Kurzbeschreibung

Der Schweizer Journalist Ulrich Schmid betrachtet die verschiedenen politischen Initiativen während der vier Jahre der Koalition von CDU/CSU und FDP. Besonderes Augenmerk legt er auf den Atomausstieg und die Energiewende, einen wichtigen und plötzlichen Politikwechsel bei der Umstellung der Energieversorgung in Deutschland auf erneuerbare Energien.

Bilanz der Koalition aus CDU/CSU und FDP (13. September 2013)

Quelle

Ordentliches, visionsloses Sichdurchwursteln

Die christlich-liberale Regierungskoalition von Kanzlerin Merkel hat moderat erfolgreich gearbeitet. Pragmatismus prägte das Bild, Visionen gab es keine. Die hausbackene Opposition hat daraus keinen Nutzen gezogen.

Der deutsche Politikbetrieb liebt die polarisierende Zuspitzung, weil dadurch so angenehm vertuscht werden kann, wie sehr man faktisch eingemittet ist. Dies sei die beste Regierung seit der Wiedervereinigung gewesen, sagt Kanzlerin Merkel, und sie meint damit tatsächlich ihr christlich-liberales Kabinett, mit dem sie dem Ende der Legislatur entgegenstolpert. Dies sei die schlechteste Regierung, die Deutschland je gehabt habe, sagen alle sozialdemokratischen Grössen wie Kanzlerkandidat Steinbrück, Parteichef Gabriel oder Fraktionschef Steinmeier. Bei den Grünen klingt es noch sarkastischer, bei den Linken schlägt der Sarkasmus um in verächtlichen, feindlichen Zynismus.

Das Erbe Schröders

Die Wahrheit liegt, natürlich, in der Mitte. Diese Regierung war moderat erfolgreich, und ganz offensichtlich gibt es für einen grossen Teil der Bürger keinen zwingenden Grund, sie nicht noch einmal für vier Jahre zu wählen. Es habe weder ein spektakuläres Scheitern noch einen wichtigen, die Gesellschaft verändernden Erfolg gegeben, sagt der Politologe Josef Janning, Mercator-Fellow am Zentrum für Europäische Zukunftsfragen. Es gab Versäumnisse, gewiss. Die Steuern wurden nicht wie versprochen vereinfacht, auf eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung und der Rente wartet man bis heute. Kontinuität gab es dennoch. Im Wesentlichen wurde der gesellschaftliche Grundkonsens der Ära Schröder weitergeführt. Man hilft den Frauen am Arbeitsplatz, erleichtert die Kinderbetreuung, unterstützt Alte, Schüler, Schwule, Behinderte oder Transsexuelle und versucht gleichzeitig, die wirtschaftliche Produktivität, die die Steuerbasis abgibt, nicht zu erdrosseln.

Am auffallendsten war in dieser Legislatur sicher die doppelte Energiewende. Erst setzte Merkel den „Ausstieg aus dem Ausstieg“ durch und verlängerte die Laufzeiten diverser Atomkraftwerke. Dann, nach Fukushima, dekretierte sie innert Tagen den „Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg“, die berühmte Energiewende, an der Deutschland heute kaut und noch viel zu kauen haben wird. Sie bewies damit auf drastische Weise, dass sie eben nicht immer die grosse Zaudernde ist und dass sie sogar atemraubend rasch handeln kann, wenn es nötig ist. Und nötig war die Energiewende, zumindest, wenn man Politik so funktional begreift wie Merkel. Ein überwiegender Teil der Deutschen will keine Atomkraft mehr, und gegen die Befindlichkeit der Deutschen regieren will Merkel nicht. Ähnlich rasch und kühn handelte sie, als sie sich mit ihrem bewährten Finanzminister Steinbrück vor die Kameras stellte und den Bürgern versicherte, ihre Sparguthaben seien sicher. Die harte, entschlossene Hand der Kanzlerin bekam auch der renitent und unangenehm gewordene Umweltminister Röttgen zu spüren. Merkel warf ihn mit einer Ruchlosigkeit aus dem Kabinett, die ihr niemand zugetraut hätte.

Ein Schwachpunkt ist die doppelte Energiewende gleichwohl, denn ihr fehlt ein konsequentes Handlungsprogramm. Die rein ideell gerechtfertigte Förderung nachhaltiger Energien durch die Einspeisevergütung und die faktische Ausschaltung des Marktes hat unüberwindbare systemische und finanzielle Folgekosten gebracht. Doch Merkel will die Bürger bei Laune halten und ihnen zumindest vor der Wahl nicht allzu viel zumuten. Die Rechnung für die Energiewende allerdings wird kommen, und sie wird hoch sein.

