Kurzbeschreibung

In seiner ersten Regierungserklärung spricht Helmut Kohl nicht nur von einer wirtschaftlichen, sondern auch von einer geistig-politischen Krise, die eine neue „Koalition der Mitte“ zwischen CDU/CSU und FDP notwendig mache. Das vorgeschlagene Dringlichkeitsprogramm verspricht neue Arbeitsplätze, eine Sicherung des sozialen Netzes, eine menschliche Einwanderungspolitik und eine Erneuerung der Grundlagen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.

Koalition der Mitte (13. Oktober 1982)

  • Helmut Kohl

Quelle

„Koalition der Mitte: Für eine Politik der Erneuerung.“ Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 13. Oktober 1982 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalition der Mitte, zu der sich CDU, CSU und FDP zusammengeschlossen haben, beginnt ihre Arbeit in der schwersten Wirtschaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Diese Krise hat das Vertrauen vieler Menschen, vieler Mitbürger in die Handlungsfähigkeit unseres Staates erschüttert. Diese neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich die alte, die bisherige Regierung als unfähig erwies, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheit zu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen.

Spätestens seit dem Münchner Parteitag der SPD wurde immer deutlicher, daß sich die Wege der bisherigen Koalitionspartner trennten. In drängenden Fragen der Innen- und der Außenpolitik ließ die SPD ihren eigenen Regierungschef im Stich. Bundeskanzler Schmidt verlor seine Mehrheit.

Die Freie Demokratische Partei hat sich, wie wir alle wissen und auch gerade in der Auseinandersetzung in diesem Plenarsaal miterlebt haben, ihre Entscheidung nicht leichtgemacht. Im Interesse unseres Landes hat sie, wie die Verfassung es will, eine neue Regierung ermöglicht. Diese Koalition der Mitte wird unser Land aus der Krise führen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Stunde hat unser Volk ein Recht auf Wahrheit, die Wahrheit über das, was getan worden ist, und die Wahrheit über das, was getan werden muß. Wie ist die Lage der Bundesrepublik Deutschland? Wir erleben zur Zeit eine Arbeitslosigkeit, die schlimmer ist als jene in den Jahren des Wiederaufbaus. Fast jeder vierzehnte Erwerbstätige in der Bundesrepublik ist arbeitslos. Im Winter können fast 2,5 Millionen Menschen arbeitslos sein. Noch mehr Mitbürger bangen um ihren Arbeitsplatz. Nach zweijähriger Stagnation geht die gesamtwirtschaftliche Produktion seit Monaten zurück. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es so viele Firmenzusammenbrüche gegeben wie in diesem Jahr, und noch nie sind so viele selbständige Existenzen vernichtet worden. Allein dadurch sind in den letzten Jahren rund 500.000 Arbeitsplätze vernichtet worden. In diesem Jahr wird dieser traurige Rekord an Konkursen noch einmal überboten werden. 15.000, vielleicht noch mehr Unternehmen müssen Konkurs anmelden. Damit gehen noch einmal weit über 100.000 Arbeitsplätze verloren. Was das Schlimmste ist: Fast 200.000 Jugendliche sind arbeitslos. Viele finden keinen Ausbildungsplatz und sind damit nicht nur ohne Arbeit, sondern auch ohne Chance, sich beruflich zu qualifizieren.

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Die Ideologien der Macher und Heilsbringer haben den Wirklichkeitssinn im Lande nicht geschärft, die Selbstverantwortung nicht gestärkt und die geistigen Herausforderungen der Zeit verkannt. Wir brauchen wieder die Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes. Die Frage der Zukunft lautet nicht, wieviel mehr der Staat für seine Bürger tun kann. Die Frage der Zukunft lautet, wie sich Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung neu entfalten können. Auf dieser Idee gründet die Koalition der Mitte. Zu viele haben zu lange auf Kosten anderer gelebt: der Staat auf Kosten der Bürger, Bürger auf Kosten von Mitbürgern und – wir sollten es ehrlich sagen – wir alle auf Kosten der nachwachsenden Generationen.

