Kurzbeschreibung

In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels reflektiert der amerikanische Historiker Fritz Stern die positive Entwicklung der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund seiner eigenen Vertreibung während der NS-Diktatur.

Fritz Stern über die politische Entwicklung der Bundesrepublik (1999)

Quelle

Fritz Stern, Dankesrede

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Diese Feier ist die letzte in diesem Jahrhundert und die erste in der neuen Berliner Republik. Unvermeidlich stoßen wir auf Vergangenheit und Gegenwart: Sie sind untrennbar. Es gibt kein Ende der Geschichte, auch keinen Schlussstrich, keinen völlig neuen Anfang. Trotzdem begrüße ich die neu proklamierte Berliner Republik mit großem Vertrauen und mit kleinem Unbehagen. Die ersten 50 Jahre der Bundesrepublik rechtfertigen das Vertrauen. Das Unbehagen entspringt der Benennung: Warum müssen deutsche Demokratien durch Städte begrenzt oder identifiziert werden: Weimar, Bonn, Berlin. Damit wird die unerwünschte Diskontinuität nur unterstrichen. Warum nicht endlich eine deutsche Demokratie, wie so manche sie sich hier in der Paulskirche gewünscht und für die so viele später gekämpft haben? In seiner bewegenden Rede am 17. Juni 1988 hat der damalige Bundesverfassungsgerichtspräsident Roman Herzog den Wunsch nach „leisen Tönen“ geäußert, leisen Tönen für die deutsche Frage. Berlin ist für vieles bekannt, doch nicht gerade für leise Töne.

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Wir stehen am Ende des grausamsten Jahrhunderts in der Geschichte Europas – eine solche Vergangenheit vergeht nicht. Sie ist gegenwärtig in allen unseren Ländern, aus begreiflichen Gründen besonders stark in Deutschland. Mit Recht gibt es Mahnungen gegen Vergessen, diese Stimmen aber beschwören keine Schuld für die heutige Generation. Gefordert wird Verantwortung, verstärkt durch das Wissen um Fehler und Verbrechen in der Vergangenheit. Wir können aus der Vergangenheit lernen, auch dass der Gang der Geschichte offen ist, dass er von Menschen gestaltet wird. Der Glaube an historische Zwangsläufigkeit ist ein gefährlicher Irrtum. Er verführt zur Passivität.

In früheren Zeiten wurde das Geschichtsstudium als Eckpfeiler der Bildung betrachtet. Große Dramatiker brachten Historie auf die Bühne, und Historiker genossen so etwas wie ein Monopol für die Erzählung erforschter Vergangenheit. In einem waren sich Dramendichter und Historiker einig: Die Geschichte ist menschliches Drama, das Wissen um die Vergangenheit sollte das Leben bereichern und erklären.

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Historiker sind nicht mehr die Hauptverwalter der Vergangenheit; sie teilen die Verantwortung mit den Regisseuren neuer Medien, die jetzt die Vergangenheit – oft in notgedrungener Verkürzung und oft auch in vermeidbarer Verzerrung – in Beschlag nehmen. Auch hat sich die Zunft zurückgezogen in immer engere Spezialisierung, und schriftstellerische Ambitionen werden oft als nebensächlich abgestreift.

Was aber deutsche Historiker in kritischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in den letzten 40 Jahren erreicht haben ist bewundernswert. Wir haben heute ein sehr viel nuancierteres Bild der deutschen Vergangenheit als je vorher. Historikerstreit hat es und wird es immer geben: aber was erreicht wurde – die Verbindung mit der internationalen Forschung, der Einklang mit Fachkollegen im Ausland – , wird nicht leicht verloren gehen.

Wir leben heute im Zeichen einer Erinnerungskultur, in der die Erinnerungen Einzelner ebenso wie öffentliche ritualisierte Erinnerung einen wichtigen Platz einnehmen. In den 80er Jahren begann eine Welle von Erinnerungstagen, die die Schreckenszeiten ins Gedächtnis riefen; die Rede von Bundespräsident von Weizsäcker am 8. Mai 1985 war eines der eindrucksvollsten Plädoyers, der Opfer deutscher Gewalt zu gedenken. „Schonung unserer Gefühle durch uns selber oder durch andere hilft nicht weiter.“ Der Generationswechsel kommt hinzu: Die Menschen, die noch die volle Wucht extremer Zeiten erlebt haben, treten ab und wollen doch noch Zeugnis ablegen, auch stellvertretend für diejenigen, die als stumme Opfer aus dem Leben scheiden mussten. Die 100 Millionen Europäer, die in diesem Jahrhundert einem unnatürlichen Tode verfallen sind, bleiben in unserem Gedächtnis.

