Kurzbeschreibung

Vor dem Hintergrund aktueller Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung spricht Bundespräsident Horst Köhler die langfristigen Auswirkungen auf Deutschland an. Er ruft dazu auf, die Zukunft des Landes aktiv zu gestalten und zukunftsorientierte Optionen zu entwickeln.

Bevölkerungsschwund und die Zukunft Deutschlands (7. Dezember 2005)

  • Konrad Adenauer

Quelle

Rede von Bundespräsident Horst Köhler auf der Konferenz „Demographischer Wandel“

I.

Ich heiße Sie ganz herzlich willkommen! Ich freue mich auf die Diskussion und auf unsere Zusammenarbeit.

Das Thema unserer Konferenz ist im Grunde: die Zukunft. Wir alle wissen: Die Zukunft ist ihrer Natur nach offen. Das macht unser Thema so interessant. Dauernd wird die Zukunft vorhergesagt, dauernd werden Vorhersagen wieder revidiert. Fest steht aber auch: Wir können die Zukunft beeinflussen, zum Guten wie zum Schlechten. Und weiter steht fest: Wir haben sie oft beeinflusst, ohne uns dessen bewusst zu sein. Denn Zukunft ist zu einem gehörigen Teil auch aus dem gemacht, was wir in der Vergangenheit getan oder unterlassen haben – als Einzelne und als Gesellschaft im Ganzen.

Wir Deutsche haben die Zukunft unseres Landes erheblich vorbestimmt, indem wir in den vergangenen 30 Jahren sehr viel weniger Kinder zur Welt gebracht, ausgebildet und erzogen haben als in den Jahrzehnten davor. Das hat schon unsere Gegenwart verändert – auf den Spielplätzen tollen immer weniger Kinder umher, und in den Fußgängerzonen ist Kinderlachen immer seltener geworden. Aber das ist erst der Anfang. Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann wird sie die Zukunft unseres Landes noch viel stärker prägen, denn immer weniger Kinder bedeuten auch immer weniger künftige Eltern.

II.

In Zahlen gesprochen: Seit Anfang der 70er Jahre ist jede Generation von Deutschen um rund ein Drittel kleiner als ihre Elterngeneration. Zugleich werden wir immer älter. Wir haben im Durchschnitt rund vier Jahre länger zu leben als unsere Eltern; und unsere Kinder – wenn wir welche haben – wiederum vier Jahre länger als wir. Die Lebenserwartung liegt heute um 30 Jahre höher als vor 100 Jahren.

Bliebe die Geburtenrate gleich, stiege die Lebenserwartung wie bisher und kämen von heute auf morgen keine Einwanderer mehr, dann würden am Ende dieses Jahrhunderts nicht einmal halb so viele Menschen in Deutschland leben wie heute. Wahrscheinlich wird die Einwohnerzahl dann doch um einiges höher liegen. Jedenfalls, wenn weiterhin mehr Menschen zu- als abwandern. Aber auch Zuwanderung auf dem bisherigen Niveau wird den Bevölkerungsrückgang nicht aufhalten, sondern allenfalls bremsen.

Wie genau auch immer diese Prognosen sein mögen – der Trend steht fest: Während sich in manchen Teilen Afrikas und der arabischen Welt die Bevölkerung schon in den nächsten 50 Jahren fast verdoppeln könnte, wird sie in Deutschland schrumpfen, und sie wird altern.

Die Folgen dieses Wandels werden nicht alle Regionen zugleich und nicht alle mit der gleichen Wucht treffen. Ostdeutsche Städte wie Halle und Chemnitz, aber auch westdeutsche wie Bremerhaven und Gelsenkirchen verlieren schon jetzt immer mehr Bewohner. Kindergärten und Schulen, Büchereien und Theater werden geschlossen, Bürogebäude und Ladenlokale stehen leer, Buslinien werden eingestellt, Unternehmen finden nicht mehr genug qualifizierte Mitarbeiter. Zugleich werden in einigen großen Städten immer mehr Menschen leben, die selbst oder deren Eltern aus dem Ausland zugewandert sind – rund 50 Prozent werden sie schon in ein paar Jahren bei den unter 40-Jährigen ausmachen.

Wer Arbeit hat, muss künftig für immer mehr Ältere mitsorgen. Während heute 100 Menschen im Erwerbsalter für 44 Rentner, Pensionäre aufkommen, werden sie im Jahr 2050 bereits für gut 80 Rentner zu sorgen haben. Bis dahin wird sich zudem die Zahl der Hochbetagten verdreifachen. Auf der anderen Seite fehlen die Kinder, die gestern nicht geboren wurden, morgen als Kunden und Konsumenten. Sie fahren nicht Auto, brauchen keine Wohnung, machen keine Urlaubsreisen und gehen nicht ins Restaurant.

III.

Der demographische Wandel wird also jeden Einzelnen von uns betreffen. Genauso wichtig ist aber auch die Feststellung: Wir sind den Ursachen und den Folgen des demographischen Wandels nicht hilflos ausgeliefert. Wir haben durchaus Möglichkeiten zu handeln, die Zukunft zu beeinflussen. Und wir müssen diese Möglichkeiten auch nutzen, das schulden wir den nachfolgenden Generationen.

Dann müssen wir uns aber zunächst auch Fragen stellen: Wie stellen wir uns die Zukunft unseres Landes in 20 oder auch in 50 Jahren eigentlich vor? Wie werden wir leben, wie wollen wir leben? Wollen wir vor allem auf die Selbststeuerungskräfte der Gesellschaft vertrauen – oder wollen wir versuchen, Weichen neu zu stellen? Und welche Optionen stehen uns dafür offen? Das sind grundlegende Fragen. Ich wünsche mir eine ganz offene, unvoreingenommene Diskussion darüber – bei dieser Konferenz, vor allem aber auch überall in Deutschland.

