Kurzbeschreibung

In seinem Aktionsprogramm rief der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zur Senkung der Arbeitslosigkeit und Hebung der sozialen Gerechtigkeit auf und schlug als Maßnahmen öffentliche Defizitfinanzierung, Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung von Arbeitsplätzen sowie eine Verbesserung der Jobzentren vor.

Deutsche Gewerkschaften stellen sich gegen den Abbau des Sozialstaates (5. März 1997)

Quelle

Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit

Das Aktionsprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes

Dieses Aktionsprogramm ist die Plattform für das Handeln des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften in den nächsten Jahren.

Zentrale Herausforderung bleibt für uns die Halbierung der erfaßten Arbeitslosigkeit bis zur Jahrtausendwende. An diesem Ziel halten wir fest. Die Schaffung von mindestens 2 Millionen Arbeitsplätzen innerhalb von 4 Jahren bei leistungsgerechten Einkommen und menschengerechten Arbeitsbedingungen ist nötig und möglich. Neue Arbeitsplätze müssen Frauen und Männern gleichermaßen zur Verfügung stehen.

Die Halbierung der Arbeitslosigkeit ist jedoch nicht erreichbar mit Mitteln einer neokonservativen Restaurationspolitik, mit der bisherigen Politik der Bundesregierung.

Sie ist machbar im Rahmen einer sozialökologischen Reformstrategie, welche die Schaffung von attraktiver Arbeit und der gerechten Verteilung vorhandener Arbeit gleichermaßen Vorrang einräumt. Sie ist erreichbar durch eine andere Politik, die eine entschlossene Offensive für Zukunftsinvestitionen in der Bundesrepublik und Europa zusammenfügt mit einer wirkungsvollen Initiative für die Verkürzung der individuellen und kollektiven Arbeitszeit.

Wir wollen Arbeitslosigkeit bekämpfen und soziale Gerechtigkeit herstellen.

Das ist das Ziel dieses Aktionsprogramms.

I. Arbeit schaffen - Arbeit teilen

1. Soziale und ökologische Reformen durchsetzen

Neue Arbeitsplätze entstehen vor allem durch Investitionen und Innovationen. Wir setzen uns für soziale und ökologische Reformen ein, um neue Beschäftigungsfelder vor allem im Umweltbereich, in den Verkehrssystemen, der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien, in Industrie und Dienstleistungen zu erschließen.

Wir fordern:

- Die Stärkung der Binnennachfrage durch eine gerechte Einkommens- und Vermögenspolitik und durch Investitionsprogramme für ökologisches Bauen, den Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur und zukunftsfähiger Verkehrssysteme.

- Eine dialogorientierte Industrie- und Dienstleistungspolitik, die Wachstumsindustrien fördert und die notwendigen Rahmenbedingungen schafft, um bestehende Industrien ökologisch und sozialverträglich weiterentwickeln zu können.

- Eine technologiepolitische Offensive vor allem durch Aufstockung der Haushaltsmittel für Forschung und Technologie auf 4 % des Bundeshaushaltes, um öffentliche und private Forschung zu fördern. Der Forschungstransfer muß verbessert und beschleunigt werden.

- Eine innovationsorientierte Modernisierungs- und Wachstumsinitiative aller EU-Mitgliedsstaaten im Sinne des Weißbuchs der Europäischen Kommission in Höhe von jeweils 0,8 % des Bruttoinlandsprodukts der EU-Mitgliedsstaaten.

- Den Aufbau einer Kreislaufwirtschaft, die auf Langlebigkeit der Produkte und Schonung der Ressourcen setzt.

- Ökologisch verbindliche Selbstverpflichtungen der Unternehmen sowie die Weiterentwicklung des Ordnungsrechts und eine sozialökologische Umgestaltung unseres Steuer- und Abgabensystems.

- Die Weiterentwicklung der regionalen Strukturpolitik. Dazu sollen Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften sich auf Leitbilder einer sozial verantwortlichen und umweltverträglichen Entwicklung in der Region verständigen.

- Die Modernisierung und Entwicklung der öffentlichen Infrastruktur und Daseinsvorsorge, um öffentliche Dienste sowohl leistungs- und wettbewerbsfähiger zu machen, als auch das Angebot für die Bürgerinnen und Bürger zu verbessern.