Weit erfolgreicher war Merkel mit ihrer Europapolitik. Das ist im Grunde erstaunlich, denn der politische Managementbaukasten, mit dem sie arbeitet, ist derselbe. Doch „in Europa“ ist sie zu viel mehr Kompromissen und kleinen Schritten gezwungen, ein kühner Wurf wie die Energiewende ist in diesem Habitat unmöglich. Dieser Mangel an „grossem“ Denken wird Merkel oft zur Last gelegt. Aber er nützt ihr eben. Behutsam integrierte sie die deutsche Befindlichkeit in ihr Handeln. Sie bekennt sich zwar zur europäischen Solidarität, aber sie rückt deutsches Geld nur zögerlich heraus, betont beharrlich die Wichtigkeit von Reformen in den Krisenstaaten und erduldet den Furor der Südländer, die sich mehr Grosszügigkeit wünschen.

Europapolitischer Stillstand

Und immer fährt sie dabei auf Sicht. Visionen gibt es im Reiche Merkels keine. Wie «ihr» Europa aussieht, wissen die Bürger nicht. Es gab, im Sommer 2011, eine kurze Periode, da spekulierten die Minister Röttgen und von der Leyen über die „Vereinigten Staaten von Europa“, was Konservative wie etwa den Abgeordneten Bosbach zu erbosten Reaktionen provozierte. Schon freute man sich auf eine Europadiskussion mit einem gewissen Tiefgang, da meldete sich Merkel aus den Ferien zurück und beendete die Debatte mit einem kräftigen Sowohl-als-auch. Euro-Bonds, sagte sie, könne es nur in einem Bundesstaat Europa geben. Doch den gab es nicht, es gibt ihn nicht, und Merkel tut nicht einmal etwas, um wenigstens die Frage zu klären, auf welchem Wege entschieden werden soll, ob es ihn je geben wird. Damit fährt sie innenpolitisch ganz gut, denn dass die Deutschen nach Aufgabe staatlicher Souveränität lechzen, lässt sich nicht feststellen.

Aus der schwarz-gelben Koalition geht Merkel als klare „Siegerin“ hervor. Christlichdemokraten und Liberale harmonierten nie, und darunter hatte, naturgemäss, die kleine FDP weit mehr zu leiden als die grosse CDU. Das war in dieser Schärfe nicht vorauszusehen. Vor der Wahl galt die Kombination Merkel - Westerwelle lange als „Wunschehe“, die Kanzlerin hoffte wohl, die eine oder andere marktgerechte Konzession mit einem Verweis auf die ordoliberale „Natur“ ihres Partners gleichsam entschuldigen zu können. Doch dann erwies sich das Mass an Übereinstimmung als gering. []

Versagende Liberale

[] Aber auch die Opposition hat in dieser Legislatur keine dicken Stricke zerrissen. Zwei Fragen können SPD und Grüne nicht beantworten. Wenn alles so schrecklich war, wie sie schildern – warum meckern dann die Menschen nicht? Und wenn Merkel alles falsch macht – warum stimmt die Opposition in Energie- und Europafragen dann permanent mit der Regierung? Der andauernde Tadel der Opposition kann nicht verdecken, dass der Opposition ein plausibles „Narrativ“ zu Europa und zur Energiewende ebenso fehlt wie der Regierung. Wer bemängelt, dass Merkel europapolitisch auf Sicht fährt, muss visionäre Alternativmöglichkeiten, muss realistische Lösungsansätze anbieten, die über die nächsten paar Jahre hinausreichen. Nur mit dem Hinweis, Europa stecke längst in einer Haftungsunion und tue gut daran, Griechenland zu retten, ist es nicht getan. Hier haben die Oppositionsparteien restlos versagt. Die SPD hat zudem zu beklagen, dass Merkel resolut das Terrain in der Mitte besetzt hat, das Parteichef Gabriel im Bemühen räumte, die Linkspartei zu schwächen

Die flehende SPD

Unangenehmer als alles andere muss aber für die Opposition die Erkenntnis sein, dass Merkel mit ihrem moderierenden, ausgleichenden Politikstil erfolgreicher ist als sie. Erfolgreicher, da moderner. Sie ist atmosphärisch und ideologisch völlig frei, sie muss ihr Schicksal mit gar nichts verknüpfen. Die Opposition aber hat keine Moderatoren. Steinbrück ist keiner, Gabriel schon gar nicht, Trittin und Roth sind keine. Überzeugende Junge müssten sich erst noch beweisen. Und so setzt die Opposition weiter auf das Konfliktive, Polarisierende. Das erscheint im Internetzeitalter altmodisch, verbissen und uncool. Mit viel Wehgeschrei beklagen die Sozialdemokraten das Fehlen einer Merkelschen Vision, manchmal hat es den Anschein, als flehten sie die Kanzlerin förmlich an, ihnen endlich etwas zu geben, wozu sie laut „Nein!“ sagen können. Merkel, fein lächelnd, tut ihnen diesen Gefallen nicht.

Quelle: Ulrich Schmid, „Ordentliches, visionsloses Sichdurchwursteln“, Neue Zürcher Zeitung, 13. September 2013. Online verfügbar unter: https://www.nzz.ch/ordentliches-visionsloses-sichdurchwursteln-1.18149388