IV.

Verstehen, was geschieht, mit den Folgen umgehen und Handlungsoptionen für die Zukunft entwickeln: drei große Herausforderungen für unser Land – und für uns alle hier im Saal.

Vielleicht gehört an den Anfang die Frage, ob die verfügbaren Zahlen und Fakten ausreichen, um die bevorstehenden Veränderungen zu erfassen. Sind unsere Statistiken ausreichend? Oder brauchen wir präzisere Umfragen, tiefer gehende Stichproben, möglicherweise sogar eine neue Volkszählung? Wir wollen die komplexen Folgen kennen, die der demographische Wandel für alle Bereiche unserer Gesellschaft hat. Wir wollen wissen, was er bedeutet für die hier ansässigen Unternehmen und Betriebe, für die Schulen und Universitäten, für die Forschung. Wir wollen herausfinden, wie er das Gesicht unserer Städte und Landschaften verändern wird; wen er wie trifft – im Osten, im Westen, im Norden, im Süden. Und: Wie er sich auf die Beziehungen der Menschen untereinander auswirken wird.

Besonders viele Gedanken mache ich mir selber darüber, was es für ein Land bedeutet, wenn immer weniger Kinder darin leben. Was bedeutet das eigentlich? Man sagt ja oft: „Eine Gesellschaft ohne Kinder ist eine Gesellschaft ohne Zukunft." Und es stimmt ja, Kinder sind von Natur aus neugierig, lernfreudig, zuversichtlich. Aber bedeuten weniger Kinder auch automatisch weniger Innovationsfreude, weniger Offenheit gegenüber neuen Ideen und mehr Zukunftsangst? Ist das so? Muss das so sein? Können ältere Gesellschaften nicht vielleicht genauso offen für Neues sein wie jüngere? Und: Wer sagt denn eigentlich, ob wir und wann wir alt sind? Es gibt ja den Spruch: „Man ist immer so alt wie man sich fühlt" – gilt das auch für ein Land?

Ich bin mir sicher: Man kann auch im Alter offen für Neues und Kreatives sein. Die Erfahrung und Umsicht der Älteren sind in vielen Zusammenhängen wichtig. Ich möchte sogar darüber hinausgehen: Vielleicht werden sie sogar immer wichtiger. Wir müssen das, was die Älteren – in der Sprache der Ökonomen – „akkumuliert" haben, verfügbar machen für die Jüngeren, gerade in einer Phase der Entwicklung unserer Gesellschaft, in der wir viele Anpassungen und Veränderungen zu bewältigen haben. Es würde mich reizen, als Ökonom Modelle zu entwickeln, wie das sogenannte „Humankapital" oder „Humanvermögen" in gesamtwirtschaftliche Modelle integriert werden kann, um herauszufinden, wie man mit diesem Kapital ökonomischer umgehen kann.

Ich halte es deshalb für überfällig, dass wir darüber nachdenken, was wir gegen die Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt tun können, der sich so viele Menschen ausgeliefert fühlen. Was ist das eigentlich für ein Land, in dem wir bald bis 67 arbeiten sollen, in dem aber viele schon mit 50 keine Stelle mehr finden, weil die Unternehmensleitungen eine „vergreisende Belegschaft" befürchten oder weil sie vorrechnen, ältere Mitarbeiter kosteten sie zu viel? Da muss und kann man sich mehr einfallen lassen.

Eine der wichtigsten Fragen wird sein, wie wir Zuwendung und Pflege für immer mehr alte Menschen sichern, die keine Familien mehr haben, die sich um sie kümmern können. Ich habe auf meinen Reisen durchs Land, durch Deutschland, schon viele gute Beispiele dafür gesehen. Zum Beispiel das Stiftungsdorf Gröpelingen in Bremen: Eine Wohnanlage, in der Zuwanderer hauptsächlich aus der Türkei ihren Lebensabend gemeinsam mit Einheimischen verbringen, in der es eine Tagesstätte gibt für die Kleinsten, in der behinderte Menschen einen Platz finden, in der eine Volkshochschule Anregungen und neue Fähigkeiten vermittelt – und das Interessante noch „on top": initiiert und finanziert von einem türkischstämmigen Unternehmer. Oder die Mehrgenerationenhäuser, in denen sich Alte und Junge gegenseitig helfen, indem die einen die anderen betreuen, indem sie tauschen, was sie zu tauschen haben: Kinderkleidung oder Kenntnisse – vor allem aber Zeit und – vielleicht das Wichtigste überhaupt – Zuwendung. Was können wir tun, dass viele solcher Ideen Realität werden?

Zentral wird auch die Frage sein, wie wir unsere sozialen Sicherungssysteme umbauen und ergänzen, damit die wachsende Zahl der Älteren auch künftig einen guten Lebensabend hat, ohne die Jüngeren zu überlasten. Wir müssen uns viel mehr als bisher Gedanken darüber machen, wo wir sparen können und wo das staatliche Handeln viel effizienter werden kann, damit unsere Kinder und Enkel überhaupt noch finanzielle und politische Gestaltungsspielräume haben.

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Quelle: „Rede von Bundespräsident Horst Köhler auf der Konferenz ‚Demographischer Wandel’ am 6. Dezember 2005 in Berlin“, Bulletin [Presse- und Informationsamt der Bundesregierung], Nr. 98-1 vom 7. Dezember 2005.