Sozialökologische Reformen müssen umgesetzt und wirksam werden. Die schwierige Situation in den neuen Bundesländern erfordert besondere Impulse. Darum engagieren wir uns für eine gemeinsame Initiative Aufbau Ost.

2. Arbeitszeit verkürzen und mehr Zeitsouveränität schaffen

Um das vorhandene Arbeitsvolumen gerecht zu verteilen und damit Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, wollen die DGB-Gewerkschaften weitere Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen. Wir wollen mehr Zeitsouveränität für Beschäftigte erreichen. Arbeit und individuelle Lebensplanung können dann besser in Einklang gebracht werden.

Wir setzen uns dafür ein:

- Die individuelle Arbeitszeit in vielfältigen Formen zu verkürzen. Dazu gehören auch weitere kollektive Arbeitszeitverkürzungen. Die 35-Stunden-Woche muß gesamtwirtschaftlich verwirklicht werden. Perspektivisch müssen wir weitergehende individuelle wie kollektive Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen, ohne die Existenz unterer und mittlerer Einkommensbezieher zu gefährden. Dazu brauchen wir neue Wege.

- Arbeitszeitverlängerungen zu verhindern;

- Überstunden abzubauen und unvermeidbare Mehrarbeit mit Freizeit auszugleichen. Wir streben gesicherte Jahres- und Lebensarbeitszeitkonten an, die den Beschäftigten mehr Zeitsouveränität geben sollen.

- Vollzeitarbeit mit Teilzeit-, Erziehungs- und Bildungszeiten zu verknüpfen, um Erwerbs- und Nicht-Erwerbsarbeit für Frauen und Männer besser vereinbaren zu können.

- Mehr sozialversicherungspflichtige Teilzeit entsprechend den Bedürfnissen von Männern und Frauen anzubieten.

- Neue Formen der Verkürzung der Lebensarbeitszeit über die Altersteilzeit zu entwickeln und umzusetzen.

Generelle Teilzeitregelungen dürfen nur im Einvernehmen mit den Gewerkschaften getroffen werden.

3. Aus- und Weiterbildung sichern und modernisieren

Wir setzen uns ein für den Erhalt und die Weiterentwicklung des dualen Ausbildungssystems.

Das Angebot an zukunftsträchtigen Ausbildungsplätzen muß der Nachfrage entsprechen und gleichermaßen für junge Frauen und Männer zur Verfügung stehen. Das Defizit an betrieblichen Ausbildungsplätzen muß beseitigt werden. Aus-, Fort- und Weiterbildung müssen miteinander verknüpft und modernisiert werden.

Dazu werden DGB und Gewerkschaften Druck auf private und öffentliche Arbeitgeber ausüben und alle Möglichkeiten der betrieblichen Interessenvertretung, der Tarifpolitik und in der regionalen Strukturpolitik nutzen.

Wir setzen uns ein für:

- Einen überbetrieblichen Lastenausgleich zwischen ausbildenden und nichtausbildenden Betrieben durch eine solidarische Ausbildungsfinanzierung, u.a. durch eine gesetzliche Umlagefinanzierung.

- Die Verknüpfung von Arbeit, Aus - und Weiterbildung, um eine adäquate Ausbildung für alle zu ermöglichen. Jugendliche ohne Berufsausbildung und angelernt Beschäftigte sollen dadurch mehr Möglichkeiten für eine vollwertige Qualifikation erhalten.

- Die Weiterentwicklung von Berufsbildern und die Schaffung neuer Ausbildungsberufe.

- Ein Weiterbildungsrahmengesetz, das öffentliche Verantwortung für Weiterbildung sichert und verstärkt und vor allem gering qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch in Zukunft eine faire Chance auf dem Arbeitsmarkt sichert.

- Eine Weiterbildungsoffensive in den Unternehmen, um die notwendigen Qualifikationen für die Informations- und Dienstleistungsgesellschaft zu vermitteln.

- Die Gleichwertigkeit von beruflicher, allgemeiner und politischer Bildung und die Durchlässigkeit von Bildungsgängen.

- Eine Studienreform, mit der Hochschulstudium und berufliche Perspektive verbunden werden können.

4. Öffentlich geförderte Beschäftigung durch aktive Arbeitsmarktpolitik stabilisieren

Öffentlich geförderte Beschäftigung bleibt unverzichtbar. Sie darf nicht zu einem Sektor 2. Klasse verkommen, in dem die Tarifautonomie außer Kraft gesetzt und arbeitsrechtliche Schutzvorschriften abgebaut werden.