Neue Forschungen über Verstrickungen in bisher unvermuteten Bereichen deutschen und europäischen Lebens haben kritische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit verschärft. Viele unserer Länder befinden sich sowieso im Zuge eines historischen Revisionismus, das heißt, man befasst sich mit den dunklen Seiten der Vergangenheit, um das überlieferte, meist biedere Bild zu korrigieren.

Jeglicher Revisionismus bringt neue Entzweiung mit sich. Deutschland mit der größten Last hat am frühesten mit diesem Revisionismus angefangen; man muss hoffen, dass die schwer erkämpfte Offenheit bestehen bleibt. Deutsche Geschichte wird immer umstritten bleiben, und zwar die gesamte Geschichte und besonders die des Dritten Reichs, das weder Zufall noch historische Notwendigkeit, weder Ausnahme noch Ziel deutscher Geschichte war. Ein ausgewogenes Urteil über die eigene Vergangenheit zu gewinnen ist nicht leicht. Am Vorabend des Schweizer Nationalfeiertags hörte ich die Bundespräsidentin Ruth Dreyfus sagen, dass sie an ihr Land mit „Dankbarkeit und Schmerz“ denkt. Diese Worte empfand ich als einen neuen und überzeugenden Ton in der politischen Sprache Europas; sie beschreiben eine schwierige, aber notwendige Mischung der Gefühle.

Erinnerung und Historie sind verwandt und doch tief verschieden. Erinnerung klammert sich an symbolhaltiges Geschehen, ein Bild aus der Vergangenheit haftet in uns. Erinnerung mag mächtig und kann doch ungenau sein, sie hält uns wach, aber führt uns nur an die Schwelle von historischem Verständnis. Erinnerung ist keine erforschende Rekonstruktion der Vergangenheit. Es könnte sein, dass eine nur erinnerte Vergangenheit als Ersatz-Vergangenheit ein ahistorisches Zeitalter in ihrem Bann hält.

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Mein Anliegen, die Erinnerungen der Vergangenheit in ein breiteres, meist europäisches Geschichtsverständnis aufzuheben, entspricht der vergangenen Wirklichkeit wie der Notwendigkeit unserer Zukunft. Das Verlangen nach einer vergleichenden europäischen Geschichte ist alt und hat mit dem heutigen Brüssel wenig zu tun, obwohl einer der Ersten ihrer Befürworter der belgische Historiker Henri Pirenne war. Der Nestor der deutschen Geschichtsschreibung, Leopold von Ranke, hat in seinem 85. Lebensjahr angefangen, eine Universalgeschichte zu schreiben. Historiker, so wird behauptet, werden mit Alter und Erfahrung immer besser – vielleicht ein Trost für allzu stockende Entwicklung. Wir sollten früher als Ranke mit den neuen Aufgaben beginnen.

Der Nationalsozialismus lastet auf uns allen. Er vergeht nicht, und in einigen dunklen Ecken sieht man, dass der Reiz der reinen Volksgemeinschaft auch jetzt noch verlockend wirkt. Die Verbrechen sind in allgemeiner Erinnerung; die Frage „Wie war es möglich?“ wird nicht verjähren, und jegliches Ausweichen in „Normalität“ ist vergeblich. Der entfesselte Sadismus, mit dem das europäische Judentum vernichtet wurde, wird mit Recht als Zivilisationsbruch bezeichnet. Das geschah in der langen Nacht der organisierten Bestialität.

Ich habe oft und überall gesagt, dass jegliche Instrumentalisierung oder Trivialisierung der Vernichtung der Juden, jegliches Vergessen der Millionen anderer Opfer sich an den Opfern selbst vergeht. Man ehrt die Opfer eher mit dem Versuch, die Welt, der sie entrissen wurden und die meist mit ihnen zu Grunde ging, in historischer Forschung zu rekonstruieren und so im kollektiven Gedächtnis aufzuheben – und gerade dieser Aufgabe wird im heutigen Deutschland in bemerkenswerter Weise nachgegangen.

