Kurzbeschreibung

1947 führten die britischen Besatzungsbehörden mit Unterstützung der Gewerkschaften, aber gegen den Widerstand der westdeutschen Montanindustrie, im Ruhrgebiet die paritätische Mitbestimmung ein, die ein neues Machtgleichgewicht zwischen Eigentümern und Managern auf der einen und den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern und Angestellten auf der anderen Seite schuf. In den Aufsichtsräten der Unternehmen erhielten die Arbeitnehmervertreter gleichwertige Sitze wie die Anteilseigner unter dem „neutralen“ Vorsitz. Außerdem wurde ein von der Belegschaft benannter „Arbeitnehmerdirektor“ mit gleichem Stimmrecht und dem Auftrag, sich um soziale Belange zu kümmern, in den Vorstand berufen. Die Aktionäre und Manager, die immer noch unter dem Befehl standen, große Konzerne wie die Vereinigten Stahlwerke und die I.G. Farben zu zerschlagen und zu dekonzentrieren, waren zu geschwächt, um sich dieser Neuerung zu widersetzen. Doch mit der Gründung der (halb-) souveränen Bundesrepublik 1949 und der Wahl einer demokratisch-parlamentarischen Regierung in Bonn unter Bundeskanzler Konrad Adenauer sollten die alliierten Dekrete, auf denen die Mitbestimmung beruhte, durch deutsche Gesetze ersetzt werden. Dies führte unmittelbar zu Forderungen der Arbeitgeber, die Mitbestimmung in der Montanindustrie abzuschaffen, während die Gewerkschaften begannen, auf die Ausweitung des paritätischen Modells auf alle Unternehmen zu drängen. In den Hattenheimer Gesprächen im Januar 1950 wurde der Versuch unternommen, eine Verhandlungslösung für die Neuordnung der Arbeitsbeziehungen zu erörtern, und in diesem Dokument wird Punkt für Punkt untersucht, was die beiden Seiten anstrebten und ob ein Kompromiss gefunden werden konnte. Die Entwicklung in den folgenden Monaten zeigte, dass die Arbeitgeber, die durch das Ende der alliierten Versuche, die Industrie zu reorganisieren, und durch das Wachstum von Erhards sozialer Marktwirtschaft erheblich gestärkt wurden, einen Machtkampf anstrebten. Im Herbst 1950 war der unternehmerische Druck, die „paritätische“ Mitbestimmung auszuhebeln, so stark geworden, dass die Gewerkschaften eine rote Linie zogen, die im nächsten Text zu finden ist.

Die Hattenheimer Gespräche (Januar 1950)

Quelle

Mitbestimmungsverhandlungen der Sozialpartner in Hattenheim, 9./10.1.1950.

Die Verhandlungen über das Mitbestimmungsrecht am 9. und 10.1. in Hattenheim lassen sich in den wichtigsten Punkten in den folgenden Sätzen zusammenfassen:

Die Verhandlungen wurden auf beiden Seiten in einer bemerkenswert sachlichen und harmonischen Atmosphäre geführt.

Beiderseits bestand Anerkenntnis der Notwendigkeit und der Bereitschaft, das Problem in seiner Totalität, d.h. sowohl in der betrieblichen wie in der außerbetrieblichen Ebene zu erörtern.

Beiderseits wurde betont der Wunsch zum Ausdruck gebracht, die sich hieraus ergebenden Probleme zwischen den unmittelbar Beteiligten sachlich zu lösen und damit eine Lösung in der rein politischen Ebene zu vermeiden.

Um diese gemeinsam erstrebte sachliche Lösung zu erreichen, bestand Übereinstimmung, daß jetzt und in Zukunft – „bis zum gemeinschaftlichen Widerruf“ die Öffentlichkeit nur durch gemeinsam aufgesetzte Berichte unterrichtet werden soll.

Es besteht Übereinstimmung über den engen Zusammenhang zwischen dem Mitbestimmungsrecht auf der betrieblichen Ebene und dem Mitbestimmungsrecht auf der außerbetrieblichen Ebene. Nach den Erklärungen der Gewerkschaften ist das Ausmaß der auf der überbetrieblichen Ebene eingeräumten Mitbestimmungsrechte von erheblicher Bedeutung für das Maß der Forderung auf Mitbestimmung in der betrieblichen Ebene.

In der überbetrieblichen Ebene besteht Übereinstimmung über ein gemeinschaftliches, etwa mit dem Namen „Bundeswirtschaftsrat“ zu umschreibendes Gremium für das Bundesgebiet, das lediglich aus Vertretern von Unternehmern und Arbeitnehmern zwecks gemeinsamer Beratungen von wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen zusammengesetzt sein soll. Die Gewerkschaften fordern einen regionalen und fachlichen Unterbau dieses Gremiums und stellen hierüber präzisierte Vorschläge in Aussicht. Von den Unternehmern sind hierzu Erklärungen nach Kenntnis der Einzelvorschläge der Gewerkschaften und nach Erörterung und Klärung dieser Fragen innerhalb sämtlicher beteiligter Unternehmerspitzenorganisationen vorbehalten worden.

In der Frage des betrieblichen Mitbestimmungsrechts wird von den Gewerkschaften grundsätzlich der Standpunkt vertreten, daß ein den Betriebsräten einzuräumendes Mitbestimmungsrecht nur in engem Kontakt mit den Gewerkschaften durchgeführt werden soll. Hierzu sind von den Unternehmern keine abschließenden Erklärungen abgegeben worden. Die Stellungnahme der Unternehmer zu dieser Frage bleibt zunächst noch im eigenen Lager zu klären.

