlassen können. Es ist ferner offenbar geworden, daß mit dem richtigen Instinkt für die Schwächemomente des totalitären Regimes man selbst diesem schwere Schläge versetzen kann – ganz zu schweigen davon, daß dieses System in vollem Umfang: politisch, wirtschaftlich und psychologisch Schiffbruch erlitten hat. Und schließlich ist für alle noch eines ganz eindeutig klargeworden, daß nämlich jetzt die Einheit Deutschlands die wichtigste Etappe in der weiteren politischen Entwicklung sein muß.

Jener 17. Juni hat ein Bild enthüllt, das nicht mehr wegzuwischen ist: die strahlenden Gesichter jener Deutschen, die seit Jahren in Sorge und Knechtschaft lebten und die plötzlich, wie in einem Rausch, aufstanden, die fremden Plakate herunterrissen, die roten Fahnen verbrannten, freie Wahlen zur Wiedervereinigung forderten ... Und die nun wieder schweigend, von neuen Sorgen erfüllt, an ihre Arbeitsstätten wandern. Manch einem in der Bundesrepublik mag erst in diesen Tagen klargeworden sein, daß das, was dort drüben geschieht, uns alle angeht und nicht nur jene, die die Verhandlungen führen. Der 17. Juni hat unwiderlegbar bewiesen, daß die Einheit Deutschlands eine historische Notwendigkeit ist. Wir wissen jetzt, daß der Tag kommen wird, an dem Berlin wieder die deutsche Hauptstadt ist. Die ostdeutschen Arbeiter haben uns diesen Glauben wiedergegeben, und Glauben ist der höchste Grad der Gewißheit.

Einen Moment lang bestand die Frage, was wird die sowjetische Antwort sein, Fortsetzung des Kurswechsels oder verschärfter Terror? Die Entscheidung ist zugunsten des Kurswechsels gefallen. Hören wir die Erklärungen des Zentralorgans der SED nach jenen Ereignissen: Das Neue Deutschland schreibt am 18. Juni, „natürlich muß uns, der Partei der Arbeiterklasse, die gewichtige Frage zu denken geben, wie konnte es geschehen, daß nennenswerte Teile der Berliner Arbeiterschaft, der Berliner Werktätigen, unzweifelhaft ehrliche und gutwillige Menschen, von einer solchen Mißstimmung erfüllt waren, daß sie nicht bemerkten, wie sie von faschistischen Kräften ausgenutzt wurden? Hier liegen zweifellos schwerwiegende Versäumnisse unserer Partei vor. Sie wird viel besser lernen müssen, die Massen zu achten, auf ihr Wort zu hören, um ihr tägliches Leben besorgt zu sein.“

Am 22. Juni stellt das SED-Zentralkomitee abschließend eindeutig fest, „wenn Massen von Arbeitern die Partei mißverstehen, ist die Partei schuld, nicht der Arbeiter.“ Unter dem Vorsitz von Ministerpräsident Grotewohl wurden im weiteren Verfolg der Politik des „neuen Kurses“ der Bevölkerung eine Reihe von Zugeständnissen gemacht. Der Kreml will also weiter die Ostzone „anschlußfähig“ machen, weil er sie für die Neutralisierung Gesamtdeutschlands vertauschen will. Reimann hat dies in seiner Pressekonferenz in Bonn am 18. Juni – am Tage danach – sehr deutlich gesagt, indem er noch einmal, fast wörtlich, jenen Passus zitierte, der sich wie ein roter Faden als Hauptforderung durch die vier sowjetischen Noten des vorigen Jahres hindurchzog. Grundsatz des Friedensvertrages müsse sein, so sagte er, „Deutschland wird keinerlei Militärbündnisse oder Koalitionen eingehen, die sich gegen Staaten richten, die im Krieg gegen Deutschland standen“.

Es muß schlecht um Moskau bestellt sein, wenn es um der potentiellen EVG willen die Berliner Schlappe – die nicht ohne Rückwirkungen auf die Satellitenstaaten bleiben dürfte – einzustecken bereit ist. Wir aber wissen, wie rasch in der vorigen Woche die sowjetischen Nachschubdivisionen über die Oder geworfen wurden. Das wird uns eine Warnung sein. Gesamtdeutschland soll nicht, wie die Deutschen der Ostzone, eines Tages genötigt sein, sich mit Steinen gegen die roten Panzer zu verteidigen.

Quelle: Marion Gräfin Dönhoff, „Steine gegen rote Panzer“, Die Zeit, 25. Juni 1953