Es ist jetzt auch ein Gebot des sozialen Friedens und der sozialen Gerechtigkeit, daß wir der Ehrlichkeit, der Leistung und der Selbstverantwortung eine neue Chance geben. Meine Damen und Herren, erneut bilden CDU/CSU und FDP eine Koalition der Mitte, um einen historischen Neuanfang zu setzen.

Was 1949 gelang, unter schweren seelischen Wunden und materiellen Lasten, das ist auch heute möglich und notwendig. Die Verbindung des sozialen, des christlichen und des liberalen Gedankens war das prägende Merkmal einer Epoche, die zu Recht als die erfolgreichste Ära der deutschen Nachkriegspolitik gilt. Ich zitiere einen liberalen Mitstreiter jener Zeit, Thomas Dehler, der sagte: „Die liberale Idee vom Menschen ist tief verbunden mit der christlichen Wahrheit. Der Mensch hat seine Würde als Ebenbild Gottes, als Träger einer unsterblichen Seele, als einmalige unverwechselbare Persönlichkeit. Diese Würde im irdischen Leben zu wahren, ist liberale Verpflichtung.“

Auf die freie Zustimmung seiner Bürger wurde unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, gegründet. Konrad Adenauer führte vor über 30 Jahren die Deutschen in die Gemeinschaft der freien Völker des Westens und baute darauf die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Es gelang die Aussöhnung mit Frankreich und mit dem Volk und dem Staat Israel. Wir wurden ein geachteter Partner im Bündnis des Westens.

Die Soziale Marktwirtschaft war ein schöpferisches Werk. Sie bedeutet nicht allein Wohlstand. Sie begründet eine soziale Friedensordnung, die auch heute noch in vielen Ländern der Welt als vorbildlich gilt. Wir haben in diesen Jahren das Prinzip der Solidarität verwirklicht: durch dynamische Rente und Mitbestimmung, durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, durch das Betriebsverfassungsgesetz und durch Vermögensbildung.

Zwölf Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge haben in jenen Jahren die Bundesrepublik Deutschland mit aufgebaut. Es wuchsen Vertrauen in den Rechtsstaat, demokratisches Selbstbewußtsein, eine neue politische Kultur. In einer spannungsreichen Epoche gewann die Bundesrepublik innere Stabilität und das Vertrauen ihrer Nachbarn. Die Deutschen lernten wieder – um mit Ernst Bloch zu sprechen – die Würde des aufrechten Gangs. Meine Damen und Herren, auf diesem Erbe dürfen wir aufbauen und aus diesem Erbe ziehen wir auch die Kraft, das für heute Notwendige zu tun. Was wollen wir heute? Was muß jetzt und heute getan werden?

Unser Dringlichkeitsprogramm konzentriert sich auf vier Schwerpunkte: Erstens. Wir wollen neue Arbeitsplätze schaffen. Zweitens. Wir wollen das soziale Netz sichern. Drittens. Wir wollen eine menschliche Ausländerpolitik verwirklichen. Viertens. Wir wollen die Grundlagen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erneuern. Wir wollen vor allem Arbeitsplätze schaffen und erhalten, indem wir zuerst die privaten und die öffentlichen Investitionen anregen. Dazu braucht die Wirtschaft eine Zukunftsperspektive, die frei ist von unnötigen Belastungen, Verunsicherungen und bürokratischen Auflagen durch den Staat. In den öffentlichen Haushalten müssen die Gewichte stärker von der konsumtiven zu mehr zukunftsorientierter Verwendung verlagert werden. Dies gilt sowohl für die Ausgaben- wie für die Einnahmenseite.

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Quelle: „Koalition der Mitte: Für eine Politik der Erneuerung“, Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 13. Oktober 1982 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn, in Bulletin (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung), Nr. 93, 14. Oktober 1983, S. 853 ff; abgedruckt in Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 121. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Oktober 1982. Online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/09/09121.pdf