Vorbehaltlich des Ausmaßes (s. auch Ziffer 5) erstreben die Gewerkschaften grundsätzlich ein Mitbestimmungsrecht im Betrieb sowohl in wirtschaftlichen wie in personellen und sozialen Fragen. Eine genaue Präzisierung von Art und Ausmaß eines solchen Mitbestimmungsrechtes ist von den Gewerkschaften in Hattenheim noch nicht erfolgt. Hinsichtlich des Mitbestimmungsrechts in wirtschaftlichen Fragen erklärten die Gewerkschaften, daß sich dieses Mitbestimmungsrecht nicht auf eine Einschaltung des Betriebsrates in die Leitungsbefugnisse des Betriebes beziehen solle. Keine „zweipolige Betriebsleitung“. Erstrebt wird ein Mitbestimmungs- bzw. Kontrollrecht „in grundsätzlich wichtigen wirtschaftlichen Fragen, Fragen der allgemeinen Linienführung des Betriebes, die für das Schicksal der beschäftigten Arbeitnehmer von besonderer Bedeutung sind“.

Meinungsverschiedenheiten zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat bei Durchführung eines solchen betrieblichen Mitbestimmungsrechtes in wirtschaftlichen Fragen sollen nach Ansicht der Gewerkschaften nicht durch außerbetriebliche Schiedsinstanzen, sondern durch die überbetrieblichen fachlichen Gewerkschaften als Unterbau eines Bundeswirtschaftsrates geschaffen werden.

Bei der Ausgestaltung des betrieblichen Mitbestimmungsrechts in wirtschaftlichen Fragen soll nach Ansicht der Gewerkschaften grundsätzlich unterschieden werden zwischen Großbetrieben, insbesondere Kapitalgesellschaften, und kleineren und mittleren Privatbetrieben. Eine Präzisierung von Vorschlägen, wie diese unterschiedliche Behandlung zwischen den einzelnen Betriebsgrößen und Betriebsarten erfolgen soll, ist gewerkschaftsseitig in Hattenheim nicht erklärt worden.

Unbeschadet des Wunsches nach einem betrieblichen Mitbestimmungsrecht in wirtschaftlichen Fragen wird von den Gewerkschaften eine laufende Information der Betriebsräte durch [die] Betriebsleitung über die wirtschaftlichen Vorgänge im Betrieb gefordert.

Die gegensätzliche Auffassung der Unternehmer gegenüber den gewerkschaftlichen Forderungen auf ein betriebliches Mitbestimmungsrecht in wirtschaftlichen Fragen ist von den Mitgliedern der Unternehmerkommission eindeutig unter ausführlicher Darlegung aller wirtschaftlichen, sozialen und wirtschaftsverfassungsmäßigen Gründen zum Ausdruck gebracht worden. Eine Annäherung der beiderseitig in dieser Frage voneinander abweichenden Auffassung wurde in Hattenheim nicht herbeigeführt. Die Besprechungen über das betriebliche Mitbestimmungsrecht in wirtschaftlichen Fragen wurden zurückgestellt und sollen später im Gesamtzusammenhang der Probleme fortgesetzt werden.

Eine genaue Präzisierung der Forderungen der Gewerkschaften nach einem betrieblichen Mitbestimmungsrecht in sozialen und personellen Fragen ist nicht erfolgt. Das Mitbestimmungsrecht in personellen Fragen soll sich beziehen auf die Einstellung und Entlassung von Arbeitnehmern sowie auf Fragen, die mit einer grundsätzlichen Veränderung des Arbeitsverhältnisses des einzelnen Arbeitnehmers Zusammenhängen. In sozialen Fragen soll das Mitbestimmungsrecht im Rahmen von zwischen Unternehmer und Betriebsrat abzuschließenden Betriebsvereinbarungen geregelt werden. Eine Einzelerörterung hierüber hat nicht stattgefunden.

Die Unternehmer haben die Erklärung abgegeben, daß sie „grundsätzlich bereit sind, auf dem personellen und sozialen betrieblichen Gebiet Mitbestimmungsrechte anzuerkennen, welche im Nichteinigungsfall die Entscheidung einer Schiedsinstanz notwendig machen“.

Die Gewerkschaften haben erklärt, daß sie diese Erklärung der Unternehmer „zustimmend zur Kenntnis nehmen und feststellen, daß damit die Voraussetzungen geschaffen sind, durch weitere Verhandlungen zu einer guten Lösung des Gesamtproblems der Gleichberechtigung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft zu kommen“.

Beide Parteien kamen überein, daß eine Kommission aus je sechs Vertretern der beiden Seiten gebildet werden soll, welche die Aufgabe erhält, Vorschläge für die Durchführung eines betrieblichen Mitbestimmungsrechts auf personellem und sozialem Gebiet auszuarbeiten. Die Kommission soll baldigst zusammentreten, sobald die in Aussicht gestellten Vorschläge der Gewerkschaften über den Gesamtumfang der geplanten Zusammenarbeit zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern vorliegen.

Damit sind beiderseitig Wunsch und Absicht zum Ausdruck gebracht worden, die Verhandlungen über das Mitbestimmungsrecht zwischen den beiden Parteien (s. Ziffer 3) fortzuführen.

gez. Dr. Raymond, gez. Dr. Erdmann

Quelle: Werner Bührer, Hrsg., Die Adenauer-Ära, die Bundesrepublik Deutschland 1949-1963. München: R. Piper, 1993, S. 89–92.