Unvermeidlich aber, dass Auschwitz für alle Zeiten als ein Ort deutscher Unmenschlichkeit, des unvorstellbar Bösen bleiben wird. In der für mich überzeugendsten und bewegendsten Darstellung, in Primo Levis „Ist das ein Mensch?“, verfasst als Warnung, dass, was einmal passiert ist, auch in Zukunft passieren könnte, gibt es eine Erinnerung an seinen ersten Tag in Auschwitz, die mir wie ein Mahnmal für alle Zeiten erscheint. Levi schildert den grauenvollen Transport im Viehwagen mit quälendem Durst und fährt fort: „... Durstig wie ich bin, sehe ich vor dem Fenster in Reichweite einen schönen Eiszapfen hängen. Ich öffne das Fenster und mache den Eiszapfen ab, doch gleich kommt ein großer und kräftiger Kerl, der draußen herumging, und reißt ihn mir mit Gewalt aus der Hand. ’Warum?‘ frage ich in meinem beschränkten Deutsch. ’Hier gibt es kein Warum‘, gibt er mir zur Antwort und treibt mich mit einem Stoß zurück.“

Dieses „Hier gibt es kein Warum“ ist die Verachtung alles Menschlichen, die verbale Vernichtung. Das „Warum“ ist die existenzielle Frage, die jeder Mensch an seinen Gott oder an sein Schicksal richtet. Verbietet man die Frage, verweigert man die Antwort – dann bescheinigt man dem Menschen sein Nicht-Sein, seine absolute Rechtlosigkeit. Hiob beschwört seinen Gott mit Fragen: „Warum tust du dich nicht von mir und lassest mich nicht, bis ich nur meinen Speichel schlinge? ... Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe, dass ich mir selbst eine Last bin?“

Für mich ist dieses Verweigern von „Warum“ der authentische Ausdruck des Totalitarismus, es enthüllt den tiefsten Sinn des Systems: die Negation der westlichen Zivilisation. Die Menschen werden der absoluten Willkür ausgesetzt. Das „Warum“ ist nicht nur existenzielle Urfrage, sondern auch die Grundlage jeglichen Rechtssystems; es erzeugt den Anfang des Denkens, den Anstoß zur Wissenschaft, zum fruchtbaren Argument. Die westliche Welt hat den Kampf gegen intolerante Orthodoxie bestanden, hat sich von der Inquisition befreit, und diese Offenheit und Freiheit, die mit dem uneingeschränkten „Warum“ beginnt, hat ihr den Vorsprung im geistigen und politischen Leben ermöglicht. Gerade diesen Fels der Menschlichkeit wollte der Totalitarismus zerstören. War der Nationalsozialismus nicht auch der Gräuel einer mörderischen Orthodoxie, einer bejubelten Inquisition in technologischer Vollkommenheit? Der Bolschewismus hat sich meist mit lügenhaften Antworten auf das „Warum“ begnügt.

Die Verweigerung des „Warum“ hat eine noch größere, allgemeinere Bedeutung für uns. Wir haben den Totalitarismus überwunden und damit den Feind verloren, der uns sozusagen automatisch unserer Tugend versicherte. Früher konnten wir uns begnügen mit dem Gefühl: Wir sind nicht wie diese. Heute sind andere Maßstäbe gefordert: Nehmen wir die Verpflichtung des „Warum“ ernst genug, als Recht der Mündigkeit, als Grundanspruch menschlicher Würde? Das In-Frage-Stellen sollte im familiären Bereich beginnen, mit der Ermutigung der Neugier von Kindern, im beruflichen Leben fortgesetzt werden und im politischen Leben einen Höhepunkt erreichen. Aber gerade hier gibt es in unseren Demokratien ein großes Defizit.

