Kurzbeschreibung

Nach den ersten 100 Tagen der Koalition von CDU/CSU und FDP waren sich alle einig, dass der Regierungsanfang holprig und enttäuschend war. Der folgende Kommentar stimmt in den Chorus der Kritiker ein. Bei dem Koalitionshader gehe es um mehr als nur ideologische Streitfragen. Zur Frage stehe vielmehr das Verständnis von der Rolle des Staates und des Bürgers und die Positionierung der einzelnen Parteien in der gewandelten Politiklandschaft der Bundesrepublik.

Schwarz-Gelb: Die ersten 100 Tage (4. Februar 2010)

  • Berthold Kohler

Quelle

Hundert Tage Schwarz-Gelb: Weniger als die Summe

Nach hundert Tagen im Amt sind auch jene mit der Regierung Merkel II unzufrieden, die sich von der Kanzlerin eine entschlossenere Politik erwartet hatten als von der Notehe aus SPD, CDU und CSU. Und die Bewährungsprobe steht der schwarz-gelben Koalition noch bevor

Reibungslos hat noch keine neue Koalition in Deutschland mit dem Regieren begonnen, nicht einmal das rot-grüne „Projekt“. Auch war das schwarz-gelbe Bündnis in seinen ersten hundert Tagen nicht untätig. Es senkte die Steuern für die Steuerzahler, erhöhte die Hilfen für die Hilfsbedürftigen und berücksichtigte die Bedenken der Bedenkenträger, bis hinter den Hindukusch. Und doch bekommt es überwiegend schlechte Noten, nicht nur von den „gegnerischen Medien“, die der FDP-Vorsitzende bemüht. Inzwischen geben sogar Politiker der Partei der Besseres Verdienenden den Stotterstart zu. Der Zauber, der diesem Anfang zugeschrieben werden könnte, das wissen auch die Schönredner, wäre allenfalls ein fauler.

Noch jeder Bundestagswahl folgte ein Prozess der Ernüchterung, auf Seiten der Regierten wie der Regierenden. Eine Koalitionsregierung kann kaum etwas den Wählern so heiß servieren, wie es die jeweiligen Partei-Köche im Wahlkampf angerührt hatten. Im Falle der großen Koalition gab es dafür im Volk Verständnis. Mit der Regierung Merkel II sind nun aber nicht nur die Deutschen unzufrieden, die sie nicht gewählt haben, sondern in ungewöhnlichem Maße auch jene, die sich von ihr eine entschlossenere und geschlossenere Politik erwartet hatten als von der Notehe aus SPD, CDU und CSU. Im bürgerlichen Lager macht sich Enttäuschung breit, über das Wunderkind der letzten Wahl, die FDP, sogar noch mehr als über die Union.

Von der Kanzlerin kein Wort

Man muss nicht gleich das große Wort von der historischen Mission bemühen. Doch ist es der Koalition, die sich „christlich“ und „liberal“ nennt, noch nicht einmal ausreichend gelungen zu begründen, warum sie das Land führen soll und niemand anders. Immerhin der Vizekanzler scheint erkannt zu haben, woran es vielen FDP- und auch Unionsanhängern mangelt. Die Antwort, was unter seiner nachgeschobenen Forderung nach der „geistig-politischen Wende“ zu verstehen sei, blieb aber auch Westerwelle weitgehend schuldig, so mehr damit gemeint ist als eine Steuerreform. Von der Kanzlerin dazu kein Wort. Das ideologische Gedöns ist ihr suspekt.

Doch auch im Zeitalter des Pragmatismus gibt es gerade im bürgerlichen Lager noch Wähler, die von einer Regierung wenigstens das Angebot einer wertegebundenen Führung erwarten. Die Koalition jedoch offeriert statt Orientierung Zerstrittenheit, weit mehr davon, als man von einem Pakt der Geistesverwandten erwartet. Das Bündnis aus Union und FDP wurde bislang bestenfalls zu einem Ganzen, das weniger ist als die Summe seiner Teile. Versucht man diese aufzuzählen, landet man eher bei dreißig als bei dreien.

Die Ursachen liegen tiefer

Die anhaltende Unwucht dieser Koalition hat nicht nur mit unterschiedlichen Vorgeschichten der Beteiligten, einem Koalitionsvertrag voller Nichtentscheidungen und den Überschusshandlungen neuer Regierungsmitglieder am Ziel ihrer Träume zu tun. Die Ursachen liegen tiefer. Alle drei Parteien sind auf der Suche nach sich selbst. Das zeigen schon die Konfliktlinien, die nicht selten quer zu den Parteigrenzen verlaufen. CDU und CSU, vom Schwinden ihrer Bindekraft gepeinigt, versuchen krampfhaft, die Volkspartei neu zu erfinden, im Zweifel durch Verbreiterung des Angebots. Die CSU überwand den Schock noch nicht, die Alleinherrschaft über Bayern verloren zu haben und mit einer Partei paktieren zu müssen, für die sie früher nicht einmal Mitleid übrig hatte wie für die bayerische SPD.

Die FDP müht sich nach Kräften, aus der Ecke der Klientelpartei herauszukommen. Das trug wesentlich zu ihrer Erfolgsserie bis zur letzten Bundestagswahl bei, die im Mai abzureißen droht. Deswegen schmerzen die FDP die Tiefschläge, die der SPD-Chef Gabriel der „Mövenpick“-Partei versetzt, besonders. Als Gemischtwarenhändler verwässern Unionsparteien und FDP aber nicht nur ihr jeweiliges Profil; sie machen sich gegenseitig auch mehr Konkurrenz als früher. Die lässt sich nicht dadurch aufheben, dass die Parteivorsitzenden gelegentlich rohes Rindfleisch miteinander essen.

Zauberformel für das „gerechte“ Kürzen

Freilich machen es auch die Regierten den Regierenden nicht leicht. Politische Treue wird nicht mehr fürs Leben oder sogar über Generationen hinweg geschworen. Milieus, so es sie noch gibt, lösen sich auf, Schichten driften auseinander. Die Neigung, die Verantwortung für das eigene Leben dem Staat zu übertragen, scheint sich dagegen auszubreiten. Offenbar verzichten nicht wenige lieber auf Steuersenkungen als auf das gewohnte Maß der staatlichen Daseinsfürsorge. Der Sozialstaat könnte aber auch dann nicht allen Bürgern gerecht werden, wenn er nicht schrumpfen müsste. Die Zauberformel für das „gerechte“ Kürzen hat in diesem Land noch keine Regierung gefunden.

Die Bewährungsprobe steht auch der schwarz-gelben Koalition noch bevor: Sie kommt nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl, wenn das Sparen losgeht. Dann wird sich zeigen, ob Union und FDP trotz ihres unterschiedlichen Bürger- und Staatsbildes – die Diskrepanz liegt auch dem Streit um Krankenkassen- und Steuerreform zugrunde – zu einer halbwegs einheitlichen Politik fähig sind, die den Angriffen der linken Parteien standhält. Denn die sind der politische Gegner, selbst wenn die Koalitionspartner auch dazu noch unterschiedliche Ansichten hegen, mitunter sogar in die Zukunft gerichtete.

Quelle: Berthold Kohler, „Hundert Tage Schwarz-Gelb: Weniger als die Summe“, FAZ.NET, 4. Februar 2010.