Kurzbeschreibung

In diesem Bericht „zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“, den der Bundeskanzler vor dem Deutschen Bundestag abgibt, betont er den Anspruch aller Deutschen auf Freiheit und Selbstbestimmung und die Einheit der deutschen Nation, aber auch die Pflicht, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu verbessern, um so den Interessen der Bürger und dem Frieden in Europa zu dienen.

Freiheit als Kern der deutschen Frage (15. März 1984)

  • Helmut Kohl

Quelle

Bericht von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zur Lage der Nation im geteilten Deutschland

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute zur Lage der Nation. Zur Lage der Nation gehört als erstes die Feststellung, daß die deutsche Teilung bittere Wirklichkeit für die Deutschen ist. Wirklichkeit ist aber auch die Hoffnung, diese Teilung zu überwinden. Die Einheit der Nation ist und bleibt lebendig.

Zwischen den beiden Staaten in Deutschland gibt es einen intensiven Dialog, gibt es vielfältige Kontakte und konstruktive Zusammenarbeit auf zahlreichen Feldern. Seit dem letzten Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland hat sich das Geflecht der Beziehungen weiter verfestigt. Gerade in schwierigen Zeiten des Ost-West-Verhältnisses leisten die beiden Staaten einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung des Friedens, wenn wir alle unsere Möglichkeiten zur Zusammenarbeit aktiv nutzen.

Dieser Stand der innerdeutschen Beziehungen ist das Resultat zielstrebiger und besonnener Politik. Die Idee, die Ergebnisse und die Perspektiven dieser Politik hält der Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland in sechs Punkten fest.

Erstens. Die Freiheit ist der Kern der Deutschen Frage.

Der nationale Auftrag bleibt gültig und erfüllbar: in einem vereinten Europa in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

Unsere wichtigste rechtliche und moralische Position bleibt der Anspruch aller Deutschen auf Freiheit und Selbstbestimmung. Die Einheit der Nation soll und muß sich zuallererst in der Freiheit ihrer Menschen erfüllen.

Für uns hat die Bewahrung der Freiheit Vorrang vor allen anderen Zielen. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein freiheitlicher Staat. Die Bindung an die freiheitliche Demokratie gehört zu unseren Staatsgrundlagen. Die Entscheidung für die Europäische Gemeinschaft und die Atlantische Allianz ist das Fundament dieser Politik. Wir wissen, wohin wir gehören; wir wissen, wo wir stehen: auf der Seite der Freiheit. Mit den demokratischen Rechtsstaaten teilen wir unsere Grundwerte und unsere politische Kultur, eine im Miteinander und Gegeneinander in Jahrhunderten gewachsene Gemeinsamkeit.

Weil wir im freien Westen freie Menschen bleiben wollen, gibt es in dieser Frage für uns auch keinen Wankelmut: Aus leidvoller historischer Erfahrung der totalitären Herrschaft im Innern und der Gewalt nach außen haben wir gelernt, daß Freiheit, daß Menschenrechte und der Friede, den sie stiften, unsere erste Staatsbestimmung sind.

Unsere Freunde im Westen wissen, daß auf uns Verlaß ist. Aus geschichtlicher Erfahrung und gemeinsamem Werteverständnis und nicht zuletzt aus wohlverstandenem Eigeninteresse gehören sie und wir zusammen. Mit den Pariser Verträgen vor 30 Jahren haben wir unser Bekenntnis zur Bündnisgemeinschaft des freien Westens auf Dauer festgeschrieben. Und genauso haben sich die Drei Mächte, unsere wichtigsten Bündnispartner, auf das Ziel der Einheit Deutschlands in Freiheit dauerhaft verpflichtet.

Die Deutsche Frage bleibt offen: Das gilt politisch ebenso wie in rechtlicher Hinsicht. Für die Politik der Bundesregierung bleiben maßgebend und wegweisend die rechtlichen Grundlagen, die ich in meiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 im einzelnen genannt habe.

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Zweitens. Die deutsche Nation ist Wirklichkeit im Bewußtsein der Deutschen.

Geprägt durch eine vielhundertjährige gemeinsame geschichtliche Erfahrung im Herzen Europas, begreifen wir Deutsche ganz selbstverständlich die Einheit unserer Nation.

Der geschichtliche, der politische Wandel auf deutschem Boden hat das Bewußtsein nationaler Einheit nicht ausgelöscht. Wir im freien Teil unseres Vaterlandes stellen uns der ganzen Geschichte, mit ihren glanzvollen und mit ihren schrecklichen und düsteren Kapiteln. Und wir wissen, daß es gerade in diesem Jahrhundert die gemeinsame Erfahrung von Hochmut und Schuld, von Elend und Leiden ist, die alle Deutschen aneinander bindet und auch das Bewußtsein ihrer Einheit wachhält.

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Drittens. Es ist unsere Pflicht, die Folgen der Teilung für die Menschen erträglicher zu machen und weniger gefährlich.

Wir wollen zu praktischen Lösungen kommen, die den Menschen dienen. Auch damit erfüllen wir unsere nationale Verpflichtung. Aber natürlich darf dies nicht zu Lasten von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten gehen.

Wir sind uns der Vielschichtigkeit des innerdeutschen Verhältnisses bewußt. Dieses Verhältnis ist auch angesichts der politischen Entscheidungen der vergangenen Monate stabil geblieben. Es ist ein Gewinn für beide Seiten, ein Gewinn auch für unsere Verbündeten im Westen, und ich stelle dies mit Befriedigung fest.