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Wir können ahnen, mit welchen Herausforderungen Europa in den nächsten Jahren konfrontiert werden wird; das neue Deutschland als das mächtigste Land in Europa wird besonders gefordert sein. Die Zeit, da man die Bundesrepublik als wirtschaftlichen Riesen und politischen Zwerg beschreiben konnte, ist längst vorbei – wobei ich mir nicht so sicher bin, ob nicht dieser politische Zwerg ein sorgsam verkleideter, erfolgreicher Jongleur war. Vor zehn Jahren habe ich von Deutschlands zweiter Chance gesprochen: Am Ende wie am Anfang des Jahrhunderts hat Deutschland die führende Stelle in Europa – am Anfang in einem weltbeherrschenden Europa, am Ende in einem durch deutsche Kriege relativ geschwächten Europa, aber innerlich befreit von den Bürgerkriegen, die seine moderne Geschichte gekennzeichnet haben. Ein Krieg zwischen europäischen Großmächten ist heute undenkbar – zum ersten Mal in der Geschichte. Das Vertrauen auf Frieden hat vieles in der europäischen Mentalität verändert. Alte Tugenden, wie zum Beispiel Opferbereitschaft – oft missbraucht in sinnlosem Militarismus –, sind verblasst. Gefordert ist Gemeinschaftssinn oder was die Franzosen civisme nennen, wie auch Zivilcourage, jenes Fremdwort im doppelten Sinne im deutschen Bereich. Ob und wie die zweite Chance genutzt werden wird, bleibt offen; ich will mich mit einer kurzen Wunschliste begnügen, mit Anliegen und Hoffnungen, die der Wahrnehmung der zweiten Chance dienen könnten.

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Es ist oft gesagt worden, dass man auch von den Erfahrungen der DDR hätte lernen können, dass die Wiedervereinigung auch Neubesinnung in den alten Ländern hätte erwecken können. Auch gibt es hervorragende, ja beneidenswerte Beispiele politischer Führung in den neuen Bundesländern; die Außenwelt hofft, dass sie Verständnis finden und Beistand bekommen in ihrem Kampf gegen Kriminalität, gegen antidemokratische Strömungen ganz gleich welcher Couleur. Ich weiß, dass es politische Kriminalität mit braunen Vorzeichen auch in Amerika gibt, dass die nationalsozialistische Rassenpropaganda jetzt aus Amerika nach Deutschland exportiert wird. Das Wort „Skinhead“ beweist ja, dass es sich um ein allgemeines Phänomen handelt, eine Kehrseite der offenen Gesellschaft.

Auch würde ich mir wünschen, dass das neue Deutschland trotz Schwierigkeiten und Enttäuschungen einen größeren Schuss von freudiger Dankbarkeit spüren würde, nicht nur für das Erreichte, das heißt für die erstmalige Festigung einer politischen Kultur in Freiheit, beschützt durch ein Grundgesetz, das allgemeine Akzeptanz gefunden hat. Auch Dankbarkeit für die Wiedervereinigung unter günstigsten Bedingungen. Nein, auch dankbare Anerkennung für diejenigen, die in der Zeit des Naziterrors ihren Anstand bewahrt, und für diejenigen, die im verzweifelten heroischen Widerstand ihr Leben geopfert haben – um der Nation ein moralisches Vermächtnis zu hinterlassen. Auch und besonders Anerkennung für die Hunderttausende von Bürgern in der ehemaligen DDR, die auf die Straßen gingen, um ihre Freiheit zu fordern – ohne zu wissen, ob ein harter Honecker-Kurs die Tragödie vom Tiananmen-Platz wiederholen würde.

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Ich würde mir für dieses Land eine gerechtere, liberale Streitkultur wünschen: offene Debatten um die heikelsten Probleme von Gegenwart und Vergangenheit, Diskussionen ohne Adhominem-Verdächtigungen, ohne verletzende, vage Andeutungen, wie es zum Beispiel im so genannten Historikerstreit passierte. Verschweigen ist gefährlich: Ressentiments nisten in der Gesellschaft, bleiben sie unausgesprochen, dringen sie noch tiefer. Es gibt viele Talkshows, in meinem Land zumindest erschöpfen sie sich meist in Oberflächlichkeit, Probleme werden zerredet.