Die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik müssen weiterentwickelt werden.

Dazu gehören vor allem:

- betriebsnahe Instrumente zur Vermeidung drohender Arbeitslosigkeit und sozialverträglicher Gestaltung des betrieblichen Strukturwandels (Qualifikationsförderung mit Kurzarbeitergeld usw.),

- verstärkte Anreize zur beruflichen Qualifizierung und Weiterbildung u.a. durch Verbindung von Teilzeit und Qualifikation,

- spezielle Programme für Langzeitarbeitslose vor allem auf kommunaler Ebene, die durch den flexiblen Einsatz der Förderinstrumente und die Kombination mit kommunaler Beschäftigungsförderung neue Perspektiven eröffnen,

- ein Rechtsanspruch für arbeitslose Jugendliche auf Arbeitsförderungsmaßnahmen,

- die Einbeziehung von Sozialhilfeempfängern in Arbeitsförderungsmaßnahmen der Arbeitsämter, die aus Steuermitteln bezahlt werden müssen,

- die besondere Berücksichtigung der Frauen bei Qualifizierung und Arbeitsbeschaffung,

- der Ausschluß der Vermittlung Arbeitsloser in tarifwidrige Arbeitsverhältnisse sowie die wirksame Bekämpfung der illegalen Beschäftigung und der illegalen Leiharbeit.

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V. Unser Weg

Das Bündnis für Arbeit ist an dem fehlenden Willen der Bundesregierung zur beschäftigungspolitischen Initiative und an der Konfrontationsstrategie der Spitzenverbände der Arbeitgeber gescheitert. Darauf haben die Gewerkschaften mit der Kampagne für Arbeit und soziale Gerechtigkeit geantwortet. Darauf bauen wir bei der Durchsetzung unseres Aktionsprogramms auf.

Die Rekordarbeitslosigkeit zeigt, daß die bisherige Politik dieser Bundesregierung falsch ist. Ihr Kurs in der Wirtschafts- und Finanzpolitik hat unser Land in eine dramatische Beschäftigungskrise geführt. Deshalb ist ein Politikwechsel dringend geboten.

Staatlich verordnetem Sozialabbau und Angriffen auf die Tarifautonomie durch die Koalition und die Spitzenverbände der Arbeitgeber haben hunderttausende Menschen Widerstand entgegengesetzt. Eine Politik, die sozial ungerecht und beschäftigungspolitisch verantwortungslos ist, hat in diesem Lande keine Mehrheit.

Wir wollen unsere Kampagne für Arbeit und soziale Gerechtigkeit fortführen. Wir werden die soziale Bewegung erneuern und erweitern, die am 15. Juni 1996 in Bonn Signal zum Protest gegen eine arbeitnehmerfeindliche Politik und für eine sozialökologische Reformpolitik gegeben hat.

Wir setzen auf die Mobilisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die gesellschaftliche Solidarisierung, die weit über die Gewerkschaften hinausgehen muß.

Wir fordern von den Arbeitgebern und von der Politik die Verantwortung und die Verpflichtung für neue Arbeitsplätze und soziale Gerechtigkeit ein. Wir wollen ein entschlossenes und, wo möglich, gemeinsames und zielgerichtetes Handeln, damit die Beschäftigungskrise überwunden und die sozialstaatliche Demokratie gesichert werden können.

Wir vertrauen auf die Überzeugungskraft unserer Argumente. Wir setzen auf die Gestaltungskraft der solidarischen Aktion.

Die Zukunft unseres Landes entscheidet sich nicht nur an Wahltagen, sondern auch im betrieblichen und gesellschaftlichen Alltag. Es kommt entscheidend darauf an, daß es den Gewerkschaften gelingt, auch künftig Menschen für ihre Ziele zu gewinnen und zu mobilisieren.

Wir fordern alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf, sich in den Gewerkschaften zu organisieren und zu engagieren.

Wir werden uns vermehrt um Bündnispartner bemühen, denen wir im Kampf um die Grundwerte von Demokratie und Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit verbunden sind.

Wir wollen gemeinsam für Arbeit und soziale Gerechtigkeit streiten.

Quelle: DGB Aktionsprogramm, „Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, www.dgb.de, 5. März 1997.