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Viertens. Als einen Beitrag zum Frieden in Europa wollen wir die Beziehungen zur DDR vertiefen.

Wir stehen zu den abgeschlossenen Verträgen. Wir wollen das Geflecht der Beziehungen weiter verdichten.

Ich begrüße es – lassen Sie mich dies ausdrücklich sagen –, daß auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und ihre Fraktion dieser Politik zustimmen. Das breite Einvernehmen bei der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 9. Februar 1984 hat dies zum Ausdruck gebracht. – Ich weiß gar nicht, meine Damen und Herren, warum Sie hier jetzt Unruhe zeigen. Es müßte Sie doch erfreuen, daß hier ein Stück Gemeinsamkeit deutlich wird.

Wir wollen das Erreichte bewahren und ausbauen, wir wollen die Chancen des Grundlagenvertrags und der anderen innerdeutschen Verträge und Vereinbarungen nutzen.

Wir sind bereit, die Beziehungen zur DDR auf der Basis von Ausgewogenheit, Vertragstreue und Berechenbarkeit und mit dem Ziel praktischer, für die Menschen unmittelbar nützlicher Ergebnisse weiterzuentwickeln.

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Fünftens. Wir müssen Europa einigen, um auch für Deutschland die Einheit in Freiheit zu vollenden.

Als Land in der europäischen Mitte, im Brennpunkt des europäischen Mächtesystems wurde Deutschland immer wieder der Ort, an dem andere Staaten ihre Interessen miteinander austrugen, es gab dabei auch Phasen, in denen die Deutschen die Gefahr verdrängten, die in ihrer europäischen Mittellage begründet ist. Sie haben der Versuchung zu nationalen Sonderwegen nachgegeben und in jenen Tagen auf eine Politik der Hegemonie gesetzt. Wir alle wissen, daß damit unser Land gescheitert ist. Unsere Generation hat die Lektion aus dieser historischen Erfahrung gelernt. Kein deutscher Sonderweg kann unser Land aus der Mitte Europas herausführen. Im europäischen Rahmen müssen und wollen wir unsere Zukunft gestalten und auch als Friedenswerk die nationale Frage lösen.

Wir wissen um die europäische Dimension der deutschen Teilung, die wir nur mit Unterstützung durch die Völker, d. h. durch die Nachbarn in Europa überwinden können. Wir sind uns auch bewußt, welch große Verantwortung gerade unser Land als Stabilitätsfaktor in der Mitte Europas zu tragen hat. Niemand soll glauben, die Deutschen würden noch einmal ihre europäische Verantwortung mißachten. Von deutschem Boden muß Frieden ausgehen. Wir sind immun gegen jede Versuchung, unsere europäische Bindung abzustreifen, das gesamteuropäische Gleichgewicht zu ignorieren und die Überwindung der Teilung isoliert von unseren Nachbarn anzustreben.

Diese europäische Bindung hat aber noch eine andere Seite: Mit dem Anspruch der Deutschen auf freie Selbstbestimmung findet das geteilte Europa eine Kraft, die auch seiner Erneuerung und seiner Einigung dienen kann. Zugleich wissen alle Europäer, daß die Überwindung der Teilung Europas für Deutschland eine Friedensordnung voraussetzt, die vom ganzen deutschen Volk in freier Selbstbestimmung angenommen werden muß. Uns ist bewußt, meine Damen und Herren, daß der nationale Gedanke der Deutschen und die europäische Idee einander bedingen. Für uns sind Europapolitik und Deutschlandpolitik wie zwei Seiten einer Medaille. Motor für die Einigung Europas zu sein, dies ist Teil des nationalen Auftrags, Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an. Unsere freiheitliche politische Kultur braucht den europäischen Horizont gemeinsamer Grundwerte.

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Sechstens. Die deutsche Nation gehört zum Westen.

Unser Standort ist und bleibt in der Allianz für die Freiheit. Die politische Ordnung der westlichen Demokratien – persönliche Freiheit, Rechtsstaat, politische Selbstbestimmung – ist es wert, im Innern bewahrt und nach außen verteidigt zu werden. Das heißt für uns ganz selbstverständlich: auch in Zukunft freie Wahlen, freie Meinungsäußerung, unabhängige Gewerkschaften, Freizügigkeit und vieles mehr. Das schulden wir uns selbst und unseren Bündnispartnern, das sind wir aber auch, meine Damen und Herren, den Menschen in Mittel- und Osteuropa schuldig. Auch sie wollen freie Menschen sein, in Freiheit leben und über ihr Gemeinwesen und ihren politischen Willen selbst bestimmen können. Und darin liegt ja das eigentliche Problem der deutschen und europäischen Teilung: in der Verweigerung von Freiheit und Selbstbestimmung für die Menschen in Mittel- und Osteuropa.

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Meine Damen und Herren, so trennt die Grenze zwischen Ost und West, was in Freiheit zusammengehört. So wie die deutsche Frage im Brennpunkt europäischer Geschichte steht, so ist – ich wiederhole es – die Freiheit der Kern der deutschen Frage. Freiheit ist die Bedingung der Einheit. Sie kann nicht ihr Preis sein. Ich warne nachdrücklich vor jeder Illusion, als könnten unsere Freiheit und unsere Sicherheit gegen unseren Wunsch nach Einheit ausgespielt werden.

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Quelle: Bericht von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, 15. März 1984, in Bulletin (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung), Nr. 30, 16. März 1984, S. 261–68; abgedruckt in Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. März 1984, S. 4158–64. Online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/10/10059.pdf