Ein berühmter deutscher Philosoph soll sich beklagt haben, dass seine Lebensgefährtin so viel redet, dass er nicht zum Denken kommt. Worüber redet sie denn, wurde er gefragt. Das sagt sie nicht, war die Antwort. Das kann auch jedem Sonntagsredner passieren. Die politische Klasse hat viel an Glaubwürdigkeit verloren: Sie reden zu viel und sagen zu wenig. Sie vergessen, dass Bürger mündig und ansprechbar sind. Die Völker Osteuropas haben sich gegen ideologische Täuschung gewehrt, das Recht, „in der Wahrheit zu leben“, erkämpft. Es gab schon einmal ein Europa der Demokratien – unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg; sie zerbrachen sehr schnell. Die Lage heute ist viel günstiger, aber Vertrauen auf Immunität vor Gefahren wäre trügerisch. Die Utopien von gestern – Bolschewismus und Faschismus – waren Drogen des politischen Betäubens; die Privatisierung der Drogen ist kein Gewinn.

Die liberale Demokratie ist stets gefährdet. Selbst im Wohlstand taumeln wir von einer Finanzkrise in die andere, und niemand kann garantieren, dass der globalisierte freie Markt nicht eines Tages in eine Krise stürzt, die neues Elend verbreitet und zu falschen Heilmitteln wie Illiberalismus und Protektionismus führen könnte. Jegliche Form von Verunsicherung begünstigt Extremismus und Kriminalität; solche Zustände verleiten Menschen zum Glauben an die Notwendigkeit autoritärer Führung.

Ralf Dahrendorf hat mit Recht bemerkt, dass es „unsere Aufgabe ist, Wettbewerbsfähigkeit, sozialen Zusammenhalt und politische Freiheit in Einklang zu bringen“, eine Aufgabe, wie er schrieb, die der Quadratur des Kreises gleichkäme. Wenn Wettbewerbsnotwendigkeit sozialen Zusammenhalt weiter schwächt, dann ist auch die Freiheit in Gefahr. Das Ende des Jahrhunderts, das von Deutschland und Amerika unterschiedlich geprägt wurde, hat die Lage dieser Nation noch einmal dramatisch verändert. Die Selbstverständlichkeit deutscher Bereitschaft, einen vollgültigen Platz im Kosovo-Krieg einzunehmen, bedeutet Anerkennung neuer Verantwortungen innerhalb und außerhalb Deutschlands. Die Bundeswehr im Balkan zusammen mit den Einheiten ehemaliger Feinde besiegelt eine neue Ordnung. Deutsche Initiativen bei der Vermittlung von Frieden und deutsche Bemühungen um einen Stabilitätspakt im Südosten Europas sind weitere Beweise für den neuen Stand. Bei der Neugestaltung Europas, bei dem Ausbau europäischer Integration wird Deutschland eine immer größere Verantwortung tragen. Die neue Republik soll weiter der Hauptvertreter der Interessen der mitteleuropäischen Länder und ganz besonders der Interessen Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik bleiben: Die Vision Europa war für diese Nationen wegweisend, und trotz Schreckenserinnerungen haben sie sich für die Wiedervereinigung Deutschlands eingesetzt. Jetzt gilt es, ihnen die völlige Zugehörigkeit zu Europa so schnell wie möglich zu vermitteln. In Europa mag Führungsnot bestehen, weil Führungswille fehlt; die Rolle des Primus inter Pares wird an die neue Republik fallen – eine neue Verantwortung für deutsche Diplomatie.

Auch die Gestaltung deutsch-amerikanischer Beziehungen wird schwieriger werden. Es wäre leicht, sich in Pietät zu erschöpfen: auf alte Freundschaft und treue Dankbarkeit zu pochen und zu vergessen, dass es auch hier Zeiten des gegenseitigen Misstrauens und des Konfliktes gab. Am Anfang der Bonner Republik war Amerika Beschützer und Vorbild. Die jetzige Republik ist sehr viel weniger auf Amerika als Schutzmacht angewiesen, und das Vorbild ist verblasst. Es mag kurzfristig verlockend sein, in die alten anti-amerikanischen Klischees zu verfallen und das Schrumpfen der eigenen Identitätsgefühle der amerikanisch getriebenen Globalisierung vorzuwerfen. Aber Feindbilder sind nur bequeme Trotzigkeit. Die transatlantischen Beziehungen, nie ungetrübt, werden turbulenter werden; vielleicht wird Berlin die Rolle übernehmen müssen, die Bismarck einst für sich beanspruchte: den ehrlichen Makler zu spielen – wobei manche zweifelten, ob es so etwas überhaupt gibt.

Zwei Schlussbemerkungen. Ein besonderes Anliegen an die jüngere Generation: Wir Alten haben viel erlebt und einiges erreicht, aber wir hinterlassen weder eine heile noch eine helle Welt. Wir hatten ein Privileg, das wir gerne vererben würden: Wir hatten ein mehr oder weniger ungebrochenes Verhältnis zu den großen Denkern der Vergangenheit; das mag hochtrabend klingen, es soll nur ins Bewusstsein rufen, dass so viel menschliche Weisheit in den Gedanken der letzten Millennia steckt; ich wünsche der jüngeren Generation den Genuss dessen, was man, trotz allem, das europäische Kulturgut nennen darf. Flüchtet euch von Zeit zu Zeit auf die berühmte einsame Insel mit einem gut ausgewählten Buch: Es nährt Kopf und Seele wie sonst kaum etwas.

Sicher gibt es Momente im Leben, in denen das Gebot des „Warum“ seine Relevanz verliert. In Momenten physischer Gefahr mag Gehorsam rettende Notwendigkeit darstellen. In der Liebe gibt es oft kein „Warum“. Auch nicht bei einem Geschenk, wie es mir heute überreicht worden ist. Aber mein unerhofftes Glück, in der Paulskirche erscheinen zu dürfen, verlangt Nachdenken: Wie kam es eigentlich zu meiner immer stärkeren Verwicklung ins deutsche Nachkriegsleben? Rückblickend ist es mir klar, dass die Kindheit es vorbestimmt hat: Der Nationalsozialismus war das gefühlsbestimmende Lehrstück meiner politischen Erziehung. Ich schulde dieser Kindheit und der durch frühe Erlebnisse verkürzten Jugend einen wichtigen Teil des späteren Lebens. Durch den Nationalsozialismus entbrannte meine Liebe zur Freiheit als einem menschlichen Gut, als Vorbedingung aller anderen Güter. Heine hatte Recht: „Freiheitsliebe ist eine Kerkerblume“; ich wünschte trotzdem, sie könnte überall blühen.

Ich konnte mich von dem Drama der deutschen Geschichte nicht lossagen, es hat meine Arbeit mitbestimmt. Es war kein leichter Prozess, mein neues Engagement mit deutschen Dingen. Ich musste selbst eine Art »Denazifizierung« durchmachen, das heißt, die Überzeugung gewinnen, dass deutsche Geschichte nicht aus der Perspektive von 1945 allein beurteilt werden kann. Aber die Erinnerung an Menschen aus meiner Kindheit, die sich schon damals für ein freiheitliches Deutschland eingesetzt hatten, kam zu Hilfe. Der Aufbau des Nachkriegsdeutschlands kam nicht ex nihilo; mit Recht hat man sich auf alte, wenn auch schwache Traditionen berufen. Ich habe mich in den letzten Jahrzehnten immer mehr mit deutschen Dingen beschäftigt, aber auch Distanz gehalten – um Gefahren klarer zu sehen und gelegentlich vor ihnen zu warnen.

Deutsche Freunde haben mir diese Art geistigen Miterlebens ermöglicht, und so konnte ich den enttäuschten Träumen meiner Eltern treu bleiben. Und wenn ich hier nur einen Namen nennen darf, dann wäre es der von Marion Gräfin Dönhoff, deren Geschenk der Freundschaft für mich befreiend und lebensbestimmend ist; sie hat uns gezeigt, wie man persönlichen Verlust in einen unschätzbaren Gewinn für andere verwandeln kann, sie vermittelt Versöhnung mit preußischer Schlichtheit. Ich bin hiesigen und europäischen Freunden tief verpflichtet. Für mich bleibt das deutsch-amerikanische Verständnis ein Gebot der Geschichte, der Politik und des eigenen Lebens. Ich bin Bürger eines Landes, aber meine Liebe gehört zwei Sprachen, gleich gefährdet, einer alten Kultur, gleich vernachlässigt. Mein Dank gehört dem Land, in dem meine Kinder und Enkelkinder in Freiheit aufwachsen konnten, und dass ich diesen Dank klar empfinde, dass ich Freundschaft als lebenswichtiges Geschenk erlebe, das verdanke ich dem Land, das mich einst verstoßen hat und mit dem ich neu verbunden bin. Ich danke Ihnen.

Quelle: Fritz Stern, Dankesrede, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1999. Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Online verfügbar unter: https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/1990-1999/fritz-stern